Dschelâl-Eddîn Rumi

[197] Stirbt 1262


Er begleitet seinen Vater, der wegen Verdrießlichkeiten mit dem Sultan sich von Balch hinwegbegibt, auf dem langen Reisezug. Unterwegs nach Mekka treffen sie Attar, der ein Buch göttlicher Geheimnisse dem Jünglinge verehrt und ihn zu heiligen Studien entzündet.

Hiebei ist soviel zu bemerken: daß der eigentliche Dichter die Herrlichkeit der Welt in sich aufzunehmen berufen ist und deshalb immer eher zu loben als zu tadeln geneigt sein wird. Daraus folgt, daß er den würdigsten Gegenstand aufzufinden sucht und, wenn er alles durchgegangen, endlich sein Talent am liebsten zu Preis und Verherrlichung Gottes[197] anwendet. Besonders aber liegt dieses Bedürfnis dem Orientalen am nächsten, weil er immer dem Überschwenglichen zustrebt und solches bei Betrachtung der Gottheit in größter Fülle gewahr zu werden glaubt, so wie ihm denn bei jeder Ausführung niemand Übertriebenheit schuld geben darf.

Schon der sogenannte mahometanische Rosenkranz, wodurch der Name Allah mit neunundneunzig Eigenschaften verherrlicht wird, ist eine solche Lob- und Preislitanei. Bejahende, verneinende Eigenschaf ten bezeichnen das unbegreiflichste Wesen; der Anbeter staunt, ergibt und beruhigt sich. Und wenn der weltliche Dichter die ihm vorschwebenden Vollkommenheiten an vorzügliche Personen verwendet, so flüchtet sich der gottergebene in das unpersönliche Wesen, das von Ewigkeit her alles durchdringt.

So flüchtete sich Attar vom Hofe zur Beschaulichkeit, und Dschelâl-eddîn, ein reiner Jüngling, der sich soeben auch vom Fürsten und der Hauptstadt entfernte, war um desto eher zu tieferen Studien zu entzünden.

Nun zieht er mit seinem Vater nach vollbrachten Wallfahrten durch Kleinasien; sie bleiben zu Iconium. Dort lehren sie, werden verfolgt, vertrieben, wieder eingesetzt und liegen daselbst mit einem ihrer treusten Lehrgenossen begraben. Indessen hatte Dschengis Khan Persien erobert, ohne den ruhigen Ort ihres Aufenthaltes zu berühren.

Nach obiger Darstellung wird man diesem großen Geiste nicht verargen, wenn er sich ins Abstruse gewendet. Seine Werke sehen etwas bunt aus; Geschichtchen, Märchen, Parabeln, Legenden, Anekdoten, Beispiele, Probleme behandelt er, um eine geheimnisvolle Lehre eingängig zu machen, von der er selbst keine deutliche Rechenschaft zu geben weiß. Unterricht und Erhebung ist sein Zweck, im ganzen aber sucht er durch die Einheitslehre alle Sehnsucht wo nicht zu erfüllen, doch aufzulösen und anzudeuten, daß im göttlichen Wesen zuletzt alles untertauche und sich verkläre.[198]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 197-199.
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