Nachtrag

[217] Diese Betrachtungen zweier ernster, bedächtiger Männer werden das Urteil über persische Dichter und Enkomiasten[217] zur Milde bewegen, indem zugleich unsere früheren Äußerungen hiedurch bestätigt sind: in gefährlicher Zeit nämlich komme beim Regiment alles darauf an, daß der Fürst nicht allein seine Untertanen beschützen, sondern sie auch persönlich gegen den Feind anführen könne. Zu dieser bis auf die neusten Tage sich bestätigenden Wahrheit lassen sich uralte Beispiele finden; wie wir denn das Reichsgrundgesetz anführen, welches Gott dem israelitischen Volke, mit dessen allgemeiner Zustimmung, in dem Augenblick erteilt, da es ein für allemal einen König wünscht. Wir setzen diese Konstitution, die uns freilich heutzutag etwas wunderlich scheinen möchte, wörtlich hieher.

»Und Samuel verkündigte dem Volk das Recht des Königes, den sie von dem Herrn forderten: das wird des Königes Recht sein, der über euch herrschen wird: Eure Söhne wird er nehmen zu seinen Wagen und Reitern, die vor seinem Wagen hertraben, und zu Hauptleuten über tausend und über funfzig und zu Ackerleuten, die ihm seinen Acker bauen, und zu Schnittern in seiner Ernte, und daß sie seinen Harnisch und was zu seinem Wagen gehört, machen. Eure Töchter aber wird er nehmen, daß sie Apothekerinnen, Köchinnen und Bäckerinnen sein. Eure besten Äcker und Weinberge und Obstgärten wird er nehmen und seinen Knechten geben. Dazu von eurer Saat und Weinbergen wird er den Zehnden nehmen und seinen Kämmerern und Knechten geben. Und eure Knechte und Mägde und eure feinesten Jünglinge und eure Esel wird er nehmen und seine Geschäfte damit ausrichten. Von euren Herden wird er den Zehenden nehmen: und ihr müsset seine Knechte sein.«

Als nun Samuel dem Volk das Bedenkliche einer solchen Übereinkunft zu Gemüte führen und ihnen abraten will, ruft es einstimmig: »Mitnichten, sondern es soll ein König über uns sein; daß wir auch sein wie alle andere Heiden, daß uns unser König richte und vor uns her ausziehe, wenn wir unsere Kriege führen.«

In diesem Sinne spricht der Perser:[218]

Mit Rat und Schwert umfaßt und schützet er das Land;

Umfassende und Schirmer stehn in Gottes Hand.


Überhaupt pflegt man bei Beurteilung der verschiedenen Regierungsformen nicht genug zu beachten, daß in allen, wie sie auch heißen, Freiheit und Knechtschaft zugleich polarisch existiere. Steht die Gewalt bei einem, so ist die Menge unterwürfig; ist die Gewalt bei der Menge, so steht der Einzelne im Nachteil; dieses geht denn durch alle Stufen durch, bis sich vielleicht irgendwo ein Gleichgewicht, jedoch nur auf kurze Zeit, finden kann. Dem Geschichtsforscher ist es kein Geheimnis; in bewegten Augenblicken des Lebens jedoch kann man darüber nicht ins klare kommen. Wie man denn niemals mehr von Freiheit reden hört, als wenn eine Partei die andere unterjochen will und es auf weiter nichts angesehen ist, als daß Gewalt, Einfluß und Vermögen aus einer Hand in die andere gehen sollen. Freiheit ist die leise Parole heimlich Verschworner, das laute Feldgeschrei der öffentlich Umwälzenden, ja das Losungswort der Despotie selbst, wenn sie ihre unterjochte Masse gegen den Feind anführt und ihr von auswärtigem Druck Erlösung auf alle Zeiten verspricht.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 217-219.
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