[Bassompierres Geschichte vom Schleier]

[324] Eine schöne Frau, die den Ahnherrn außerordentlich liebte, besuchte ihn alle Montage auf seinem Sommerhause, wo er die Nacht mit ihr zubrachte, indem er seine Frau glauben ließ, daß er diese Zeit zu einer Jagdpartie bestimmt habe.

Zwei Jahre hatten sie sich ununterbrochen auf diese Weise gesehen, als seine Frau einigen Verdacht schöpfte, sich eines Morgens nach dem Sommerhause schlich und ihren Gemahl mit der Schönen in tiefem Schlafe antraf. Sie hatte weder Mut noch Willen, sie aufzuwecken, nahm aber ihren Schleier vom Kopfe und deckte ihn über die Füße der Schlafenden.

Als das Frauenzimmer erwachte und den Schleier erblickte, tat sie einen hellen Schrei, brach in laute Klage aus und jammerte, daß sie ihren Geliebten nicht mehr wiedersehen, ja daß sie sich ihm auf hundert Meilen nicht nähern dürfe. Sie verließ ihn, nachdem sie ihm drei Geschenke, ein kleines Fruchtmaß, einen Ring und einen Becher, für seine drei rechtmäßigen Töchter verehrt und ihm die größte Sorgfalt für diese Gaben anbefohlen hatte. Man hob sie sorgfältig auf, und die Abkömmlinge dieser drei Töchter glaubten die Ursache manches glücklichen Ereignisses in dem Besitz dieser Gabe zu finden.«


»Das sieht nun schon eher dem Märchen der schönen Melusine und andern dergleichen Feengeschichten ähnlich«, sagte Luise.

»Und doch hat sich eine solche Tradition«, versetzte Friedrich, »und ein ähnlicher Talisman in unserm Hause erhalten.«

»Wie wäre denn das?« fragte Karl.

»Es ist ein Geheimnis«, versetzte jener; »nur der älteste[324] Sohn darf es allenfalls bei Lebzeiten des Vaters erfahren und nach seinem Tode das Kleinod besitzen.«

»Du hast es also in Verwahrung?« fragte Luise.

»Ich habe wohl schon zuviel gesagt«, versetzte Friedrich, indem er das Licht anzündete, um sich hinwegzubegeben.

Die Familie hatte zusammen wie gewöhnlich das Frühstück eingenommen, und die Baronesse saß wieder an ihrem Stickrahmen. Nach einem kurzen allgemeinen Stillschweigen begann der geistliche Hausfreund mit einigem Lächeln: »Es ist zwar selten, daß Sänger, Dichter und Erzähler, die eine Gesellschaft zu unterhalten versprechen, es zur rechten Zeit tun; vielmehr lassen sie sich gewöhnlich, wo sie willig sein sollten, sehr dringend bitten und sind zudringlich, wenn man ihren Vortrag gern ablehnen möchte. Ich hoffe daher, eine Ausnahme zu machen, wenn ich anfrage, ob Ihnen in diesem Augenblicke gelegen sei, irgendeine Geschichte anzuhören?«

»Recht gerne«, versetzte die Baronesse, »und ich glaube, es werden alle übrigen mit mir übereinstimmen. Doch wenn Sie uns eine Geschichte zur Probe geben wollen, so muß ich Ihnen sagen, welche Art ich nicht liebe. Jene Erzählungen machen mir keine Freude, bei welchen nach Weise der ›Tausendundeinen Nacht‹ eine Begebenheit in die andere eingeschachtelt, ein Interesse durch das andere verdrängt wird, wo sich der Erzähler genötigt sieht, die Neugierde, die er auf eine leichtsinnige Weise erregt hat, durch Unterbrechung zu reizen und die Aufmerksamkeit, anstatt sie durch eine vernünftige Folge zu befriedigen, nur durch seltsame und keineswegs lobenswürdige Kunstgriffe aufzuspannen. Ich tadle das Bestreben, aus Geschichten, die sich der Einheit des Gedichts nähern sollen, rhapsodische Rätsel zu machen und den Geschmack immer tiefer zu verderben. Die Gegenstände Ihrer Erzählungen gebe ich Ihnen ganz frei; aber lassen Sie uns wenigstens ab der Form sehen, daß wir in guter Gesellschaft sind. Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte von wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht ist, wahr, natürlich und nicht gemein, soviel[325] Handlung als unentbehrlich und soviel Gesinnung als nötig; die nicht stillsteht, sich nicht auf einem Flecke zu langsam bewegt, sich aber auch nicht übereilt; in der die Menschen erscheinen, wie man sie gern mag, nicht vollkommen, aber gut, nicht außerordentlich, aber interessant und liebenswürdig. Ihre Geschichte sei unterhaltend, solange wir sie hören, befriedigend, wenn sie zu Ende ist, und hinterlasse uns einen stillen Reiz, weiter nachzudenken.«

»Kennte ich Sie nicht besser, gnädige Frau«, versetzte der Geistliche, »so würde ich glauben, Ihre Absicht sei, mein Warenlager, noch eh ich irgend etwas davon ausgekramt habe, durch diese hohen und strengen Forderungen völlig in Mißkredit zu setzen. Wie selten möchte man Ihnen nach Ihrem Maßstab Genüge leisten können! Selbst in diesem Augenblicke«, fuhr er fort, als er ein wenig nachgedacht, »nötigen Sie mich, die Erzählung, die ich im Sinne hatte, zurückzustellen und auf eine andere Zeit zu verlegen; und ich weiß wirklich nicht, ob ich mich in der Eile vergreife, wenn ich eine alte Geschichte, an die ich aber immer mit einiger Vorliebe gedacht habe, sogleich aus dem Stegreife vorzutragen anfange:

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 12, Berlin 1960 ff, S. 324-326.
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