Zweite Abteilung – Physische Farben

[60] Physische Farben nennen wir diejenigen, zu deren Hervorbringung gewisse materielle Mittel nötig sind, welche aber selbst keine Farbe haben und teils durchsichtig, teils trüb und durchscheinend, teils völlig undurchsichtig sein können. Dergleichen Farben werden also in unserm Auge durch solche äußere bestimmte Anlässe erzeugt, oder, wenn sie schon auf irgend eine Weise außer uns erzeugt sind, in unser Auge zurückgeworfen. Ob wir nun schon hiedurch denselben eine Art von Objektivität zuschreiben, so bleibt doch das Vorübergehende, Nichtfestzuhaltende meistens ihr Kennzeichen.

137. Sie heißen daher auch bei den frühern Naturforschern Colores apparentes, fluxi, fugitivi, phantastici, falsi, variantes. Zugleich werden sie speciosi und emphatici, wegen ihrer auffallenden Herrlichkeit, genannt. Sie schließen sich unmittelbar an die physiologischen an, und scheinen nur um einen geringen Grad mehr Realität zu haben. Denn wenn bei jenen vorzüglich das Auge wirksam war und wir die Phänomene derselben nur in uns, nicht aber außer uns darzustellen vermochten, so tritt nun hier der Fall ein, daß zwar Farben im Auge durch farblose Gegenstände erregt werden, daß wir aber auch eine farblose Fläche an die Stelle unserer Retina setzen und auf derselben die Erscheinung außer uns gewahr werden können, wobei uns jedoch alle Erfahrungen auf das bestimmteste überzeugen, daß hier nicht von fertigen, sondern von werdenden und wechselnden Farben die Rede sei.

138. Wir sehen uns deshalb bei diesen physischen Farben durchaus imstande, einem subjektiven Phänomen ein objektives an die Seite zu setzen und öfters, durch die Verbindung beider, mit Glück tiefer in die Natur der Erscheinung einzudringen.[60]

139. Bei den Erfahrungen also, wobei wir die physischen Farben gewahr werden, wird das Auge nicht für sich als wirkend, das Licht niemals in unmittelbarem Bezuge auf das Auge betrachtet, sondern wir richten unsere Aufmerksamkeit besonders darauf, wie durch Mittel, und zwar farblose Mittel, verschiedene Bedingungen entstehen.

140. Das Licht kann auf dreierlei Weise unter diesen Umständen bedingt werden. Erstlich, wenn es von der Oberfläche eines Mittels zurückstrahlt, da denn die katoptrischen Versuche zur Sprache kommen. Zweitens, wenn es an dem Rande eines Mittels herstrahlt. Die dabei eintretenden Erscheinungen wurden ehmals perioptische genannt, wir nennen sie paroptische. Drittens, wenn es durch einen durchscheinenden oder durchsichtigen Körper durchgeht, welches die dioptrischen Versuche sind. Eine vierte Art physischer Farben haben wir epoptische genannt, indem sich die Erscheinung, ohne vorgängige Mitteilung (βαφη), auf einer farblosen Oberfläche der Körper unter verschiedenen Bedingungen sehen läßt.

141. Beurteilen wir diese Rubriken in bezug auf die von uns beliebten Hauptabteilungen, nach welchen wir die Farben in physiologischer, physischer und chemischer Rücksicht betrachten, so finden wir, daß die katoptrischen Farben sich nahe an die physiologischen anschließen, die paroptischen sich schon etwas mehr ablösen und gewissermaßen selbständig werden, die dioptrischen sich ganz eigentlich physisch erweisen und eine entschieden objektive Seite haben; die epoptischen, obgleich in ihren Anfängen auch nur apparent, machen den Übergang zu den chemischen Farben.

142. Wenn wir also unsern Vortrag stetig nach Anleitung der Natur fortführen wollten, so dürften wir nur in der jetzt eben bezeichneten Ordnung auch fernerhin verfahren; weil aber bei didaktischen Vorträgen es nicht sowohl darauf ankommt, dasjenige, wovon die Rede ist, aneinander zu knüpfen, vielmehr solches wohl auseinander zu sondern, damit[61] erst zuletzt, wenn alles Einzelne vor die Seele gebracht ist, eine große Einheit das Besondere verschlinge: so wollen wir uns gleich zu den dioptrischen Farben wenden, um den Leser alsbald in die Mitte der physischen Farben zu versetzen und ihm ihre Eigenschaften auffallender zu machen.

Quelle:
Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 1–24 und Erg.-Bände 1–3, Band 16, Zürich 1948 ff, S. 60-62.
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