X. Von den Früchten

[86] 74. Wir werden nunmehr die Früchte zu beobachten haben, und uns bald überzeugen, daß dieselben gleichen Ursprungs und gleichen Gesetzen unterworfen seien. Wir reden hier eigentlich von solchen Gehäusen, welche die Natur bildet, um die sogenannten bedeckten Samen einzuschließen, oder vielmehr aus dem Innersten dieser Gehäuse durch die Begattung eine größere oder geringere Anzahl Samen zu entwickeln. Daß diese Behältnisse gleichfalls aus der Natur und Organisation der bisher betrachteten Teile zu erklären seien, wird sich mit wenigem zeigen lassen.


75. Die rückschreitende Metamorphose macht uns hier abermals auf dieses Naturgesetz aufmerksam. So läßt sich zum Beispiel an den Nelken, diesen eben wegen ihrer Ausartung so bekannten und beliebten Blumen, oft bemerken, daß die Samenkapseln sich wieder in kelchähnliche Blätter verändern, und daß in ebendiesem Maße die aufgesetzten Griffel an Länge abnehmen; ja es finden sich Nelken, an denen sich das Fruchtbehältnis in einen wirklichen vollkommenen Kelch verwandelt hat, indes die Einschnitte desselben an der Spitze noch zarte Überbleibsel der Griffel und Narben tragen, und sich aus dem Innersten dieses zweiten Kelchs wieder eine mehr oder weniger vollständige Blätterkrone statt der Samen entwickelt.


76. Ferner hat uns die Natur selbst durch regelmäßige und beständige Bildungen auf eine sehr mannigfaltige Weise die Fruchtbarkeit geoffenbart, welche in einem Blatt verborgen liegt. So bringt ein zwar verändertes, doch noch völlig kenntliches Blatt der Linde aus seiner Mittelrippe ein Stielchen[86] und an demselben eine vollkommene Blüte und Frucht hervor. Bei dem Ruscus ist die Art, wie Blüten und Früchte auf den Blättern aufsitzen, noch merkwürdiger.


77. Noch stärker und gleichsam ungeheuer wird uns die unmittelbare Fruchtbarkeit der Stengelblätter in den Farrenkräutern vor Augen gelegt, welche durch einen innern Trieb, und vielleicht gar ohne bestimmte Wirkung zweier Geschlechter, unzählige, des Wachstums fähige Samen, oder vielmehr Keime entwickeln und umherstreuen, wo also ein Blatt an Fruchtbarkeit mit einer ausgebreiteten Pflanze, mit einem großen und ästereichen Baume wetteifert.


78. Wenn wir diese Beobachtungen gegenwärtig behalten, so werden wir in den Samenbehältern, ohnerachtet ihrer mannigfaltigen Bildung, ihrer besonderen Bestimmung und Verbindung unter sich, die Blattgestalt nicht verkennen. So wäre z.B. die Hülse ein einfaches zusammengeschlagenes, an seinen Rändern verwachsenes Blatt, die Schoten würden aus mehr übereinander gewachsenen Blättern bestehen, die zusammengesetzten Gehäuse erklärten sich aus mehreren Blättern, welche sich um einen Mittelpunkt vereiniget, ihr Innerstes gegeneinander aufgeschlossen, und ihre Ränder miteinander verbunden hätten. Wir können uns hiervon durch den Augenschein überzeugen, wenn solche zusammengesetzte Kapseln nach der Reife voneinanderspringen, da denn jeder Teil derselben sich uns als eine eröffnete Hülse oder Schote zeigt. Ebenso sehen wir bei verschiedenen Arten eines und desselben Geschlechts eine ähnliche Wirkung regelmäßig vorgehen; z.B. sind die Fruchtkapseln der Nigella orientalis, in der Gestalt von halb miteinander verwachsenen Hülsen, um eine Achse versammlet, wenn sie bei der Nigella Damascena völlig zusammengewachsen erscheinen.


79. Am meisten rückt uns die Natur diese Blattähnlichkeit aus den Augen, indem sie saftige und weiche oder holzartige und feste Samenbehälter bildet; allein sie wird unserer Aufmerksamkeit nicht entschlüpfen können, wenn wir ihr in allen Übergängen sorgfältig zu folgen wissen. Hier sei es genug,[87] den allgemeinen Begriff davon angezeigt und die Übereinstimmung der Natur an einigen Beispielen gewiesen zu haben. Die große Mannigfaltigkeit der Samenkapseln gibt uns künftig Stoff zu mehrerer Betrachtung.


80. Die Verwandtschaft der Samenkapseln mit den vorhergehenden Teilen zeigt sich auch durch das Stigma, welches bei vielen unmittelbar aufsitzt und mit der Kapsel unzertrennlich verbunden ist. Wir haben die Verwandtschaft der Narbe mit der Blattgestalt schon oben gezeigt und können hier sie nochmals aufführen; indem sich bei gefüllten Mohnen bemerken läßt, daß die Narben der Samenkapseln in farbige, zarte, Kronenblättern völlig ähnliche Blättchen verwandelt werden.


81. Die letzte und größte Ausdehnung, welche die Pflanze in ihrem Wachstum vornimmt, zeigt sich in der Frucht. Sie ist sowohl an innerer Kraft als äußerer Gestalt oft sehr groß, ja ungeheuer. Da sie gewöhnlich nach der Befruchtung vor sich gehet, so scheint der nun mehr determinierte Same, indem er zu seinem Wachstum aus der ganzen Pflanze die Säfte herbeiziehet, ihnen die Hauptrichtung nach der Samenkapsel zu geben, wodurch denn ihre Gefäße genährt, erweitert und oft in dem höchsten Grade ausgefüllt und ausgespannt werden. Daß hieran reinere Luftarten einen großen Anteil haben, läßt sich schon aus dem Vorigen schließen, und es bestätigt sich durch die Erfahrung, daß die aufgetriebenen Hülsen der Colutea reine Luft enthalten.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 13, Hamburg 1948 ff, S. 86-88.
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