Despotie

[213] Was aber dem Sinne der Westländer niemals eingehen kann, ist die geistige und körperliche Unterwürfigkeit unter seinen Herren und Oberen, die sich von uralten Zeiten herschreibt, indem Könige zuerst an die Stelle Gottes traten. Im Alten Testament lesen wir ohne sonderliches Befremden, wenn Mann und Weib vor Priester und Helden sich aufs Angesicht niederwirft und anbetet, denn dasselbe sind sie vor den Elohim zu tun gewohnt. Was zuerst aus natürlichem frommem Gefühl geschah, verwandelte sich später in umständliche Hofsitte. Der Ku-tu, das dreimalige Niederwerfen dreimal wiederholt, schreibt sich dorther. Wie viele westliche Gesandtschaften an östlichen Höfen sind an dieser Zeremonie gescheitert, und die persische Poesie kann im ganzen bei uns nicht gut aufgenommen werden, wenn wir uns hierüber nicht vollkommen deutlich machen.

Welcher Westländer kann erträglich finden, daß der Orientale nicht allein seinen Kopf neunmal auf die Erde stößt, sondern denselben sogar wegwirft irgendwohin zu Ziel und Zweck.

Das Maillespiel zu Pferde, wo Ballen und Schlägel die große Rolle zugeteilt ist, erneuert sich oft vor dem Auge des Herrschers und des Volkes, ja mit beiderseitiger persönlicher Teilnahme. Wenn aber der Dichter seinen Kopf als Ballen auf die Maillebahn des Schahs legt, damit der Fürst ihn gewahr werde und mit dem Schlägel der Gunst zum Glück weiter fortspediere, so können und mögen wir freilich weder mit der Einbildungskraft noch mit der Empfindung folgen; denn so heißt es:

Wie lang wirst ohne Hand und Fuß

Du noch des Schicksals Ballen sein!

Und überspringst du hundert Bahnen,

Dem Schlägel kannst du nicht entfliehn.

Leg auf des Schahes Bahn den Kopf,

Vielleicht, daß er dich doch erblickt.
[213]

Ferner:

Nur dasjenige Gesicht

Ist des Glückes Spiegelwand,

Das gerieben ward am Staub

Von dem Hufe dieses Pferdes.


Nicht aber allein vor dem Sultan, sondern auch vor Geliebten erniedrigt man sich ebenso tief und noch häufiger:

Mein Gesicht lag auf dem Weg,

Keinen Schritt hat er vorbeigetan.


Beim Staube deines Wegs

Mein Hoffnungszelt!

Bei deiner Füße Staub,

Dem Wasser vorzuziehn.


Denjenigen, der meine Scheitel

Wie Staub zertritt mit Füßen,

Will ich zum Kaiser machen,

Wenn er zu mir zurückkommt.


Man sieht deutlich hieraus, daß eins so wenig als das andere heißen will, erst bei würdiger Gelegenheit angewendet, zuletzt immer häufiger gebraucht und gemißbraucht. So sagt Hafis wirklich possenhaft:

Mein Kopf im Staub des Weges

Des Wirtes sein wird.


Ein tieferes Studium würde vielleicht die Vermutung bestätigen, daß frühere Dichter mit solchen Ausdrücken viel bescheidener verfahren und nur spätere, auf demselben Schauplatz in derselben Sprache sich ergehend, endlich auch solche Mißbräuche, nicht einmal recht im Ernst, sondern parodistisch beliebt, bis sich endlich die Tropen dergestalt[214] vom Gegenstand weg verlieren, daß kein Verhältnis mehr weder gedacht noch empfunden werden kann.

Und so schließen wir denn mit den lieblichen Zeilen Enweris, welcher so anmutig als schicklich einen werten Dichter seiner Zeit verehrt:

Dem Vernünft'gen sind Lockspeise Schedschaais Gedichte,

Hundert Vögel wie ich fliegen begierig darauf.

Geh, mein Gedicht, und küß vor dem Herrn die Erde, und sag ihm

Du, die Tugend der Zeit, Tugendepoche bist du.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 213-215.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
West-östlicher Divan
West-oestlicher Divan: Stuttgart 1819
West-oestlicher Divan: Stuttgart 1819
West-östlicher Divan. Zwei Bände
West-östlicher Divan
West-östlicher Divan (insel taschenbuch)