I. Von den Samenblättern

[66] 10. Da wir die Stufenfolge des Pflanzen-Wachstums zu beobachten uns vorgenommen haben, so richten wir unsere Aufmerksamkeit sogleich in dem Augenblicke auf die Pflanze, da sie sich aus dem Samenkorn entwickelt. In dieser Epoche können wir die Teile, welche unmittelbar zu ihr gehören, leicht und genau erkennen. Sie läßt ihre Hüllen mehr oder weniger in der Erde zurück, welche wir auch gegenwärtig nicht untersuchen, und bringt in vielen Fällen wenn die Wurzel sich in den Boden befestigt hat, die erster Organe ihres oberen Wachstums, welche schon unter der Samendecke verborgen gegenwärtig gewesen, an das Licht hervor.


11. Es sind diese ersten Organe unter dem Namen Kotyledonen bekannt; man hat sie auch Samenklappen, Kern stocke, Samenlappen, Samenblätter genannt, und so die verschiedenen Gestalten, in denen wir sie gewahr werden zu bezeichnen gesucht.


12. Sie erscheinen oft unförmlich, mit einer rohen Materie gleichsam ausgestopft, und ebenso sehr in die Dicke als in die Breite ausgedehnt; ihre Gefäße sind unkenntlich und von der Masse des Ganzen kaum zu unterscheiden; haben fast nichts Ähnliches von einem Blatte, und wirkönnen verleitet werden, sie für besondere Organe anzusehen.


13. Doch nähern sie sich bei vielen Pflanzen der Blattgestalt; sie werden flächer, sie nehmen, dem Licht und der Luft ausgesetzt, die grüne Farbe in einem höhern Grade an, die in ihnen enthaltenen Gefäße werden kenntlicher, den Blattrippen ähnlicher.


14. Endlich erscheinen sie uns als wirkliche Blätter, ihre Gefäße sind der feinsten Ausbildung fähig, ihre Ähnlichkeit mit den folgenden Blättern erlaubt uns nicht, sie für besondere Organe zu halten, wir erkennen sie vielmehr für die ersten Blätter des Stengels.


15. Läßt sich nun aber ein Blatt nicht ohne Knoten, und ein Knoten nicht ohne Auge denken, so dürfen wir folgern, daß derjenige Punkt, wo die Kotyledonen angeheftet sind, der wahre erste Knotenpunkt der Pflanze sei. Es wird dieses durch diejenigen Pflanzen bekräftiget, welche unmittelbar unter den Flügeln der Kotyledonen junge Augen hervortreiben, und aus diesen ersten Knoten vollkommene Zweige entwickeln, wie z.B. Vicia Faba zu tun pflegt.


16. Die Kotyledonen sind meist gedoppelt, und wir finden hierbei eine Bemerkung zu machen, welche uns in der Folge noch wichtiger scheinen wird. Es sind nämlich die Blätter dieses ersten Knotens oft auch dann gepaart, wenn die folgenden Blätter des Stengels wechselsweise stehen; es zeigt sich also hier eine Annäherung und Verbindung der Teile, welche die Natur in der Folge trennt und voneinander entfernt. Noch merkwürdiger ist es, wenn die Kotyledonen als viele Blättchen um Eine Achse versammlet erscheinen, und der aus ihrer Mitte sich nach und nach entwickelnde Stengel die folgenden Blätter einzeln um sich herum hervorbringt, welcher Fall sehr genau an dem Wachstum der Pinusarten sich bemerken läßt. Hier bildet ein Kranz von Nadeln gleichsam, einen Kelch, und wir werden in der Folge, bei ähnlichen Erscheinungen, uns des gegenwärtigen Falles wieder zu erinnern haben.
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17. Ganz unförmliche einzelne Kernstücke solcher Pflanzen, welche nur mit Einem Blatte keimen, gehen wir gegenwärtig vorbei.


18. Dagegen bemerken wir, daß auch selbst die blattähnlichsten Kotyledonen, gegen die folgenden Blätter des Stengels gehalten, immer unausgebildeter sind. Vorzüglich ist ihre Peripherie höchst einfach, und an derselben sind so wenig Spuren von Einschnitten zu sehen, als auf ihren Flächen sich Haare oder andere Gefäße ausgebildeter Blätter bemerken lassen.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 13, Hamburg 1948 ff, S. 66-69.
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