1797

[52] Zu Ende des vorigen Jahrs machte ich eine Reise, meinen gnädigsten Herrn nach Leipzig zu begleiten, besuchte einen großen Ball, wo uns die Herren Dyk und Comp., und wer sich sonst durch die »Xenien« verletzt oder erschreckt hielt, mit Apprehension wie das böse Prinzip betrachteten. In Dessau ergötzte uns die Erinnerung früherer Zeiten; die Familie von [52] Loen zeigte sich als eine angenehme, zutrauliche Verwandtschaft, und man konnte sich der frühsten Frankfurter Tage und Stunden zusammen erinnern.

Schon in den ersten Monaten des Jahrs erfreute sich das Theater an dem Beitritt von Karoline Jagermann als einer neuen Zierde. »Oberon« ward gegeben, bald darauf »Telemach«, und manche Rollen konnten mit mehr Auswahl besetzt werden. Äußerlich führte man das Bühnenwesen zunächst in seinem gewohnten Gange fort, innerhalb aber ward manches Bedeutende vorbereitet. Schiller, der nunmehr ein wirkliches Theater in der Nähe und vor Augen hatte, dachte ernstlich darauf, seine Stücke spielbarer zu machen, und als ihm hierin die große Breite, wie er »Wallenstein« schon gedacht, abermals hinderlich war, entschloß er sich, den Gegenstand in mehreren Abteilungen zu behandeln. Dies gab in Abwesenheit der Gesellschaft den ganzen Sommer über reichliche Belehrung und Unterhaltung. Schon war der Prolog geschrieben, »Wallensteins Lager« wuchs heran.

Auch ich blieb meinerseits in vollkommener Tätigkeit: »Hermann und Dorothea« erschien als Taschenbuch, und ein neues episch-romantisches Gedicht wurde gleich darauf entworfen. Der Plan war in allen seinen Teilen durchgedacht, den ich unglücklicherweise meinen Freunden nicht verhehlte. Sie rieten mir ab, und es betrübt mich noch, daß ich ihnen Folge leistete: denn der Dichter allein kann wissen, was in einem Gegenstande liegt und was er für Reiz und Anmut bei der Ausführung daraus entwickeln könne. Ich schrieb den »Neuen Pausias« und die »Metamorphose der Pflanzen« in elegischer Form; Schiller wetteiferte, indem er seinen »Taucher« gab. Im eigentlichen Sinne hielten wir Tag und Nacht keine Ruhe; Schillern besuchte der Schlat erst gegen Morgen; Leidenschaften aller Art waren in Bewegung; durch die »Xenien« hatten wir ganz Deutschland aufgeregt, jedermann schalt und lachte zugleich. Die Verletzten suchten uns auch etwas Unangenehmes zu erweisen, alle unsere Gegenwirkung bestand in unermüdet fortgesetzter Tätigkeit.[53]

Die Universität Jena stand auf dem Gipfel ihres Flors; das Zusammenwirken von talentvollen Menschen und glücklichen Umständen wäre der treusten, lebhaftesten Schilderung wert. Fichte gab eine neue Darstellung der »Wissenschaftslehre« im »Philosophischen Journal«. Woltmann hatte sich interessant gemacht und berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. Die Gebrüder von Humboldt waren gegenwärtig, und alles der Natur Angehörige kam philosophisch und wissenschaftlich zur Sprache. Mein osteologischer Typus von 1795 gab nun Veranlassung, die öffentliche Sammlung sowie meine eigene rationeller zu betrachten und zu benutzen. Ich schematisierte die Metamorphose der Insekten, die ich seit mehreren Jahren nicht aus den Augen ließ. Die Krausischen Zeichnungen der Harzfelsen gaben Anlaß zu geologischen Betrachtungen, galvanische Versuche wurden durch Humboldt angestellt. Scherer zeigte sich als hoffnungsvoller Chemikus. Ich fing an, die Farbentafeln in Ordnung zu bringen. Für Schillern fuhr ich fort, am »Cellini« zu übersetzen, und da ich biblische Stoffe in Absicht, poetische Gegenstände zu finden, wieder aufnahm, so ließ ich mich verführen, die Reise der Kinder Israel durch die Wüste kritisch zu behandeln. Der Aufsatz, mit beigefügter Karte, sollte jenen wunderlichen vierzigjährigen Irrgang zu einem wo nicht vernünftigen, doch faßlichen Unternehmen umbilden.

Eine unwiderstehliche Lust nach dem Land- und Gartenleben hatte damals die Menschen ergriffen. Schiller kaufte einen Garten bei Jena und zog hinaus; Wieland hatte sich in Oßmannstedt angesiedelt. Eine Stunde davon, am rechten Ufer der Ilm, ward in Oberroßla ein kleines Gut verkäuflich, ich hatte Absichten darauf.

Als Besuch erfreuten uns Lerse und Hirt. Der seltsame Reisende Lord Bristol gab mir zu einer abenteuerlichen Erfahrung Anlaß. Ich bereite mich zu einer Reise nach der Schweiz, meinem aus Italien zurückkehrenden Freunde Heinrich Meyer entgegen. Der weimarische Schloßbau nötigt zur Umsicht nach einem geistreichen Architekten und geschickten[54] Handwerkern. Auch die Zeichenschule erhält neue Anregung.

Vor meiner Abreise verbrenn ich alle an mich gesendeten Briefe seit 1772 aus entschiedener Abneigung gegen Publikation des stillen Gangs freundschaftlicher Mitteilung. Schiller besucht mich noch in Weimar, und ich reise den 30. Juli ab. Da ein geschickter Schreiber mich begleitete, so ist alles, in Akten geheftet, wohl erhalten, was damals auffallend und bedeutend sein konnte.

Da hieraus mit schicklicher Redaktion ein ganz unterhaltendes Bändchen sich bilden ließe, so sei von dem ganzen Reiseverlauf nur das Allgemeinste hier angedeutet.

Unterwegs beschäftigt mich die genaue Betrachtung der Gegenden hinsichtlich auf Geognosie und der darauf gegründeten Kultur. In Frankfurt belehrt mich Sömmerring durch Unterhaltung, Präparate und Zeichnungen. Ich werde mit manchen Persönlichkeiten bekannt, mit Öffentlichem und Besonderem; ich beachte das Theater und führe lebhafte Korrespondenz mit Schiller und andern Freunden. Österreichische Garnison, gefangene Franzosen als Gegensatz; jene von imperturbablem Ernst, diese immer von possenhafter Heiterkeit. Französische satirische Kupferstiche.

Den 25. ab von Frankfurt; über Heidelberg, Heilbronn, Ludwigsburg kam ich den 30. in Stuttgart an. Kaufmann Rapp, Dannecker, Scheffauer werden besucht; Bekanntschaft mit Professor Thouret, mit geschickten Arbeitern von Zieraten, Stukkatoren, Quadratoren, die sich aus der bewegten Regierungszeit Herzog Karls herschrieben; Unterhandlungen mit denselben, sie bei dem weimarischen Schloßbau anzustellen.

Anfang Septembers fällt »Der Junggesell und der Mühlbach«, den Zumsteeg sogleich komponiert, sodann »Der Jüngling und die Zigeunerin«. Den 9. September in Tübingen, bei Cotta gewohnt, die vorzüglichen dortigen Männer besprochen. Naturalienkabinett des Professor Storr besichtigt, das, vormals Pasquay in Frankfurt am Main gehörig, mit der liebevollsten Sorgfalt nach Tübingen transportiert worden. Den 16. September[55] von dort weg. Schaffhausen, Rheinfall, Zürich. Den 21. in Stäfa; Zusammenkunft mit Meyer, mit ihm die Reise angetreten; den 28. über Marie Einsiedeln bis auf den Gotthard. Den 8. Oktober waren wir wieder zurück. Zum dritten Male besucht ich die kleinen Kantone, und weil die epische Form bei mir gerade das Übergewicht hatte, ersann ich einen »Tell« unmittelbar in der Gegenwart der klassischen Örtlichkeit. Eine solche Ableitung und Zerstreuung war nötig, da mich die traurigste Nachricht mitten in den Gebirgen erreichte. Christiane Neumann, verehlichte Becker, war von uns geschieden; ich widmete ihr die Elegie »Euphrosyne«. Liebreiches, ehrenvolles Andenken ist alles, was wir den Toten zu geben vermögen.

Auf dem Sankt Gotthard hatte ich schöne Mineralien gewonnen; der Hauptgewinn aber war die Unterhaltung mit meinem Freunde Meyer; er brachte mir das lebendigste Italien zurück, das uns die Kriegsläufte leider nunmehr verschlossen. Wir bereiteten uns zum Trost auf die »Propyläen« vor. Die Lehre von den Gegenständen, und was denn eigentlich dargestellt werden soll, beschäftigte uns vor allen Dingen. Die genaue Beschreibung und kennerhafte Bemerkung der Kunstgegenstände alter und neuer Zeit verwahrten wir als Schätze für die Zukunft. Nachdem ich eine Beschreibung von Stäfa versucht, die Tagebücher revidiert und mundiert waren, gingen wir den 21. Oktober von dort ab. Den 26. Oktober von: Zürich abreisend, langten wir den 6. November in Nürnberg an. In dem freundlichen Zirkel der Kreisgesandten durchlebten wir einige frohe Tage. Den 15. November von dort ab.

In Weimar hatte die Ankunft mehrerer bedeutenden Emigrierten die Gesellschaft erweitert, angenehm und unterhaltend gemacht. Nachzutragen ist noch, daß Oberappellationsrat Körner und seine liebe und hoffnungsvolle Familie uns im abgelaufenen Sommer mit ihrer Gegenwart erfreute; und doch bleibt noch manches Besondere dieses merkwürdigen Jahres zurück.

Millins antiquarische Tätigkeit begann zu wirken, den größten Einfluß aber übten Wolfs »Prolegomena«.[56]

Auf dem Theater fand ich die große Lücke; Christiane Neumann fehlte, und doch war's der Platz noch, wo sie mir soviel Interesse eingeflößt hatte. Ich war durch sie an die Bretter gewöhnt, und so wendete ich nun dem Ganzen zu, was ich ihr sonst fast ausschließlich gewidmet hatte.

Ihre Stelle war besetzt, wenigstens mit einer wohlgefälligen Schauspielerin. Auch Karoline Jagemann indessen bildete sich immer mehr aus und erwarb sich zugleich im Schauspiel allen Beifall. Das Theater war schon so gut bestellt, daß die kurrenten Stücke ohne Anstoß und Rivalität sich besetzen ließen.

Einen großen und einzigen Vorteil brachte aber dieser Unternehmung, daß die vorzüglichsten Werke Ifflands und Kotzebues schon vom Theater gewirkt und sich auf neuen, in Deutschland noch nicht betretenen Wegen großen Beifall erworben hatten. Beide Autoren waren noch in ihrem Vigor; ersterer als Schauspieler stand in der Epoche höchster Kunstausbildung.

Auch gereichte zu unserm größten Vorteil, daß wir nur vor einem kleinen, genugsam gebildeten Publikum zu spielen hatten, dessen Geschmack wir befriedigen und uns doch dabei unabhängig erhalten konnten; ja wir durften manches versuchen; uns selbst und unsere Zuschauer in einem höheren Sinne auszubilden.

Hier kam uns nun Schiller vorzüglich zu Hülfe; er stand im Begriff, sich zu beschränken, dem Rohen, Übertriebenen, Gigantischen zu entsagen; schon gelang ihm das wahrhaft Große und dessen natürlicher Ausdruck. Wir verlebten keinen Tag in der Nähe, ohne uns mündlich, keine Woche in der Nachbarschaft, ohne uns schriftlich zu unterhalten.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 52-57.
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