1793

[20] Eben dieser widerwärtigen Art, alles Sentimentale zu verschmähen, sich an die unvermeidliche Wirklichkeit halb verzweifelnd hinzugeben, begegnete gerade »Reineke Fuchs« als wünschenswertester Gegenstand für eine zwischen Übersetzung und Umarbeitung schwebende Behandlung. Meine dieser unheiligen Weltbibel gewidmete Arbeit gereichte mir zu Hause und auswärts zu Trost und Freude. Ich nahm sie mit zur Blockade von Mainz, der ich bis zum Ende der Belagerung beiwohnte; auch darf ich zu bemerken nicht vergessen, daß ich sie zugleich als Übung im Hexameter vornahm, den wir freilich damals nur dem Gehör nachbildeten. Voß, der die Sache verstand, wollte, solange Klopstock lebte, aus Pietät dem guten alten Herrn nicht ins Gesicht sagen, daß seine Hexameter schlecht seien; das mußten wir Jüngeren aber büßen, die wir von Jugend auf uns in jene Rhythmik eingeleiert hatten. Voß verleugnete selbst seine Übersetzung der »Odyssee«, die wir verehrten, fand an seiner »Luise« auszusetzen, nach der wir uns bildeten, und so wußten wir nicht, welchem Heiligen wir uns widmen sollten.

Auch die »Farbenlehre« begleitete mich wieder an den Rhein, und ich gewann in freier Luft, unter heiterm Himmel, immer freiere Ansichten über die mannigfaltigen Bedingungen, unter denen die Farbe erscheint.

Diese Mannigfaltigkeit, verglichen mit meiner beschränkten Fähigkeit des Gewahrwerdens, Auffassens, Ordnens und Verbindens, schien mir die Notwendigkeit einer Gesellschaft herbeizuführen. Eine solche dachte ich mir in allen ihren Gliedern, bezeichnete die verschiedenen Obliegenheiten und deutete zuletzt an, wie man, auf eine gleichwirkende Art handelnd,[20] baldigst zum Zweck kommen müßte. Diesen Aufsatz legte ich meinem Schwager Schlosser vor, den ich nach der Übergabe von Mainz, dem siegreichen Heere weiter folgend, in Heidelberg sprach; ich ward aber gar unangenehm überrascht, als dieser alte Praktikus mich herzlich auslachte und versicherte: in der Welt überhaupt, besonders aber in dem lieben deutschen Vaterlande, sei an eine reine, gemeinsame Behandlung irgendeiner wissenschaftlichen Aufgabe nicht zu denken. Ich dagegen, obgleich auch nicht mehr jung, widersprach als ein Gläubiger, wogegen er mir manches umständlich voraussagte, welches ich damals verwarf, in der Folge aber, mehr als billig, probat gefunden habe.

Und so hielt ich für meine Person wenigstens mich immer fest an diese Studien wie an einem Balken im Schiffbruch; denn ich hatte nun zwei Jahre unmittelbar und persönlich das fürchterliche Zusammenbrechen aller Verhältnisse erlebt. Ein Tag im Hauptquartiere zu Hans und ein Tag in dem wiedereroberten Mainz waren Symbole der gleichzeitigen Weltgeschichte, wie sie es noch jetzt demjenigen bleiben, der sich synchronistisch jener Tage wieder zu erinnern sucht.

Einem tätigen, produktiven Geiste, einem wahrhaft vaterländisch gesinnten und einheimische Literatur befördernden Manne wird man es zugute halten, wenn ihn der Umsturz alles Vorhandenen schreckt, ohne daß die mindeste Ahnung zu ihm spräche, was denn Besseres, ja nur anderes daraus erfolgen solle. Man wird ihm beistimmen, wenn es ihn verdrießt, daß dergleichen Influenzen sich nach Deutschland erstrecken und verrückte, ja unwürdige Personen das Heft ergreifen. In diesem Sinne war »Der Bürgergeneral« geschrieben, ingleichen »Die Aufgeregten« entworfen, sodann die »Unterhaltungen der Ausgewanderten«. Alles Produktionen, die dem ersten Ursprung, ja sogar der Ausführung nach meist in dieses und das folgende Jahr gehören.

»Der Bürgergeneral« ward gegen Ende von 1793 in Weimar aufgeführt. Ein im Fach der Schnäpse höchst gewandter Schauspieler, Beck, war erst zu unserm Theater getreten, auf[21] dessen Talent und Humor vertrauend ich eigentlich die Rolle schrieb.

Er und der Schauspieler Malcolmi gaben ihre Rollen aufs vollkommenste; das Stück ward wiederholt, aber die Urbilder dieser lustigen Gespenster waren zu furchtbar, als daß nicht selbst die Scheinbilder hätten beängstigen sollen.

Neu und frisch traten die Schauspieler Graff und Haide mit einiger Vorbildung zu unserm Vereine; die Eheleute Porth brachten uns eine liebenswürdige Tochter, die in muntern Rollen durchaus erfreulich wirkte und noch jetzt unter dem Namen Vohs bei allen Theaterfreunden geschätzt und beliebt ist.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 20-22.
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