Bis 1786

[10] Die Anfänge »Wilhelm Meisters« hatten lange geruht. Sie entsprangen aus einem dunkeln Vorgefühl der großen Wahrheit: daß der Mensch oft etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt ist, unternehmen und ausüben möchte, wozu ihm Fertigkeit nicht werden kann; ein inneres Gefühl warnt ihn abzustehen, er kann aber mit sich nicht ins klare kommen und wird auf falschem Wege zu falschem Zwecke getrieben, ohne daß er weiß, wie es zugeht. Hiezu kann alles gerechnet werden, was man falsche Tendenz, Dilettantismus usw. genannt hat. Geht ihm hierüber von Zeit zu Zeit ein halbes Licht auf, so entsteht ein Gefühl, das an Verzweiflung grenzt, und doch läßt er sich wieder gelegentlich von der Welle, nur halb widerstrebend, fortreißen. Gar viele vergeuden hiedurch den schönsten Teil ihres Lebens und verfallen zuletzt in wundersamen Trübsinn. Und doch ist es möglich, daß alle die falschen Schritte zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich im »Wilhelm Meister«[10] immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt, ja sich zuletzt mit klaren Worten ausspricht: »Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis', der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.«

Wer die kleine Oper »Scherz, List und Rache« mit Nachdenken lesen mag, wird finden, daß dazu mehr Aufwand als billig gemacht worden. Sie beschäftigte mich lange Zeit; ein dunkler Begriff des Intermezzo verführte mich, und zugleich die Lust, mit Sparsamkeit und Kargheit in einem engen Kreise viel zu wirken. Dadurch häuften sich aber die Musikstücke dergestalt, daß drei Personen sie nicht zu leisten vermögen. Sodann hat der freche Betrug, wodurch ein geiziger Pedant mystifiziert wird, für einen rechtlichen Deutschen keinen Reiz, wenn Italiener und Franzosen sich daran wohl ergötzen möchten; bei uns aber kann die Kunst den Mangel des Gemüts nicht leicht entschuldigen. Noch einen Grundfehler hat das Singspiel, daß drei Personen, gleichsam eingesperrt, ohne die Möglichkeit eines Chors, dem Komponisten, seine Kunst zu entwickeln und den Zuhörer zu ergötzen, nicht genugsame Gelegenheit geben. Dessenungeachtet hat mir mein Landsmann Kayser, in Zürich sich aufhaltend, durch seine Komposition manchen Genuß verschafft, viel zu denken gegeben und ein gutes Jugendverhältnis, welches sich nachher in Rom erneuerte, immerfort lebendig erhalten.

»Die Vögel« und andere, verlorengegangene Festspiele für Ettersburg mögen hier noch genannt werden. Die zwei Akte von »Elpenor« wurden 1783 geschrieben. Zu Ende dieser Epoche reifte der Entschluß, meine sämtlichen Arbeiten bei Göschen herauszugeben. Die Redaktion der vier ersten Bände war Michael 1786 vollendet.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 10-11.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tag- und Jahreshefte
Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 in 45 Bänden in 2 Abteilungen: 1. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 17: Tag- und Jahreshefte
Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 in 45 Bänden in 2 Abteilungen: 1. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 17: Tag- und Jahreshefte