Lust am Geheimnis

[364] Das Überlieferte war schon zu einer großen Masse angewachsen, die Schriften aber, die es enthielten, nur im Besitz von wenigen; jene Schätze, die von Griechen, Römern und Arabern übrig geblieben waren, sah man nur durch einen Flor; die vermittelnden Kenntnisse mangelten; es fehlte völlig an Kritik; apokryphische Schriften galten den echten gleich, ja es fand sich mehr Neigung zu jenen als zu diesen.

Ebenso drängten sich die Beobachtungen einer erst wieder neu und frisch erblickten Natur auf. Wer wollte sie sondern, ordnen und nutzen. Was jeder einzelne erfahren hatte, wollte er auch sich zu Vorteil und Ehre gebrauchen; beides wird mehr durch Vorurteile als durch Wahrhaftigkeit erlangt. Wie nun die früheren, um die Gewandtheit ihrer dialektischen Formen zu zeigen, auf allen Kathedern sich öffentlich hören ließen, so fühlte man später, daß man mit einem gehaltreichen Besitz Ursach hatte, sparsamer umzugehen.[364] Man verbarg, was dem Verbergenden selbst noch halb verborgen war, und weil es bei einem großen Ernst an einer vollkommnen Einsicht in die Sache fehlte, so entstand, was uns bei Betrachtung jener Bemühungen irre macht und verwirrt, der seltsame Fall, daß man verwechselte, was sich zu esoterischer und was sich zu exoterischer Überlieferung qualifiziert. Man verhehlte das Gemeine und sprach das Ungemeine laut, wiederholt und dringend aus.

Wir werden in der Folge Gelegenheit nehmen, die mancherlei Arten dieses Versteckens näher zu betrachten. Symbolik, Allegorie, Rätsel, Attrape, Chiffrieren wurden in Übung gesetzt. Apprehension gegen Kunstverwandte, Marktschreierei, Dünkel, Witz und Geist hatten alle gleiches Interesse, sich auf diese Weise zu üben und geltend zu machen, so daß der Gebrauch dieser Verheimlichungskünste sehr lebhaft bis in das siebzehnte Jahrhundert hinübergeht und sich zum Teil noch in den Kanzleien der Diplomatiker erhält.

Aber auch bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin, unsern Roger Baco, von dem nicht genug Gutes zu sagen ist, höchlich zu rühmen, daß er sich dieser falschen und schiefen Überlieferungsweise gänzlich enthalten, so sehr, daß wir wohl behaupten können, der Schluß seiner höchst schätzbaren Schrift de mirabili potestate artis et naturae gehöre nicht ihm, sondern einem Verfälscher, der dadurch diesen kleinen Traktat an eine Reihe alchimistischer Schriften anschließen wollen.

An dieser Stelle müssen wir manches, was sich in unsern Kollektaneen vorfindet, beiseite legen, weil es uns zu weit von dem vorgesteckten Ziele ablenken würde. Vielleicht zeigt sich eine andere Gelegenheit, die Lücke, die auch hier abermals entsteht, auf eine schickliche Weise auszufüllen.[365]

Quelle:
Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 1–24 und Erg.-Bände 1–3, Band 16, Zürich 1948 ff, S. 364-366.
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