1770

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1770, 19. September.


Am Mittagstisch in Straßburg

Herr Troost war nett und nach der Mode gekleidet; Stilling [Jung] auch so ziemlich. Er hatte einen schwarzbraunen Rock mit manchesternen Unterkleidern, nur war ihm noch eine runde Perücke übrig, die er zwischen seinen Beutelperücken doch auch gern verbrauchen wollte. Diese hatte er einstmalen aufgesetzt und kam damit an den Tisch. Niemand störte sich daran, als nur Herr Waldberg von Wien [Meyer von Lindau]. Dieser sah ihn an, und da er schon vernommen hatte, daß Stilling sehr für die Religion eingenommen war, so fing er an und fragte ihn: ob wol Adam im Paradies eine runde Perücke möchte getragen haben? Alle lachten herzlich bis auf Salzmann, Goethe und Troost; diese lachten nicht. Stillingen fuhr der Zorn durch die Glieder und er antwortete darauf: »Schämen Sie sich dieses Spottes. Ein solcher alltäglicher Einfall ist nicht werth, daß er belacht werde.« Goethe aber fiel ein und versetzte: »Probir erst einen Menschen, ob er des Spottes werth sei. Es ist teufelmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der keinen beleidigt hat, zum besten zu haben.« Von dieser Zeit nahm sich Herr Goethe Stilling's an, besuchte ihn, gewann ihn lieb, machte Brüderschaft und Freundschaft mit ihm und bemühte[16] sich bei allen Gelegenheiten, Stilling'en Liebe zu erzeigen. Schade, daß so wenige diesen vortrefflichen Menschen seinem Herzen nach kennen![17]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 1, S. 16-18.
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