IV. Der Ausfall. Die Russen.

[244] Die Nachricht von dem Tode des Kaisers hatte zunächst dumpfen Schrecken und Schmerz – dann das Gefühl erbitterter Rache in den Herzen der braven Besatzung von Ssewastopol hervorgerufen.

Man hatte die erste Kunde durch einen Überläufer aus dem Lager der Alliirten erhalten – das electrische Fluidum über Wien und Varna lief rascher, als die Couriere über Moskau und Perecop.

Jeder Zusammenstoß mit dem Feinde ward seitdem noch blutiger, mörderischer, denn zuvor. Das Testament des Kaisers, sein letzter Gruß an die Tapfern hatte die Begeisterung, den Fanatismus zum wildesten Haß gesteigert.

Wir haben bereits erwähnt, daß seit der Übernahme des Kommando's in Ssewastopol durch den General-Adjutanten Baron Osten – Sacken das Vertheidigungssystem ein anderes geworden. Man war aus der Defensive in die Offensive übergegangen, und in der That waren während fast dreier Monate die Belagerer mehr die Belagerten, als die Garnison der Festung.

Seit der Nacht zum 11. December hatten die Ausfälle der Besatzung mit wechselndem Glück, aber mit stets gleicher Kühnheit ununterbrochen die Feinde in Allarm gehalten und sie gezwungen, zu allen Stunden eine zahlreiche Menge Truppen in den Trancheen zu halten, was die durch Krankheit, Mangel und Witterung erschöpften Armeen noch mehr aufrieb. Die Namen Golowinski, Birjulew, Titof, Actachof, Sawalischin, Rudakowski und andere mehr, werden als die kühner Führer gewagter Unternehmungen immer glänzen auf den Blättern der russischen Kriegsgeschichte jener Tage.

Doch nicht auf solche Überfälle allein beschränkte sich die Taktik der Kommandanten. Wir wissen aus dem Munde des Kaisers selbst, wie gut man den gefährdetsten und wichtigsten Punkt der Festung auf russischer Seite kannte, den Malakoff – Hügel (weißen Hügel) mit seinem Thurm – jetzt zum Andenken an den gefallenen Helden die Kornilofski Bastion genannt. Daher galt es, hier die Vertheidigungswerke auf das Möglichste zu stärken.

Totleben war rastlos thätig im Entwerfen neuer Pläne und das tapfere Genie – Corps der Festung unermüdlich in ihrer Ausführung. Mit zauberhafter Schnelle wuchsen über Nacht neue Werke empor und die erstaunten Feinde sahen am Morgen Wälle und Schanzen, wo sie vielleicht schon am nächsten Tage ihre Parallelen zu ziehen gehofft hatten.

Gegen die unterirdischen Arbeiten der Franzosen, namentlich vor der Mast-Bastion, wurde mit Erfolg ein System von Contreminen[245] geführt. Contre – Approchen und Feldwerke wurden zur Deckung des linken Flügels vergeschoben. Das Selenginski'sche Regiment erbaute in der Nacht zum 23. Februar auf der rechten Seite der Kilenschlucht, also auf seither dem Gegner preisgegebenem Gebiet, die nach ihm benannte Redoute, so überraschend und plötzlich, daß der verduzte Feind den Bau nicht einmal zu stören suchte. Erst in der folgenden Nacht versuchte General Monet mit 5 Bataillonen die Russen aus den noch unvollendeten und noch nicht armirten Werken zu vertreiben, wurde aber mit furchtbarem Verlust durch das Bajonnet und das Feuer der auf der Rhede ankernden Dampfschiffe »Wladimir«, »Chersones« und »Gromouosz« zurückgetrieben.

In der Nacht zum 1. März wurde noch weiter vorgeschoben ein zweites Werk erbaut, die Wolinski'sche Redoute. Beide, durch Trancheen verbunden und Schützengruben vor sich, deckten jetzt den linken Flügel der russischen Stellung, die Bastione I. und II. bis gegen den Malakoff hin. Auch bei diesem kamen die russischen Ingenieure den Arbeiten der Franzosen zuvor, welche in Folge des durch General Niel angerathenen neuen Angriffssystems jetzt den Posten der Engländer auf dem rechten Flügel (also gegen Bastion I., II. und III.) [Malakoff] eingenommen hatten, und erbauten in der Nacht zum 11. März auf einem etwa tausend Schritt vor der Kornilofski – Bastion liegenden und dieselbe bestreichenden wichtigen Hügel die Lünette Kamtschatka.

Von diesen drei so kühn vorgeschobenen Werken aus bedrohten die Russen die Belagerungsarbeiten durch fortwährende neue Ausfälle, während der Feind wiederholte Stürme auf diese Werke unternahm, die Ströme von Blut kosteten, aber tapfer zurückgeschlagen wurden, so namentlich der Sturm auf die Lünette am 17. März.

Am 20. März war der neuernannte Ober – Befehlshaber der Krimm – Armee. Fürst Gortschakoff, in Ssewastopol eingetroffen – er kam, um den Tod eines der Helden von Ssewastopol, des jungen Contre – Admirals Istomin, zu betrauern, der am Tage vorher bei dem Bombardement, das die Verbündeten gegen die Schiffer – Vorstadt und die Werke des linken russischen Flügels gerichtet, deren Kommandant er war, in der Kamtschatka – Lünette getödtet worden.

Am 22. März endlich hatten die Franzosen die Schützengruben vor der Lünette erobert; – die Engländer hatten die Aufmerksamkeit für den Bau der neuen russischen Werke benutzt, um ihrerseits vom sogenannten grünen Hügel aus, der Chapman – Batterie zwischen dem Labordonaja- und Sarakandina – Grund, eine dritte Parallele gegen den Redan – die Bastion Nr. III. – vorzutreiben. Sofort beschloß der Fürst, die Gegner aus diesen Stellungen zu werfen.

Es war am Nachmittag des 22. März; – die Mast-Bastion,[246] von deren Höhe wir der Eröffnung der Kanonade auf die bedrängte Stadt beigewohnt, war nebst ihren Aufgängen und bedeckten Wegen gefüllt mit Soldaten, die, in Gruppen umherlagernd, ihre Waffen in Stand setzten, kochten oder schliefen.

Es sind Jäger der 30. und 45. Flotten-Equipage, des Ochotski'schen Jäger-Regiments und des 6. Wolinski'schen Reserve-Bataillons außer der Besatzmannschaft der Bastion; das Feuer, das mit den gegenüberliegenden französischen Batterieen gewechselt wurde, ward von beiden Seiten nur schwach und in Intervallen unterhalten. Schärfer und rascher donnerte es von dem östlichen Ufer der Südbucht herüber.

Eine ernste feierliche Stimmung schien in der ganzen zahlreichen Besatzung vorzuherrschen und das Gespräch der Offiziere belehrte alsbald über die Ursache.

Vor einer der Erdhütten, die am Eingang der Bastion zahlreich zum Schutz gegen die feindlichen Kugeln gegraben waren, saß eine Gruppe von Offizieren, in ihre grauen Mäntel gekleidet, rauchend und sprechend. Das Werk bot jetzt freilich einen sehr verschiedenen Anblick gegen damals, als die Belagerung eröffnet wurde. Der Platz ist schmuzig, von allen Seiten mit Schanzkörben, frischen Erdaufschüttungen, Kellern, Plattformen, Erdhütten umgeben. Große eiserne Geschütze stehen umher und Kugeln liegen in unregelmäßigen Haufen dabei. In der Mitte, halb versunken in den Koth, liegt ein demontirter Mörser, der noch nicht fortgeschafft werden konnte. Der Infanterie-Soldat, der als Schildwacht an der Batterie auf- und abschreitet, zieht nur mit Mühe die Füße aus dem klebrigen Schlamme hervor – überall sieht man Splitter, nicht gesprungene Bomben, verdorbene Waffen. Die Tranchee, die an dem Innern des Berges hinauf läuft zum Eingang der Bastion, wird von den Leuten fast gar nicht mehr benutzt, sie setzen sich lieber den Gefahren des daneben her laufenden offenen Weges aus, statt bis an die Knie in dem dünnen Schlamm zu waten. Auch die Russen haben entsetzlich gelitten während des Winters durch das Schwert der Feinde und die gräulichen Lazarethfieber – aber ihr Muth, ihre Hingebung ist ungebrochen, und selbst das Matrosenweib in ihrer alten Schubeika und den Soldatenstiefeln schreitet keck und unbekümmert um die feindlichen Kugeln nach der Bastion, ihrem Manne eine Suppe oder einen wärmenden Tränk zu bringen.

Bei Lieutenant Birjulew, durch die grüne Marineschärpe kenntlich und durch viele kühne und glücklich geleitete Ausfälle während der letzten Zeit bei den Soldaten sehr beliebt, saßen mehrere Kameraden von verschiedenem Rang und verschiedenen Corps: Capitain Thonagel vom 4. Sappeur-Bataillon, dessen Brust das Georgen-Kreuz schmückt für die Ingenieurarbeiten in der[247] Mast-Bastion1, Oberstlieutenant Sazepin, Lieutenant Tokarew von den Ochotsker Jägern und der Fähnrich Ssemenski.

»Sie waren in der Stadt bei dem Begräbniß, Sazepin,« sagte der Sappeur-Capitain, »und es kann uns also nicht wundern, Sie heute so auffallend traurig zu sehen. Fühlt doch der geringste Matrose und Soldat gleich uns den Schmerz um den braven Istomin. Ich bitte Sie, erzählen Sie uns von dem Begräbniß des Wackern.«

Der Podpolkawnik hatte Kopf und Arm auf das Knie gestützt in tiefes Sinnen verloren gesessen und fuhr jetzt aus diesem empor. »Ich weiß nicht,« sagte er verstimmt, »was mit mir vorgeht, aber diese Bestattung mahnt mich unwillkürlich daran, wie bald auch mir die Stunde schlagen mag!«

»Bah – dafür sind wir Soldaten und müssen jeden Augenblick zum Abmarsch bereit sein,« meinte Birjulew, seine Papiercigarre drehend. »Überdies haben Sie vorläufig keinen gefährdeten Posten, da Woschtschenski an Achbauer's2 Stelle getreten und die Trancheen von der Redoute ›Schwarz‹ bis zu uns vollendet sind.«

Der Oberstlieutenant strich mit der Hand über sein Gesicht und entgegnete: »Sie haben Recht, – ich dachte nur einen Augenblick an Frau und Kinder, aber Jurkowski's Beispiel leuchtet uns vor, der jetzt am Malakoff kommandirt und erklärt hat, daß nur das Grab oder schwere Verstümmelung ihn von dort entfernen würden. Als man ihm gestern die Botschaft von seiner Frau aus Simpheropol brachte, die das erste Bombardement hochschwanger mit sechs Kindern hier mit uns erlebt, daß sie von der Cholera ergriffen dem Tode nahe sei und ihn bitten lasse, nur auf einen Tag hinüber zu kommen, antwortete er: ›Nicht auf eine Stunde kann ich meinen Posten verlassen!‹«

»Echt spartanisch!« brummte der Jägerlieutenant.

»Ja, spartanisch – spotten Sie immerhin. Tokarew! Die Thaten des klassischen Alterthums reichen nimmer an diese Aufopferung, die wir täglich hier von dem Geringsten sehen, während er weiß, daß sein name spurlos in der Menge verschwinden wird. Oder wägt die Forderung der spartanischen Mutter: ›Mit dem Schilde oder auf dem Schilde!‹ etwa höher, als gestern die Antwort Ihres Kameraden Wickhort, da er schwer verwundet fortgetragen wurde und der General ihn fragte, welche Belohnung er[248] wünsche, ob das Georgen-Kreuz oder Beförderung: ›Lassen Sie eine neue Bombenkanone auf die vierte Bastion bringen!‹?« – Doch Sie wollen von Istomin's Begräbniß hören? In der Wladimir-Kathedrale liegt er begraben gleich neben Korniloff, und Nachimoff, der Dritte im Bunde unserer Seehelden, beugte sich über die Gruft und ich sah seine Thränen fallen auf den Sarg. Aber er seufzte nicht nach dem gefallenen Waffenkameraden, sondern nach dem Loos, das jenem gestattete, die Entehrung der russischen Seeflagge nicht länger mit anzusehen, die Mentschikoff ihr auferlegt. Denn gleich darauf, als General Osten-Sacken ihm vorstellte, daß er ihm in seiner Eigenschaft als Truppenkommandant der Festung verbieten müsse, sich der Gefahr noch länger ebenso tollkühn auszusetzen, wie der Gefallene gethan, da sein Leben für Rußland unschätzbar sei, – da antwortete der Admiral ihm trotzig: ›Euer Excellenz würden dasselbe thun, wenn man Ihnen den Säbel ander Hand nähme und Sie mit einer Fuchtel bewaffnen würde.‹

Der Marinelieutenant reichte dem Erähler die Hand: »Er hat Recht – Gott möge ihn wenigstens uns erhalten. Aber dennoch meine ich, hat die Marine auch hier auf dem Lande ihre Schuldigkeit gethan.«

»Das hat sie – und der Ruhm der Vertheidigung Ssewastopols gehört ihr zur großen Hälfte. Jetzt schmälert sie uns Soldaten ihn noch bei den Ausfällen, bei denen sie immer voran!

Haben Sie Ihre näheren Instructionen schon erhalten für heute Abend, Herr Kamerad?«

Birjulew halte sich leicht für das Compliment verneigt. »Noch nicht, Herr Oberstlieutenant. Ich kenne nur im Allgemeinen den Zweck und weiß allein, daß unsere Diversion zur Unterstützung der Hauptattaquen unter Generallieutenant Chrulef von der Kamtschatka-Lünette und der griechischen Freiwilligen des Fürsten Morusi von der Bastion III. dienen soll. Aber ich erwarte sie jeden Augenblick.«

»Man muß gestehen, der General en chef hält ein gutes Entree. Ich wünsche nur, daß er so fortfährt.«

»Man hegte eigentlich kein besonderes Vertrauen auf seine Energie,« sagte vorwitzig der Fähnrich. »Er soll überaus vorsichtig und schwer von Entschlüssen sein.«

»Das ist es, was man dem Fürst-Admiral eben nicht zum Vorwurf machen konnte,« fiel der Sappeur ein, »indeß ist es eine wichtige Eigenschaft für den Feldherrn. Etwas mehr Vorsicht hätte uns Inkermann nicht verlieren machen.«

»Ssoimonof's Versehen trug die Schuld. Der Fürst war einer jener Kolosse von Erz, für die es Zufälle und Möglichkeiten nicht giebt. Es ist merkwürdig, daß diese harte Natur mitunter so viel Laune und Gemüthlichkeit bewies. Ist er bereits abgereist?«

»Gestern Morgen. Seine Gesundheit soll sehr angegriffen[249] sein. In Petersburg galt er früher als Witzbold. Barjatinski hat uns manche hübsche Anekdote von ihm erzählt.«

»Richtig! Sein Epigramm auf den Herzog von Leuchtenberg und dessen Georg brachte ihn ja eine Zeit in Ungnade. Aber er war stets ein tapferer Soldat. Die Eroberung von Anapa begründete seinen Ruf.«

»Bei Varna,« fügte der Podpolkawnick bei, rollte ihm eine matte Kanonenkugel über den Fuß, während er eine Prise Schnupftaback nahm. Ader nicht ein Körnchen ging ihm verloren, während er sagte: ›Hätte der Bursche so viel Pulver mehr gehabt, wie ich hier zwischen den Fingern halte, so hätte ich ein Bein weniger.‹

Die Anekdote mit dem Knopf ist kostbar und soll durch alle europäischen Zeitungen die Runde gemacht haben.

»Bitte, lassen Sie hören, Birjulew, ich kenne sie nicht,« bat der Jäger-Offizier.

»Ei sie in bald erzählt. Capitain Beaufort von den britischen leichten Dragonern war bei Balaclawa gefangen genommen und zur Heilung einer Wunde nach Simpheropol gebracht worden. Bald darauf gingen durch Gelegenheit eines Parlamentairs Briefe für ihn ein, und da es Vorschrift, daß alle Schreiben an und von Kriegsgefangenen vor der Übergabe gelesen werden, geschah dies auch mit den Briefen des Capitains. Einer davon – der Engländer gehört zur Peerage – war von einer Dame. Sie bat ihn. Ssewastopol sobald als möglich einzunehmen, damit er zu den Almaks noch in London sei, aber auch Fürst Mentschikoff in Person nun Gefangenen zu machen und ihr zum Beweis seiner Tapferkeit einen Knopf von des Fürsten berühmten Paletot mitzubringen. Als dem britischen Capitain dieser Brief übergeben wurde, fand er einen andern dabei von des Fürsten eigener Hand, der in englischer Sprache und mit großer Höflichkeit ihm schrieb, er habe den Brief der jungen Lady gelesen, bedaure, ihrem Verlangen weder mit Ssewastopol noch mit seiner Person entsprechen zu können, schätze sich aber glücklich, mit dem beiliegenden Knopf das gewünschte Andenken ihm für die Schöne zustellen zu können.«

Die kleine Geschichte verbreitete einige Heiterkeit in dem Kreise, erst die Ankunft eines Offiziers vom Stabe, von einem Unterfähnrich geführt, unterbrach dieselbe.

»Ordonnanz-Offizier von Seiner Durchlaucht dem Fürsten Oberbefehlshaber an den Lieutenant Birjulew,« meldete der Fähnrich.

»Zu Diensten, mein Herr!« Der Marineoffizier war aufgesprungen und empfing den Boten in militairischer Haltung. »Ich hoffe, Sie bringen mir die näheren Instructionen für den Ausfall.«

»So ist es. Ich bin der Stabscapitain von Meyendorf und beauftragt, den Erfolg des Ausfalls hier abzuwarten. Die Herren sind wahrscheinlich Offiziere Ihres Detaschements und ich kann daher in ihrer Gegenwart ohne Weiteres diese schriftliche Instruction mit den mündlichen Anweisungen vervollständigen?«[250]

Birjulew stellte die Offiziere vor. »Oberstlieutenant Sazepin ist in diesem Augenblick der kommandirende Offizier der Bastion und Capitain Thonagel der Ingenieur vom Platz. Setzen Sie sich zu uns, Herr Stabscapitain, und lassen Sie uns überlegen, wie wir unsere Aufgabe am besten ausführen mögen.«

»Der Hauptausfall,« berichtete der Capitain, indem er auf einer demolirten Lafette Platz und die angebotene Cigarre nahm, »geschieht mit dem Dnjprowski'schen Infanterie-Regiment, das erst gestern Abend eingetroffen, den Kamschatkaischen Jägern, 2 Bataillonen des Wolinski'schen und 2 Bataillonen des Uglitz'schen Regiments nebst der 44. Flotten – Equipage. General – Lieutenant Chruleff wird damit von der Kamschatka-Lünette um 10 Uhr Abends die französischen Logements angreifen. – Zugleich rückt Capitain Budischtschef mit zwei Flotten-Equipagen, einem Bataillon Minsker und den griechischen Freiwilligen gegen den äußersten rechten Flügel der britischen Trancheen zwischen dem Dekavaja- und Laboratornaja-Grund. Welche Truppen gehören zu Ihrer Expedition, Herr Kamerad?«

»Ich habe 475 Jäger der 30. und 45. Flotten-Equipage, des Ochotski'schen Regiments und des Wolinski'schen Reserve-Bataillons, nebst einem Kommando meiner alten Matrosen vom ›Wladimir‹ und der ›Maria‹.«

»Ich bin noch zu kurze Zeit hier,« sagte höflich der Baron, »um Ihnen zu solchen Gefährten gratuliren zu dürfen, obschon ihr Ruf auch längst bis zu uns gedrungen. Welche Offiziere werden Sie begleiten?«

»Lieutenant Tokarow kommandirt die Ochotsker, Fähnrich Ssemenski die Reserven, außerdem ist der junge Mann, der Sie hierher gebracht, Unterfähnrich Lasaroff, bei dieser Abtheilung.«

»Er scheint,« bemerkte der Capitain, »ein echt russisches Herz in der Knabenbrust zu tragen. Als ich ihn im Gespräch fragte, wie es ihm hier gehe, sagte er mißlaunig: ›Verteufelt schlecht, es ist nicht zum Aushalten.‹ Ich glaubte, er meine die Bomben und Kugeln und tröstete ihn, daß nicht alle träfen. Der Bursche aber blickte mich groß an und erwiderte: ›Verzeihen Sie, ich meinte den Schmuz, vor dem man gar nicht zur Batterie kann, ohne die Stiefeln zu verderben3‹«

Die Offiziere lachten. – »Er ist erst vor sechs Tagen zu unserm Bataillon gekommen. Das seine erfror im Januar in der Steppe in einem Schneesturm und ich glaube, er ist der Einzige, der durch Zufall entkommen. Er war lange krank und die Kommandantur, bei der er sich dann meldete, hat ihn einstweilen bei uns eingestellt.« Fähnrich Ssemenski berichtete dies.

»Ich selbst,« fuhr der Marine-Lieutenant fort, »führe meine[251] Schiffskameraden und habe genug alter gedienter Leute dabei, die mich unterstützen. Haben Sie vielleicht zufällig schon den Namen des tollen Koschka gehört?«

»Koschka, den Liebling des seligen Admirals? ei, wer hätte das nicht, der in den letzten drei Jahren am Schwarzen Meer stand! Ist es nicht derselbe Bursche, der bei Sinope eine Fregatte in Brand steckte und im ägeischen Meere den Kampf gegen fünf griechische Seeräuber bestand? Ich möchte ihn wohl sehen.«

»Derselbe, Herr, Sie können seine Bekanntschaft leicht machen. Er liegt dort oben in der Schießscharte auf seiner Kanone und schläft, weil Beide gerade Ruhe haben.« – Der Offizier setzte die silberne Seemannspfeife an die Lippen und ließ einen langgezogenen Ton erklingen, worauf man eine Menge kräftiger Männer aufmerksam die Köpfe erheben sah und auch der Schläfer bei dem Wiegenlied der Kanonenschüsse den seinen erhob; der einzige sogar nur halblaut gesprochene Name brachte ihn sofort auf die Beine und er kam mit dem langsamen, schwankenden Schritt, der den Seeleuten eigen ist, auf die Gruppe der Offiziere zu, zog seine fettglänzende Haarlocke über die Stirn und machte einen tiefen Kratzfuß.

Es war ein Mensch von riesigem und dennoch große Behendigkeit verrathendem Gliederbau, das Gesicht mit den scharf ausgeprägten Zügen der mongolischen Race, doch von großer Gutmüthigkeit: nur das schmal geschlitzte Auge blitzte Scharfsinn und Keckheit.

»Euer Gnaden haben mich gerufen?«

»Wohl, tapferer Koschka. Ich hörte mit Vergnügen, daß Du Dich zu der Zahl der Matrosen gemeldet, welche uns heute Nacht begleiten werden. Du sollst die Vorhut führen, wenn Du versprichst, der Ordre die strengste Folge zu leisten und Dich nur dann auf ein Schlagen einzulassen, wenn ich es befehle.«

Der große Matrose wiegte sich etwas verlegen auf seinen Hüften. – »Ah, Euer Gnaden sticheln wegen der dummen Geschichte in den französischen Tranchirungen, oder wie sie das Ding nennen. K tschortu! Aber ich möchte, wenn's Euer Gnaden Nichts verschlägt, gern erst hören, mit wem wir diese Nacht zu thun haben sollen, ehe ich leichtsinnig so ein Versprechen gebe.«

Der Marine Offizier lachte. – »Ja, Bratka, das weiß ich selbst noch nicht so recht, da mußt Du diesen Herrn befragen.«

»Ist er von den Unsern?« fragte der Matrose vertraulich.

»Wenn Du meinst von der Marine,« entgegnete der Bezeichnete, »so habe ich allerdings nicht die Ehre und werde nicht einmal den Ausfall mit machen. Aber ich bin Offizier vom Stabe des Fürsten und war mit ihm an der Donau.«

»Ah,« sagte der Matrose mit wenig verhehlter Geringschätzung, »das sind, glaub' ich, die Herren, die immer reiten müssen. Nun, – es muß auch solche geben und ich möchte wohl auch ein Mal[252] auf einem Pferde sitzen, blos um zu sehen, ob es wahr ist, daß so ein Ding beim Laufen gerade so stößt, wie die Sturzwellen in der See bei Nordost.« – Er zog die Hosen in die Höhe und fuhr sich verlegen durch die Haare. – »Weißt Du, Väterchen.« fuhr er halblaut zu seinem Offizier fort, »ich traue dem Neuen noch nicht so ganz, er gehört zu dem Landvolk, doch denke ich so bei mir, unser Vater Nachimoff wird wohl das Beste für ihn thun. Aber der Teufel soll meine Mutter kriegen, wenn ich auf Deinen Vorschlag nicht lieber gleich die Wahrheit sage. Wenn's gegen die Inglischen geht, stell' mich lieber hinten hin, denn ich habe einen Zahn auf die Burschen, der noch nicht ausgeglichen ist, und ich möchte da vielleicht vorlauter sein, als erlaubt wird. Gieb Bolotnikow meine Stelle – Du kannst Dich auf ihn verlassen. Gott und die Heiligen wissen es.«

»Was hast Du mit den Engländern, Koschka?«

»Das ist doch klar – alle Welt weiß es, sie haben den Kaiser durch den Tele-Grafen, den Hundssohn, vergiftet, weil er nicht türkisch werden und die Factoria zur zweiten Frau nehmen wollte. Als ob ein rechtgläubiger Mann nicht an einem Weibsen genug hätte, wenn sie auch eine Königin sein thäte. Außerdem hat das Szbrod4 mir vor drei Tagen eine so gute Kanone zerschossen, wie nur je eine noch ihren Schnabel durch die Luken gesteckt hat.«

Das Lächeln der Umstehenden prallte an der genügsamen Überzeugung des Meerwolfs ab. Er sah sie Alle ziemlich scheel von der Seite an und knurrte einige unverständliche Höflichkeiten in den Bart, denn als Liebling der Admirale nahm er sich manche Freiheit heraus. Dann seinen plumpen Gruß wiederholend, wollte er sich eben entfernen, als sein scharfes Seemannsauge auf die zwischen der Mastbastion und der Bastion V. vorgeschobene Redoute Schwarz fiel. »Der Admiral wird sogleich hier sein, Väterchen,« sagte er zu dem Lieutenant. »Seine Flagge ist fort und ich sah sie noch an ihrer Stelle, ehe ich hierher kam.«

Ein Blick überzeugte den Offizier, daß das Privatsignal eingezogen war, welches den Truppen den Ort des Verweilens des Abtheilungskommandanten jedes Mal anzeigte, und bald darauf sah man auch in dem gedeckten Trancheeweg eine kleine Gruppe von Männern eilig heran kommen.

Es war der Vice-Admiral Nowossilski, der seit fünf Monaten den Befehl der zweiten Vertheidigungsabtheilung (von der linken Flanke der Bastion V. bis zum Labordonaja – Grund) führte und während der ganzen Zeit den ihm zugetheilten Rayon nicht verlassen, ja nicht ein einziges Mal sich entkleidet hatte. Er bewohnte ein Erdloch, wie die meisten Soldaten der Batterieen, und war unermüdlich thätig, bis er drei Monate später und nachdem er[253] wochenlang nur einzelne Stunden geschlafen hatte, gänzlich zusammenbrach und für todt nach Ssewastopol gebracht werden mußte, wo er wieder zu sich kam und zu seiner Herstellung nach Odessa geschickt wurde.

Hinter dem Befehlshaber bemerkte man auf einer Trage einen Schwerverwundeten. Die entgegen gehenden Offiziere erfuhren bald, daß es der Major Woschtschenski, der Kommandant der Redoute war, der in Gegenwart des Vice – Admirals schwer blessirt worden.

»Es ist mir lieb, Sazepin, Dich gleich zu treffen.« sagte Jener. »Du mußt auf der Stelle hinüber und den Befehl übernehmen. Capitain Lawroff ist zwar ein ausgezeichneter Offizier und glücklicher als seine Vorgänger, die in den Trancheen immer nur wenige Tage aushalten konnten, aber er hat damit vollauf zu thun und bereits zwei starke Contusionen am Kopf, die ihn fast blind machen.5 Er ist zu jung noch, um vorsichtig zu sein; eile Dich also, daß Du hinüberkommst. Ist ein Arzt auf der Bastion?«

Nur zwei Chirurgen waren augenblicklich zur Stelle in dem zum vorläufigen Verband – Lokal eingerichteten Kasemattenraume. Ihnen wurde der Verwundete übergeben, da er sich, wieder zu sich gekommen, beharrlich weigerte, sich nach der Stadt schaffen zu lassen. Der Admiral schickte einen Boten nach dem nächsten Lazareth ab, um einen erfahrenern Arzt herbeizuholen, indeß Oberstlieutenant Sazepin mit ernster Miene von seinen Gesellschaftern Abschied nahm, ihnen einen glücklichen Ausgang ihres Unternehmens wünschte und sich dann auf den Weg machte.

Baron Meyendorf hatte sich dem Vice – Admiral vorgestellt und in seiner Gegenwart dem kommandirten Führer der Expedition die speziellen Instruktionen wiederholt. Es galt die Stellung der Engländer auf dem grünen Hügel zwischen dem Labordonaja- und Saranda – Nakina – Grund zu allarmiren und zu beschäftigen, um hierdurch den Angriff des Capitain Budischtschef von links zu unterstützen. Zugleich sollten die vorgeschobenen Schützengruben genommen und gegen den Feind gekehrt werden. Die Richtung von der Bastion her mußte entlang der französischen Schildwachen genommen werden und es bedurfte daher großer Vorsicht. Die Offiziere besprachen noch dies Unternehmen, als ein lauter Jubelruf der Matrosen und Soldaten sie störte. Der Admiral sah sich zornig um, aber seine Miene wurde sogleich wieder freundlich, als er zwei Frauen auf sich zukommen sah, umringt von einer Anzahl der tapfern Vertheidiger, die mit fast kindischer Freude und einer Verehrung wie für Heilige die Beiden begrüßten.

Es waren zwei sehr verschiedene Erscheinungen, eine alte dürftig gekleidete kleine Frau, aber überaus beweglich und rührig, das faltige[254] Gesicht mit dem immer geschwätzigen Mund voll Heiterkeit aus der weißen Haube hervorlachend; – die Andere eine edle jugendliche Gestalt mit ernstem, von dunklem Schleier umhüllten, von Luft und Anstrengung gerötheten Gesicht, dessen interessantes Profil auf den ersten Blick fesselte. Ein junger Kosack trug hinter ihr einen großen Handkorb mit Verbandleinen, Charpie und verschiedenen Linderungs- und Stärkungsmitteln gefüllt.

Ganz Ssewastopol kannte bereits die beiden Frauen: Prasskowja Iwanowna Grasoff, die kleine Alte, die zu Anfang des Jahres plötzlich ihrer Familie in Petersburg entwichen war und in Ssewastopol erschien, um die letzten Tage ihres Lebens den Vertheidigern zu widmen, und Iwanowna Fürstin Oczakoff, ein Engel des Lichtes für die Leidenden und Verzweifelnden.

Sie gehörten nicht einmal zu dem Orden jener barmherzigen Schwestern von der Gemeinschaft zur Kreuzes – Erhöhung, die seit dem 1. December unter der Anleitung des berühmten russischen Anatomen und Operateurs Pirogoff in den Lazarethen und auf den Kampfstätten selbst eine furchtlose Menschenliebe und eine Thätigkeit entwickelten, die in den erhabensten Aufopferungen der Menschengeschichte nur dem ewigen Vorbild des göttlichen Erlösers nachsteht. Die beiden Frauen, die so eben die Bastion betreten, die eine alt und gebrechlich, die andere jung, schön, mit allen Gütern des Lebens gesegnet, kamen ohne das kirchliche Gelübde nur aus dem Gesicht der reinsten Vaterlandsliebe auf die Stätte der Schmerzen und weihten ihre Kräfte, ihr Leben den Unglücklichen.

Iwanowna Oczaloff war mit ihrem Bruder, der, wie es hieß, seine Stelle im Stabe des Fürsten – Admirals aufgegeben, um sich als Freiwilliger den Vertheidigern Sebastopol's anzuschließen, zu Ende December in der belagerten Stadt eingetroffen, begleitet von einer schwarzen Dienerin und dem alten Jessaul nebst seinen zwei ihm gebliebenen Enkeln. Sie hatten auf der Südseite in der Nähe des Denkmals Kasarski's, das so merkwürdig verschont blieb in all' den furchtbaren Bombardements, welche die Stadt erlitt, ein Haus bezogen, in dem im Herbst der junge Fürst den wahnwitzigen Tabuntschik pflegen ließ und das der Familie gehörte. Hier theilten sie alle Schrecken und alles Elend der furchtbaren Belagerung unter hundert Handlungen des Heldenmuths und der Nächstenliebe, sonst aber in vollständiger Abgeschlossenheit lebend. Fürst Iwan hatte verschiedenen Ausfällen beigewohnt und in den Batterieen Dienste gethan, während seine liebliche Schwester täglich, wenn ihr Bruder nicht im Dienst war, die Hospitäler besuchte und die Verwundeten pflegte. Doch sah man auffallender Weise nie die Geschwister zusammen und Eines hütete das Haus, wenn das Andere es verließ. Auch die schwarze Dienerin hatte seit mehreren Wochen die Schwelle desselben nicht überschritten. Das Wesen der Fürstin, wenn sie unter den Leidenden erschien, war stets ernst und still; einen großen Theil ihrer menschenfreundlichen Thätigkeit[255] widmete sie nicht blos den kranken Landsleuten, sondern mit gleicher Sorgfalt den verwundeten und gefangenen Feinden, deren Sprache sie verstand.

Immer heiter, immer munter bei der zärtlichsten Theilnahme war dagegen die kleine Alte, die von ihren geringen Mitteln in den Apotheken Eau de Cologne, Hoffmannstropfen und andere Linderungsmittel, kaufte und von den Gaben der Fürstin, mit der sie bald an den Krankenbetten Bekanntschaft gemacht, reichlich unterstützt wurde. Meistentheils war sie in den Vertheidigungswerken selbst thätig, brachte, wo Jemand in der Nähe getroffen wurde, die erste Hilfe und legte den ersten Verband an. Dann pflegte sie zu sagen: »Sei lustig!« oder wenn sie einen Leichtverwundeten verbunden hatte: »Sei nicht feige, geh' wieder auf Deinen Posten!« Die Matrosen schwärmten für sie.

Die Alte trippelte auf den Admiral zu. – »Gott grüße Dich, mein Täubchen, mein Landsmann! Ein Soldat, der uns begegnete in der Stadt, erzählte uns, daß Ihr einen Schwerverwundeten hier habt und er einen Regimentsdoctor holen solle. Da dachte ich und die gute Dame hier, es würde gut sein, wenn wir Euch sogleich ein wenig Hilfe brächten. Ich hätte Dich ohnehin heute Abend noch besucht, Admirälchen, mein Liebling, da ich gehört habe, daß wieder Etwas im Werke ist.«

»Sei uns willkommen, Mutter Praßlowja Iwanowna,« sagte der Admiral, »und Sie, durchlauchtige Dame, genehmigen Sie Unsere Verehrung, denn ich müßte mich sehr in der Ähnlichkeit irren, wenn ich nicht die edle Schwester unsers tapfern Kameraden Iwan Oczakoff vor mir sähe.«

Die junge Dame machte eine bejahende Verneigung, indeß Aller Augen bewundernd an ihr hingen.

»Verzeihen Sie einem alten Seemann,« fuhr der Admiral fort, »der seit Monaten diesen Posten nicht verließ und Sie also nur durch den Ruf Ihrer Mildthätigkeit für uns arme Soldaten kennt, der ganz Ssewastopol erfüllt. Ihr wackerer Bruder hat auf dieser Bastion bereits gezeigt, wie würdig er einer solchen Schwester ist.«

»Das Lob Iwan's aus dem Munde eines solchen Helden muß selbst die Schwester ehren,« sagte die Fürstin graziös. »Doch ist es Euer Excellenz gefällig, uns zu dem Verwundeten geleiten zu lassen, um zu sehen, ob wir seine Schmerzen erleichtern können?«

»Ja, Batuschka,« fiel die kleine Alte ein, »thue Das, wir haben allerlei mitgebracht, was Deine Beinabschneider nicht haben. Und Ihr, meine Jungen, Täubchen, Kinderchen, wir bleiben heute Abend bei Euch und werden abwarten, wie Ihr Eure Sache macht und ob Ihr heil zurückkommt. Auf der Redan – Bastion und dem Korniloff haben heute die guten Schwestern vom Kreuz den Dienst übernommen.«

Ein freudiger Zuruf antwortete der Alten und sie schüttelte[256] sich mit den Matrosen und Soldaten die Hände, putzte an ihnen herum und gab ihnen hundert gute Lehren. – »Ich fürchte,« sagte der Admiral, »selbst Pirogoff's Hilfe wird bei unserm Kranken wenig vermögen. Beide Füße sind ihm von einer Vollkugel zerschmettert. Doch mag ihm schon Ihre segenbringende Nähe ein Trost sein und ich will Sie sogleich zu ihm geleiten lassen.«

Aus dem Kreis der Offiziere sprang der junge Unterfähnrich Lasaroff, dessen Augen voll Bewunderung an der schönen Samariterin gehangen hatten, mit der Frage: »Darf ich?« und der Admiral nickte lächelnd dem jungen Führer Einwilligung, dessen Schnelle der Galanterie seiner ältern Gefährten zuvorgekommen war.

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Es war 10 Uhr, der Himmel wolkenbezogen geworden, so daß die Dunkelheit dem Angriff ihren Schutz verhieß. Bei der Batterie des Lieutenants Perekomski hatte sich das Detaschement versammelt: 475 Mann und 80 nur mit Spaten und Hauen bewaffnete Arbeiter. Lieutenant Birjulew hatte jetzt den Leuten den Zweck des Unternehmens und seine Anordnungen bekannt gemacht und sie harrten in geschlossenen Abtheilungen des Kommandos zum Vorgehen.

Jetzt keuchte von der Bastion ein Unteroffizier her, ein zweiter Mann mit ihm. – »Der Admiral lassen Euer Gnaden sagen, daß der Augenblick gekommen. Das Signal ist auf der Bastion zu sehen,« meldete der Erstere dem Kommandanten.

»Dann, Kinder, fertig. Ich habe Euch nur zu empfehlen, unter keiner Bedingung die Front – Linie zu brechen, sondern Schuller an Schulter zu marschiren, und werde genau Acht geben auf jede Übertretung dieses Befehls. Mützen ab!«

Die Waffen rasselten leise – die ganze Schaar bekreuzte sich drei Mal mit tiefer Andacht. Währenddeß hatte der Begleiter des Boten umhergefragt nach dem Unterfähnrich Lasaroff und den Jüngling endlich aufgefunden. – »Um der Heiligen willen, Bogislaw, wo kommst Du her? Ist meinem Großvater ein Unglück geschehen?«

»Das größte, was ihn treffen konnte, Junker: Eure Flucht!« sagte der treue Jäger. »Der alte Graf war außer sich und wollte Euch nach; aber in Baktschiserai verweigerte man ihm die Erlaubniß, nach Ssewastopol zu gehen, und zwang ihn, umzukehren.«

»Gott sei Dank, daß er gesund ist und die Gefahren in der Festung nicht theilen darf. Ich konnte nicht anders, Bogislaw!«

»Ich glaub' Euch, Junker, und begreife das. Ich meine, der Herr giebt Euch im Stillen selbst Recht. Ich habe einen Brief an Euch von ihm.«

Das Kommando: »Vorwärts mit Gott! Marsch!« unterbrach das Gespräch – die Colonne begann mit raschem, möglichst leisem Schritt sich in Bewegung zu setzen.[257]

»Geh' zurück, Bogislaw – Du wirst mir ihn später geben – erwarte mich im Schutz der Bastion!«

»Niemals! ich habe dem Grafen geschworen, da mich, den niedern Diener, kein Verbot zu kommen hinderte, keinen Augenblick mehr von Eurer Seite zu weichen, sobald ich Euch aufgefunden.«

»Ruhe im Glied! Still da hinten, Leute!« zischte das Kommando Birjulew's; der Fähnrich konnte dem treuen Manne nur die Hand drücken und ihn neben sich in die Reihe ziehen, dem der Marsch ging jetzt mit großer Hast vorwärts.

Aber alle Vorsicht der Führer half zu Nichts – das scharfe Auge der Zuavenposten hatte bald die dunkle Colonne entdeckt, als sie über eine kahle Fläche zog, und aus der nächsten Schützengrube fiel ein Schuß.

»Links, Bursche, links und nicht gefeuert! Wir sind bald über ihre Flanke hinaus und im Schutz des Berges.«

Eine Signal – Rakete schoß aus der französischen Tranchee empor, man hörte Allarm schlagen und alsbald knatterte auf der ganzen Linie ein lebhaftes Bataillefeuer, wie das Knattern und Zischen feuchten Holzes im Kamin.

Bald hatte das Detaschement den sogenannten »Zuckerhut« passirt in der Richtung der Georgiewstraße und konnte, durch den Berg geschützt, von den französischen Logements nicht mehr gesehen werden. Aber die auf der ganzen feindlichen Kette wiederholten Appell-Signale und Rufe der Schildwachen und Hornisten bewiesen zur Genüge, daß man sowohl in den französischen wie in den englischen Linien auf einen Angriff bereit sei.

Vom Labordonaja-Grund herüber krachten Gewehrsalven, dazwischen donnerte das Geschütz der englischen und französischen Batterieen und bewies, wie heftig der Kampf dort bereits wüthete. Rakete auf Rakete stieg empor als Signal, Unterstützung herbei zu rufen.

Die Franzosen schienen durch den Berg den Trupp ganz aus dem Auge verloren zu haben oder ihre eigenen zu sammeln, denn Alles war einer Zeit lang auf dieser Seite stumm und es herrschte jene Ruhe, bei welcher dem braven Soldaten viel schwüler und ängstlicher zu Muthe wird, als bei dem Blitzen und Knallen des Mußketenfeuers. Endlich hatte man die englischen Logements erreicht, das heißt, die Russen standen am Fuß des grünen Hügels, auf dessen Aufgängen jene die Trancheen und die hinter liegende Chapmann – Batterie deckten.

Die Russen begannen stillschweigend die Anhöhe hinauf zu steigen, aber sie hatten kaum fünfzig Schritt gemacht, als das »Who is there?« der Schildwache ihnen entgegenscholl. – »Français« rief Birjulew; »vorwärts, Kinder, und fällt das Bajonnet! Hurrah!« – Fünf bis sechs englische Schützen sprangen hinter einer Hecke hervor und schlugen ihre Gewehre auf die Stürmenden an, diese aber kamen ihnen zuvor und eine allgemeine Salve streckte[258] den ganzen Posten zu Boden. Gleich im ersten Anlauf waren die Russen bis mitten in den Logements und machten Alles nieder, was nicht in die zunächst liegende Tranchee flüchten konnte. Die Engländer ließen achtzehn Todte in den Gruben. Sofort befahl Lieutenant Birjulew, die Arbeiten zur Wendung der Gruben gegen die Feinde zu beginnen.

Die Russen arbeiteten eifrig und es gelang ihnen glücklich, die Brüstung der Logements abzugraben, aber es schien unmöglich, sich länger zu halten; denn ander nächsten Tranchee pfiffen und sausten die Kugeln unablässig auf sie ein, und die Batterie begann mit Kartätschen von der Höhe des Berges herab zu fegen. Auf der ganzen Linie bis zum Kilengrund hin schien zugleich jetzt das mörderische Gefecht entbrannt. Der tapfre Führer bemerkte, daß es möglich sei, den ersten Laufgraben zu nehmen, um sich von dem lästigen Feuer zu befreien, und kommandirte rasch zum Angriff. Mit lautem Urrah stürzten die Jäger und Matrosen gegen die Tranchee; aller verzweifelte Widerstand half nicht, zwei Minuten darauf drangen sie bereits in die zweite Linie ein. Ein entsetzliches Handgemenge erfolgte, das Bajonnet wüthete unter den dicht gedrängten Massen, dann räumten die Briten – es war das 20. Regiment – den Platz.

Aber es war außer der Möglichkeit für die Russen, sich hier festzusetzen, denn eine Flankenbatterie von zwei Kanonen bestrich der Länge nach die ganze Tranchee und gleich auf den ersten Schuß stürzten zehn Mann, darunter der Fähnrich Ssemenski. Man mußte den Rückzug antreten.

Während die Verwundeten zurückgebracht wurden zu den von der Bastion beorderten Tragen, arbeiteten die Schanzgräber mit verdoppelter Kraft an der Hauptaufgabe, der Umwendung der Logements. Aber die Engländer waren den Zurückweichenden auf dem Fuße in die Laufgräben wieder gefolgt und erneuerten von dort den Kugelregen, der die Erdarbeiten hinderte.

Birjulew befahl eine zweite Attaque; – abermals nahmen die Russen die erste und zweite Tranchee, die Flankenbatterie feuerte diesmal glücklich zu hoch und die Leute bekamen den Pfiff weg, sich im rechten Augenblick glücklich vor den Kugeln zu decken. Man begann sich festzusetzen in der Tranchee und mehrere aufgestellte Mörser zu vernageln, als ein Arbeiter von den Logements herbeigelaufen kam und mit leiser Stimme dem Kommandirenden meldete, daß auf der rechten Seite von den französischen Laufgräben her eine Abtheilung die Höhen herunter komme, um ihnen in den Rücken zu fallen. – »Wie viel sind ihrer?« – »Kann's nicht sagen. Euer Gnaden, vielleicht hundert oder hundertfünfzig Mann.« – Birjulew befahl den Leuten Stille, indem er sie aus der Tranchee zurückzog. Er hoffte, die französische Unterstützung abzuschneiden und gefangen zu nehmen, aber der Plan mißglückte, von den feindlichen Posten bemerkt; denn als die Russen den Berg hinabstürmten,[259] bliesen deren Hornisten den Ihren Rappel und sie hatten Zeit, sich zurückzuziehen.

Die Arbeit an den Logements wurde nun noch mehr beeilt, aber die Arbeiter waren auf's Neue wieder dem Feuer der Laufgräben ausgesetzt und man sah sich gezwungen, einen dritten Angriff auf diese zu machen. Die Feinde wichen wiederum, aber etwa fünfzehn Scharfschützen, die noch auf dem Erdwall standen, schlugen zu gleicher Zeit ihre Büchsen auf den kühnen Führer der Russen an, der nicht einmal die drohende Gefahr bemerkte. Er war im nächsten Moment verloren, als der Matrose Schewtschenko, der dicht bei ihm war, sich flüchtig bekreuzte und vor seinen Offizier warf. Die Schüsse krachten – und die tapfere Brust empfing nicht eine Todeskugel, sondern die ganze Zahl derselben. Erst jetzt, indem er das dumpfe Anprallen der Schüsse und den Gegenstoß des stürzenden Körpers fühlte, bemerkte der Offizier die heldenmüthige Aufopferung seines Getreuen und warf sich, im ersten Schmerz Alles um sich her vergessend, neben dem Blutenden auf die Knie. »Schewtschenko, mein Freund, Du bist getroffen? – Wie ist Dir, Bratka? So sprich doch nur ein einziges Wort!« – Aber der Tapfere konnte nicht mehr antworten: er lag da, stumm und bleich, nur der Mund zuckte leise und um die Lippen spielte jenes seltsam freundliche Lächeln, das man statt der Verzerrungen des Schmerzes so oft auf den Gesichtern der durch die Kugel Getödteten findet.

Der Lieutenant verweilte immer noch bei der Leiche, als der Hochbootsmann Bolotnikow zu ihm trat und ihn am Arm faßte. »Es ist keine Zeit zu verlieren, Euer Gnaden,« rief er, »unsere Burschen dringen eben in die dritte Tranchee ein; daß das Ding nur nicht etwa schlimm abläuft!« – Die Worte führten den Kommandirenden rasch zu seiner Pflicht und er eilte seinen Leuten nach. – »Zurück, Kinder, zurück!« – Sie hatten sich bereits der dritten Tranchee bemächtigt, arbeiteten wie die Rasenden mit dem Bajonnet und der ganze Laufgraben war gefüllt mit Todten.

Bereits gelang es dem Offizier, seine Leute in guter Ordnung zurückzuführen, als ein hochgewachsener britischer Stabsoffizier auf den letzten Grabenwall sprang, in jeder Hand eine Pistole, und die Seinen zur Verfolgung anfeuerte. Doch diese schienen genug des Blutbades zu haben und rührten sich nicht von der Stelle. Da feuerte der Brite beide Pistolen auf den Hochbootsmann ab, der ihm zunächst stand. Mit der linken Hand hatte er gefehlt und die Kugel flog dicht an Koschka's Kopf vorbei; die rechte Waffe aber hatte fast unmittelbar Bolotnikow's Schläfe berührt und mit zerschmettertem Kopf sank der Tapfere zur Erde. – Gott schenke ihm das ewige Himmelreich! – Wie die Rasenden stürzten die Russen sich auf's Neue auf den Feind und jagten ihn zurück.

Während dieses Angriffs waren die Arbeiten an den Gruben beendet und diese gegen den Feind gekehrt worden. Die Laufgräben[260] lagen voll Leichen und der Auftrag konnte als vollendet angesehen werden, da auch von der linken Seite her der Kanonendonner schwächer geworden und Lieutenant Birjulew überdies Nachricht erhielt, daß Verstärkungen in die französischen Linien zu rücken schienen.

Die Hörner befahlen den Rückzug und man begann in geschlossenen Gliedern den Berg hinab zu gehen, nachdem die neueingerichteten Logements mit Schützen besetzt worden, als ein Unteroffizier an Lieutenant Tokarew, den einzigen außer dem Kommandirenden übrigen Offizier, die Meldung brachte, daß einer der Ihrigen in der letzten Tranchee zurückgeblieben scheine. – »Es schimpft und flucht dort drinnen auf gut Russisch und die Leute glauben ihres Kameraden Koschka Stimme zu erkennen!« – »Koschka? Das muß der Kommandant wissen!« – »Befehlen Euer Gnaden vielleicht, daß wir ihn freimachen?« – »Natürlich! Formirt Euch! Links um! Marsch!« und im sechsten Anlauf ging es zurück nach der feindlichen Tranchee.

Darin tobte und wetterte es allerdings mit all' den beliebten Flüchen und Verwünschungen, an denen die russische Sprache so abscheulich reich ist. Und es war Zeit, daß die Hilfe kam. Mit dem Fuß auf der Brust des zu Boden geworfenen englischen Obersten, welcher die unglücklichen Schüsse auf Bolotnikow abgefeuert, stand der Matrose Koschka, das Gesicht dunkelroth vor Anstrengung und Erbitterung, und seine mächtige Faust schwang eine beilartige Enterpike, seine Lieblingswaffe, im Kreis um sich, während sein riesiger Körper bereits aus drei Wunden blutete.

»Jop foce mat! wenn ich Euch nicht Alle massacrire, Ihr englischen Schurken, Ihr Hundssöhne und Lumpenpack, mit samt Euren Lords und Tele – Grafen, den schäbigen Meuchelmördern!« tobte der ehrliche Seemann, indem jeder seiner Streiche einen Gegner zu Boden schlug. »Den Kerl hier unter mir wollt Ihr? Den Teufel in Eure Seele bekommt Ihr! Seid Ihr nicht Memmen, daß Ihr auf den Knaben dort schlagt und den tobten Mann, statt auf einen Burschen wie ich?!«

In der That wandte sich ein großer Theil der Wuth und des Angriffs der Briten nicht gegen den riesigen Matrosen, dessen gewichtige Axthiebe ihre Gewehre wie Halme zersplitterten und dem sie, da ihre Munition verschossen, nur durch ihre Überzahl und den Anfall von allen Seiten Gefahr brachten, sondern gegen die einzige kecke Hilfe, die das waghalsige Unternehmen des Seemannes, seinen Kameraden Bolotnikow zu rächen, getheilt hatte. Drei oder vier Schritt von ihm lag am Boden der Tranchee der Unterfähnrich Lasaroff, den zerbrochenen Degen fest in der Knabenhand, von Blut bedeckt, das zum Glück jedoch nur zum geringsten Theil aus unbedeutenden Wunden das seine war; denn über ihm lag, mit seinem eigenen Körper ihn schirmend und von zwanzig Bajonnetstichen durchbohrt, von Kolbenschlägen zerschmettert, der treue[261] Bogislaw, der schon die erste Stunde seines Hüteramtes mit dem Herzblut zahlte. Mit den letzten Athemzügen, den letzten zuckenden Bewegungen des fliehenden Lebens noch suchte er den seinem Gebieter geleisteten Eid zu halten und den Jüngling zu schützen.

Da – als auch die riesige Kraft Koschka's zu erlahmen begann und sein schäumender Mund nur noch unverständliche heisere Töne murmelte und der Kolbenschlag eines Schotten ihn schon auf ein Knie sinken gemacht – donnerte das »Urrah« der Russen als Jubelruf der Rettung in ihre Ohren, und rechts und links stoben die Engländer auseinander in eiliger Flucht nach der zweiten Tranchee.

»Der heilige Andreas, Sanct Basilius und wie sie Alle heißen, lohne Euch den Liebesdienst, Lieutenant Birjulew,« keuchte der befreite Matrose, indem er seinen Gefangenen, den Kommandanten des 34. Infanterie-Regiments, am Kragen aufhob und ihn wie einen Sack sich über die Schultern warf; »ich habe den Inglischen, der mir Bolotnikow erschoß. Aber ich bitt' Euch, nach dem Knirps da zu sehen, der mir so wacker beigestanden, und dem Mann, der mit ihm war. Ich möchte selbst kein todtes Stück der tapfern Burschen in den Händen der Feinde lassen.«

Man hob den blutigen verstümmelten Körper des Jägers auf, legte ihn über zwei Gewehre und richtete den jungen Offizier empor, der mehr betäubt als verletzt war und, rasch zu sich kommend, die blutüberströmte Hand seines Retters in der seinen, neben der improvisirten Trage herlief. Denn Lieutenant Birjulew befahl, nachdem der Zweck des Anfalls erreicht, den eiligsten Rückzug, um das so glücklich bisher ausgeführte Unternehmen nicht im letzten Augenblick noch zu gefährden. Während die russischen Schützen in den Logements die Verfolger in Respekt hielten, gelangte die kleine Colonne glücklich an den Fuß des Berges, wo sie ihre Verwundeten an die mit den Sänften und Tragen harrende Reserve abgab und im Schutze der Nacht und des Feuers des »Jehudil«, der in der Spitze der Südbucht ankerte, den gefährlichen Sarandakina-Grund passirte und die Mast-Bastion wieder erreichte.

Man hatte außer dem Obersten einen englischen Ingenieur-Capitain und zwölf Soldaten zu Gefangenen gemacht. Nur mit Mühe konnte Koschka bewogen werden, den seinen wieder auf die Beine zu stellen und in einer den Kriegsgebräuchen entsprechenderen Weise zu behandeln und zu transportiren, und es bedurfte des ernsten Befehls seines Kommandanten dazu.

Der Ausfall hatte übrigens auch auf den anderen Punkten, wiewohl mit großen Verlusten, einen günstigen Erfolg für die Russen gehabt. Die Truppen Chrulef's schlugen sich gegen die Divisionen Mayran und Brunet und nahmen und verloren drei Mal das Terrain zwischen den russischen Redouten und den französischen Trancheen, bis es endlich in ihren Händen blieb und die am Abend vorher von den Franzosen eroberten Logements wieder[262] von ihnen besetzt wurden. Auch die griechischen Freiwilligen verrichteten tapfere Thaten gegen den rechten Flügel der britischen Trancheen und warfen das 77. und 97. Regiment.

Dieser glückliche Ausgang führte eine in der Geschichte des Krieges kaum erhörte kühne Offensive der Belagerten gegen die Belagerer herbei, indem die Ersteren mit einer verbundenen Linie neuer Contre – Approchen bis auf 600 Schritt gegen die feindlichen Parallelen vorgingen. – – –

Als die tapfere Schaar Birjulew's, der für diese Nacht zum Capitain-Lieutenant und Flügel-Adjutanten ernannt wurde, zu ihrer Bastion zurückgekommen, fand sie schon am Eingang derselben neben dem Admiral die beiden Frauen mit dem Verbinden der vorausgesandten Verwundeten beschäftigt. Michael, der Unterfähnrich, hatte seinen Retter keinen Augenblick verlassen; als man den blutigen Körper aber aus der Sänfte hob, war längst auch der letzte Funke von Leben entflohen. Praßkowja Iwanowna machte darauf aufmerksam, daß die verstümmelten Finger des Mannes das blutüberströmte, von Bajonnetstichen zerrissene Fragment eines Briefes im Todeskampf aus der innern Tasche seines Rockes gezogen zu haben schienen und festgeklammert hielten, gleich als sei die Bestellung des Blattes die letzte Aufgabe seines Lebens. Als man es aus der erstarrten Hand gelöst, entzifferte man die Adresse des jungen Fähnrichs, der halb bewußtlos über der Leiche seines Freundes jammerte. Der Matrose Koschka aber legte die schwere Hand auf seine Schulter, während die kleine behende Alte seine eigenen Wunden verbinden half, und sagte: »Zum Henker, Bursche, ein braver Kerl wie Du muß nicht weinen! Sie sollen mich an den Flaggenknopf vom großen Mast schnüren und zwei Mittelwachen lang in der Julisonne am Sanct Georgen-Cap braten lassen, wenn Koschka Dir je vergißt, daß Du mit dem Todten dort der Einzige bei ihm bliebst in den britischen Tranchirungen!« –

Eine Trauerkunde trübte die Freude des tapfern Marine-Lieutenants über das gelungene Unternehmen; sein Gesellschafter am Nachmittag, der Podpolkawnik Sazepin, war im Laufe des Abends auf dem eben erst übernommenen Posten in den Trancheen der Redoute Schwarz getödtet worden, seine Ahnung also in rasche Erfüllung gegangen. – –

Als Michael Lasaroff am andern Morgen, während ein Waffenstillstand zwischen den Gegnern zur Beerdigung der Todten ihm Muße gab, den zerrissenen, halb vernichteten Brief zu lesen versuchte, konnte er nur folgende geheimnißvolle, blutverwischte Worte noch entziffern:


»Mein geliebtes ......


... wollte es wohlmachen mit Dir, meiner .......... letzten Freude auf der Welt, ........ Wohl fühle ich, daß .......... Dich nicht vermögen werden, ........ zu mir[263] .............. aufzugeben, was Du für Dei ...... Pflicht hältst, was ............. freier Menschen unwürdig ................. einziger Weg, Dich zu retten, dieser Krieg muß auf's Schleunigste enden; ...... Haupt möge fallen, um das Deine zu schützen. Möge der Himmel ............. von Dir wenden, bis .............. gelungen, Sebastopol, zu retten und Dich mit ihm selbst .............. Andenkens Deiner Mutter willen schone bis dahin Dein ............. kann nicht zu Dir ................. Ereignisse in Petersburg verhindern ..... Bogislaw, den Getreuen und Muthi ............. bereits auf dem Wege nach Paris. ............ Gedenke .............«

1

Er wurde Anfangs April, während er in einer Blendung stand und die Leute für die Arbeiten des Tages vertheilte, durch eine Kugel tödtlich in der Brust verwundet. Als man ihn in das Quartier brachte, eilte Totleben herbei und tröstete ihn, daß nach dem Auspruch des Arztes die Wunde nicht gefährlich sei. Thonagel umarmte ihn und erwiderte: »Nein, es ist aus! mich schmerzt es nur, meine Bastion zu verlassen!«

2

Er beaufsichtigte die Arbeiten der ersten Abtheilung und fiel bei dem Abschlagen einer französischen Attaque.

3

Die Anecdote ist historisch; – der Verfasser bittet um Entschuldigung, daß er immer und immer wieder darauf aufmerksam macht.

4

Lumpenpack.

5

Der junge Offizier blieb selbst nach einer dritten Contusion auf seinem Posten, bis ihn Anfangs April eine Kugel tödtete.

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 4, Berlin 1856, S. 244-264.
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