Allgemeines

[204] Die Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit der persischen Dichter entspringt aus einer unübersehbaren Breite der Außenwelt und ihrem unendlichen Reichtum. Ein immer bewegtes[204] öffentliches Leben, in welchem alle Gegenstände gleichen Wert haben, wogt vor unserer Einbildungskraft, deswegen uns ihre Vergleichungen oft so sehr auffallend und mißbeliebig sind. Ohne Bedenken verknüpfen sie die edelsten und niedrigsten Bilder, an welches Verfahren wir uns nicht so leicht gewöhnen.

Sprechen wir es aber aufrichtig aus: ein eigentlicher Lebemann, der frei und praktisch atmet, hat kein ästhetisches Gefühl und keinen Geschmack, ihm genügt Realität im Handeln, Genießen, Betrachten ebenso wie im Dichten; und wenn der Orientale, seltsame Wirkung hervorzubringen, das Ungereimte zusammenreimt, so soll der Deutsche, dem dergleichen wohl auch begegnet, dazu nicht scheel sehen.

Die Verwirrung, die durch solche Produktionen in der Einbildungskraft entsteht, ist derjenigen zu vergleichen, wenn wir durch einen orientalischen Basar, durch eine europäische Messe gehen. Nicht immer sind die kostbarsten und niedrigsten Waren im Raume weit gesondert, sie vermischen sich in unsern Augen, und oft gewahren wir auch die Fässer, Kisten, Säcke, worin sie transportiert worden. Wie auf einem Obst- und Gemüsmarkt sehen wir nicht allein Kräuter, Wurzeln und Früchte, sondern auch hier und dort allerlei Arten Abwürflinge, Schalen und Strunke.

Ferner kostet's dem orientalischen Dichter nichts, uns von der Erde in den Himmel zu erheben und von da wieder herunterzustürzen oder umgekehrt. Dem Aas eines faulenden Hundes versteht Nisami eine sittliche Betrachtung abzulocken, die uns in Erstaunen setzt und erbaut.

Herr Jesus, der die Welt durchwandert',

Ging einst an einem Markt vorbei;

Ein toter Hund lag auf dem Wege,

Geschleppet vor des Hauses Tor,

Ein Haufe stand ums Aas umher,

Wie Geier sich um Äser sammeln.[205]

Der eine sprach: »Mir wird das Hirn

Von dem Gestank ganz ausgelöscht.«

Der andre sprach: »Was braucht es viel,

Der Gräber Auswurf bringt nur Unglück.«

So sang ein jeder seine Weise,

Des toten Hundes Leib zu schmähen.

Als nun an Jesus kam die Reih,

Sprach, ohne Schmähn, er guten Sinns,

Er sprach aus gütiger Natur:

»Die Zähne sind wie Perlen weiß.«

Dies Wort macht' den Umstehenden,

Durchglühten Muscheln ähnlich, heiß.


Jedermann fühlt sich betroffen, wenn der so liebevolle als geistreiche Prophet nach seiner eigensten Weise Schonung und Nachsicht fordert. Wie kräftig weiß er die unruhige Menge auf sich selbst zurückzuführen, sich des Verwerfens, des Verwünschens zu schämen, unbeachteten Vorzug mit Anerkennung, ja vielleicht mit Neid zu betrachten! Jeder Umstehende denkt nun an sein eigen Gebiß. Schöne Zähne sind überall, besonders auch im Morgenland, als eine Gabe Gottes hoch angenehm. Ein faulendes Geschöpf wird durch das Vollkommene, was von ihm übrigbleibt, ein Gegenstand der Bewunderung und des frömmsten Nachdenkens.

Nicht ebenso klar und eindringlich wird uns das vortreffliche Gleichnis, womit die Parabel schließt; wir tragen daher Sorge, dasselbe anschaulich zu machen.

In Gegenden, wo es an Kalklagern gebricht, werden Muschelschalen zu Bereitung eines höchst nötigen Baumaterials angewendet und, zwischen dürres Reisig geschichtet, von der erregten Flamme durchgeglüht. Der Zuschauende kann sich das Gefühl nicht nehmen, daß diese Wesen, lebendig im Meere sich nährend und wachsend, noch kurz vorher der allgemeinen Lust des Daseins nach ihrer Weise genossen und jetzt nicht etwa verbrennen, sondern durchgeglüht ihre völlige Gestalt behalten, wenngleich alles Lebendige aus ihnen[206] weggetrieben ist. Nehme man nunmehr an, daß die Nacht hereinbricht und diese organischen Reste dem Auge des Beschauers wirklich glühend erscheinen, so läßt sich kein herrlicheres Bild einer tiefen, heimlichen Seelenqual vor Augen stellen. Will sich jemand hievon ein vollkommenes Anschauen erwerben, so ersuche er einen Chemiker, ihm Austerschalen in den Zustand der Phosphoreszenz zu versetzen, wo er mit uns gestehen wird, daß ein siedend heißes Gefühl, welches den Menschen durchdringt, wenn ein gerechter Vorwurf ihn mitten in dem Dünkel eines zutraulichen Selbstgefühls unerwartet betrifft, nicht furchtbarer auszusprechen sei.

Solcher Gleichnisse würden sich zu Hunderten auffinden lassen, die das unmittelbarste Anschauen des Natürlichen, Wirklichen voraussetzen und zugleich wiederum einen hohen sittlichen Begriff erwecken, der aus dem Grunde eines reinen ausgebildeten Gefühls hervorsteigt.

Höchst schätzenswert ist bei dieser grenzenlosen Breite ihre Aufmerksamkeit aufs Einzelne, der scharfe, liebevolle Blick, der einem bedeutenden Gegenstand sein Eigentümlichstes abzugewinnen sucht. Sie haben poetische Stilleben, die sich den besten niederländischer Künstler an die Seite setzen, ja im Sittlichen sich darüber erheben dürfen. Aus eben dieser Neigung und Fähigkeit werden sie gewisse Lieblingsgegenstände nicht los; kein persischer Dichter ermüdet, die Lampe blendend, die Kerze leuchtend vorzustellen. Eben daher kommt auch die Eintönigkeit, die man ihnen vorwirft; aber genau betrachtet, werden die Naturgegenstände bei ihnen zum Surrogat der Mythologie, Rose und Nachtigall nehmen den Platz ein von Apoll und Daphne. Wenn man bedenkt, was ihnen abging, daß sie kein Theater, keine bildende Kunst hatten, ihr dichterisches Talent aber nicht geringer war als irgendeins von jeher, so wird man, ihrer eigensten Welt befreundet, sie immer mehr bewundern müssen.[207]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 204-208.
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