Nachtrag

[234] Höchst merkwürdig ist, daß die persische Poesie kein Drama hat. Hätte ein dramatischer Dichter aufstehen können, ihre ganze Literatur müßte ein anderes Ansehn gewonnen haben. Die Nation ist zur Ruhe geneigt, sie läßt sich gern etwas vorerzählen, daher die Unzahl Märchen und die grenzenlosen Gedichte. So ist auch sonst das orientalische Leben an sich selbst nicht gesprächig; der Despotismus befördert keine Wechselreden, und wir finden, daß eine jede Einwendung gegen Willen und Befehl des Herrschers allenfalls nur in Zitaten des Korans und bekannter Dichterstellen hervortritt, welches aber zugleich einen geistreichen Zustand, Breite, Tiefe und Konsequenz der Bildung voraussetzt. Daß jedoch der Orientale die Gesprächsform so wenig als ein anderes Volk entbehren mag, sieht man an der Hochschätzung der Fabeln des Bidpai, der Wiederholung, Nachahmung und Fortsetzung derselben. Die »Vögelgespräche« des Ferideddin Attar geben hievon gleichfalls das schönste Beispiel.

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Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 234.
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