1810

[224] Ein bedeutendes Jahr, abwechselnd an Tätigkeit, Genuß und Gewinn, so daß ich mich bei einem überreichen Ganzen in Verlegenheit fühle, wie ich die Teile gehörig ordnungsgemäß darstellen soll.[224]

Vor allen Dingen verdient wohl das Wissenschaftliche einer nähern Erwähnung. Hier war der Anfang des Jahrs mühsam genug; man war mit dem Abdruck der »Farbenlehre« so weit vorgerückt, daß man den Abschluß vor Jubilate zu bewirken nicht für unmöglich hielt; ich schloß den polemischen Teil sowie die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts; die nach meinen sorgfältigen Zeichnungen gestochenen Tafeln wurden illuminiert, die Rekapitulation des Ganzen vollbracht, und man sah das letzte Blatt mit Vergnügen in die Druckerei wandern.

Dies geschah achtzehn Jahre nach dem Gewahrwerden eines uralten Irrtums, in Gefolg von unablässigen Bemühungen und dem endlich gefundenen Punkte, worum sich alles versammeln mußte. Die bisher getragene Last war so groß, daß ich den 16. Mai als glücklichen Befreiungstag ansah, an welchem ich mich in den Wagen setzte, um nach Böhmen zu fahren. Um die Wirkung war ich wenig bekümmert und tat wohl. Einer so vollkommenen Unteilnahme und abweisenden Unfreundlichkeit war ich aber doch nicht gewärtig; ich schweige davon und erwähne lieber, wieviel ich bei dieser und bei meinen übrigen wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten einem mehrjährigen Hausgenossen, Reisegefährten, so gelehrten als gewandten und freundlichen Mitarbeiter, Dr. Friedrich Wilhelm Riemer, schuldig geworden.

Weil man aber, einmal des Mühens und Bemühens gewohnt, sich immer sehr gern und leicht neue Lasten auflegt, so entwickelte sich bei nochmaliger schematischer Übersicht der »Farbenlehre« der verwandte Gedanke: ob man nicht auch die Tonlehre unter ähnlicher Ansicht auffassen könnte, und so entsprang eine ausführliche Tabelle, wo in drei Kolumnen Subjekt, Objekt und Vermittelung aufgestellt worden.

Und wie keine unserer Gemütskräfte sich auf dem einmal eingeschlagenen Wege leicht irremachen läßt, es sei nun, daß man zum Wahren oder zum Falschen hinschreite, so wurde jene Vorstellungsart auf die ganze Physik angewandt: das Subjekt in genauer Erwägung seiner auffassenden und erkennenden Organe, das Objekt als ein allenfalls Erkennbares[225] gegenüber, die Erscheinung, durch Versuche wiederholt und vermannigfaltigt, in der Mitte; wodurch denn eine ganz eigene Art von Forschung bereitet wurde.

Der Versuch, als Beweis irgendeines subjektiven Ausspruches, ward verworfen; es entstand, was man schon längst Anfrage an die Natur genannt hat. Und wie denn alles Erfinden als eine weise Antwort auf eine vernünftige Frage angesehen werden kann, so konnte man sich bei jedem Schritt überzeugen, daß man auf dem rechten Wege sei, indem man überall im einzelnen und ganzen nur Gewinne zur Seite sah.

Wie sehr ich aber auch durch glückliche Umgebung in diesem Fache festgehalten wurde, geht daraus hervor, daß Dr. Seebeck sowohl zu Hause als auswärts fast immer in meiner Nähe blieb. Professor Voigt kam aus Frankreich zurück und teilte gar manche schöne Erfahrung und Ansicht mit; die wissenschaftlichen Zustände in Paris wurden uns durch einen Deutschen nach unserer Sprach- und Denkweise nähergebracht, und wir bekannten mit Vergnügen, daß er seine Zeit sowohl für sich als für uns gut angewendet hatte.

Was für Musik im Theater sowohl in den ersten als letzten Monaten des Jahrs geschah, vermelde kürzlich: Die Übungen der freiwilligen Hauskapelle wurden regelmäßig fortgesetzt, donnerstags abends Probe vor einigen Freunden gehalten, sonntags früh Aufführung vor großer Gesellschaft. Ältere und jüngere Theatersänger, Choristen und Liebhaber nahmen teil; Eberwein dirigierte meisterhaft. Mehrstimmige Sachen von Zelter und andern italienischen Großen wurden ins Leben geführt und ihr Andenken gegründet, Vergnügen und Nutzen, Anwendung und Fortschreiten in eins verbunden.

Dadurch, daß die Probe von der Ausführung vollkommen getrennt blieb, ward das dilettantische Pfuschen völlig entfernt, das gewöhnlich erst im Augenblick der Aufführung noch probiert, ja bis den letzten Augenblick unausgemacht läßt, was denn eigentlich aufgeführt werden kann und soll.

Die Donnerstage waren kritisch und didaktisch, die Sonntage für jeden empfänglich und genußreich.[226]

Gegen Ende des Jahrs konnten von dieser Gesellschaft öffentliche Unterhaltungen im Theater gegeben werden; man führte solche Musikstücke auf, welche zu hören das Publikum sonst keine Gelegenheit findet und woran jeder Gebildete sich wenigstens einmal im Leben sollte erquickt und erfreut haben. Als Beispiel nenne ich hier »Johanna Sebus«, komponiert von Zelter, die einen unauslöschlichen Eindruck in allen Gemütern zurückließ.

Ebenmäßig wurden mit den rezitierenden Schauspielern die Didaskalien fortgesetzt, mit den geübtesten nur bei neuen Stücken, mit den jüngeren bei frischer Besetzung älterer Rollen. Diese letzte Bemühung ist eigentlich der wichtigste Teil des Unterrichts, ganz allein durch solches Nachholen und Nacharbeiten wird ein ungestörtes Ensemble erhalten.

»Zaïre«, übersetzt von Peucer, bewies abermals die Fertigkeit unseres Personals im reinen Rezitieren und Deklamieren. Die erste Leseprobe war so vollkommen, daß ein gebildetes Publikum durchaus dabei hätte gegenwärtig sein können.

»Der vierundzwanzigste Februar« von Werner, an seinem Tage aufgeführt, war vollends ein Triumph vollkommener Darstellung. Das Schreckliche des Stoffs verschwand vor der Reinheit und Sicherheit der Ausführung; dem aufmerksamsten Kenner blieb nichts zu wünschen übrig.

Bewegte Plastik ward uns durch das ausgezeichnete Talent der Frau Hendel-Schütz vorgeführt; öffentliche ernste Darstellung, heitere, scherzhafte, ja komische Zimmerunterhaltung gewährte neue Kunstansichten und vielen Genuß.

Die Vorstellung der Oper »Achill« durch Brizzi in italienischer Sprache eröffnete gegen Ende des Jahrs ein neues Feld, und zu gleicher Zeit näherte sich unter den ernstesten und treusten Bemühungen, bei hochgesteigertem Talent des Schauspielers Wolff, »Der standhafte Prinz« der ersehnten Aufführung.

Bezüglich auf bildende Kunst ergab sich gleichfalls eine merkwürdige Epoche. Die Gebrüder Boisserée sandten mir durch den auf die Leipziger Messe reisenden Buchhändler[227] Zimmer von Heidelberg ihre köstlichen ausgeführten Zeichnungen des Domgebäudes. Gern rief ich die Gefühle jener Jahre zurück, als der Straßburger Münster mir Bewunderung abnötigte und mich zu seltsamen, aber tiefempfundenen enthusiastischen Äußerungen veranlaßte. Nun ward das Studium jener älteren besonderen Baukunst abermals ernstlich und gründlich aufgeregt und dieser wichtige Gegenstand von den Weimarischen Kunstfreunden teilnehmend in Betrachtung gezogen.

Eine Anwandlung, landschaftliche Skizzen zu zeichnen, wies ich nicht ab; bei Spaziergängen im Frühling, besonders nahe bei Jena, faßt ich irgendeinen Gegenstand auf, der sich zum Bild qualifizieren wollte, und suchte ihn zu Hause alsdann zu Papier zu bringen. Gleichermaßen ward meine Einbildungskraft durch Erzählungen leicht erregt, so daß ich Gegenden, von denen im Gespräch die Rede war, alsobald zu entwerfen trachtete. Dieser wundersame Trieb erhielt sich lebhaft auf meiner ganzen Reise und verließ mich nur bei meiner Rückkehr, um nicht wieder hervorzutreten.

Auch fehlte es nicht im Laufe des Jahrs an Gelegenheit, festlichen Tagen manches Gedicht und manche Darstellung zu widmen. »Die romantische Poesie«, ein großer Redoutenaufzug, war dem 30. Januar gewidmet, zum 16. Februar wiederholt, wobei zugleich eine charakteristische Reihe russischer Völkerschaften sich anschloß, gleichfalls von Gedicht und Gesang begleitet. Die Gegenwart der Kaiserin von Osterreich Majestät in Karlsbad rief gleich angenehme Pflichten hervor, und manches andere kleinere Gedicht entwickelte sich im stillen.

Hackerts Biographie ward indessen ernstlich angegriffen, eine Arbeit, die viel Zeit und Mühe kostete, wobei uns das Andenken an den verewigten Freund zu Hülfe kommen mußte. Denn obgleich die vorliegenden Papiere von Bedeutung waren und genugsamen Gehalt lieferten, so blieb doch die verschiedenartige Form desselben schwer zu gewältigen und in irgendein kongruentes Ganzes zusammenzufügen.

Zerstreuungen der Reise, vorübergehende Teilnahme begegnender[228] Freunde an kleineren Aufsätzen erinnerte mich an die mancherlei Einzelnheiten, die auf eine Verbindung warteten, um dem Publikum sich teils neu, teils zum zweiten Male wieder vorzustellen. Der Gedanke der »Wanderjahre«, der den »Lehrjahren« so natürlich folgte, bildete sich mehr und mehr aus und beschäftigte mich in einzelnen Stunden, die auf andere Weise nicht genutzt werden konnten.

Bezüglich auf die Rechte des Autors mußte man merkwürdig finden, daß Minister Portalis bei mir anfragte: ob es mit meiner Bewilligung geschehen könne, daß ein kölnischer Buchhändler »Die Wahlverwandtschaften« abdrucke. Ich antwortete dankbar in betreff meiner, verwies aber die Angelegenheit an den rechtmäßigen Verleger. So viel höher standen schon die Franzosen im Begriff von geistigem Besitz und gleichem Recht des Höhern und Niedern, wozu sich die guten Deutschen wohl so bald nicht erheben werden.

In Karlsbad betrachtete ich die Verwüstung, die der Sprudel angerichtet, mit großem Interesse. Aus den hinteren Fenstern des »Weißen Hirsches« zeichnete ich diesen seltsamen Zustand sorgfältig nach der Wirklichkeit und überließ mich der Erinnerung vieljähriger Betrachtungen und Folgerungen, deren ich hier nur kürzlich erwähnen darf.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 224-229.
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