Regiment

[178] Wenn der Philosoph aus Prinzipien sich ein Natur-, Völker- und Staatsrecht auferbaut, so forscht der Geschichtsfreund nach, wie es wohl mit solchen menschlichen Verhältnissen und Verbindungen von jeher gestanden habe. Da finden wir denn im ältesten Oriente: daß alle Herrschaft sich ableiten lasse von dem Rechte; Krieg zu erklären. Dieses Recht liegt, wie alle übrigen, anfangs in dem Willen, in der Leidenschaft des Volkes. Ein Stammglied wird verletzt, sogleich[178] regt sich die Masse unaufgefordert, Rache zu nehmen am Beleidiger. Weil aber die Menge zwar handeln und wirken, nicht aber sich führen mag, überträgt sie, durch Wahl, Sitte, Gewohnheit, die Anführung zum Kampfe einem einzigen, es sei für einen Kriegszug, für mehrere; dem tüchtigen Manne verleiht sie den gefährlichen Posten auf Lebenszeit, auch wohl endlich für seine Nachkommen. Und so verschafft sich der einzelne, durch die Fähigkeit, Krieg zu führen, das Recht, den Krieg zu erklären.

Hieraus fließt nun ferner die Befugnis, jeden Staatsbürger, der ohnehin als kampflustig und streitfertig angesehen werden darf, in die Schlacht zu rufen, zu fordern, zu zwingen. Diese Konskription mußte von jeher, wenn sie sich gerecht und wirksam erzeigen wollte, unbarmherzig sein. Der erste Darius rüstet sich gegen verdächtige Nachbarn, das unzählige Volk gehorcht dem Wink. Ein Greis liefert drei Söhne, er bittet, den jüngsten vom Feldzuge zu befreien, der König sendet ihm den Knaben in Stücken zerhauen zurück. Hier ist also das Recht über Leben und Tod schon ausgesprochen. In der Schlacht selbst leidet's keine Frage: denn wird nicht oft willkürlich, ungeschickt ein ganzer Heeresteil vergebens aufgeopfert, und niemand fordert Rechenschaft vom Anführer?

Nun zieht sich aber bei kriegerischen Nationen derselbe Zustand durch die kurzen Friedenszeiten. Um den König her ist's immer Krieg und niemandem bei Hofe das Leben gesichert. Ebenso werden die Steuern fort erhoben, die der Krieg nötig machte. Deshalb setzte denn auch Darius Codomannus, vorsichtig, regelmäßige Abgaben fest, statt freiwilliger Geschenke. Nach diesem Grundsatz, mit dieser Verfassung stieg die persische Monarchie zu höchster Macht und Glückseligkeit, die denn doch zuletzt an dem Hochsinn einer benachbarten, kleinen, zerstückelten Nation endlich scheiterte.[179]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 178-180.
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