Tavernier und Chardin

[294] Ersterer, Goldschmied und Juwelenhändler, dringt mit Verstand und klugem Betragen, kostbar-kunstreiche Waren zu seiner Empfehlung vorzeigend, an die orientalischen Höfe und weiß sich überall zu schicken und zu finden. Er gelangt nach Indien zu den Demantgruben, und nach einer gefahrvollen Rückreise wird er im Westen nicht zum freundlichsten aufgenommen. Dessen hinterlassene Schriften sind höchst[294] belehrend, und doch wird er von seinem Landsmann, Nachfolger und Rival Chardin nicht sowohl im Lebensgange gehindert als in der öffentlichen Meinung nachher verdunkelt. Dieser, der sich gleich zu Anfang seiner Reise durch die größten Hindernisse durcharbeiten muß, versteht denn auch die Sinnesweise orientalischer Macht- und Geldhaber, die zwischen Großmut und Eigennutz schwankt, trefflich zu benutzen und ihrer beim Besitz der größten Schätze nie zu stillenden Begier nach frischen Juwelen und fremden Goldarbeiten vielfach zu dienen; deshalb er denn auch nicht ohne Glück und Vorteil wieder nach Hause zurückkehrt.

An diesen beiden Männern ist Verstand, Gleichmut, Gewandtheit, Beharrlichkeit, einnehmendes Betragen und Standhaftigkeit nicht genug zu bewundern, und könnte jeder Weltmann sie auf seiner Lebensreise als Muster verehren. Sie besaßen aber zwei Vorteile, die nicht einem jeden zustatten kommen: sie waren Protestanten und Franzosen zugleich – Eigenschaften, die, zusammen verbunden, höchst fähige Individuen hervorzubringen imstande sind.

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Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 294-295.
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