Fünftes Kapitel

[298] Wilhelm hatte sich schon lange mit einer Übersetzung Hamlets abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wielandschen Arbeit bedient, durch die er überhaupt Shakespearen zuerst kennen lernte. Was in derselben ausgelassen war, fügte er hinzu, und so war er im Besitz eines vollständigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo über die Behandlung so ziemlich einig geworden war. Er fing nun an, nach seinem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden, zu verändern und oft wiederherzustellen, denn so zufrieden er auch mit seiner Idee war, so schien ihm doch bei der Ausführung immer, daß das Original nur verdorben werde.

Sobald er fertig war, las er es Serlo und der übrigen Gesellschaft vor. Sie bezeugten sich sehr zufrieden damit; besonders machte Serlo manche günstige Bemerkung.

»Sie haben«, sagte er unter andern, »sehr richtig empfunden, daß äußere Umstände dieses Stück begleiten, aber einfacher sein müssen, als sie uns der große Dichter gegeben hat. Was außer dem Theater vorgeht, was der Zuschauer nicht sieht, was er sich vorstellen muß, ist wie ein Hintergrund,[298] vor dem die spielenden Figuren sich bewegen. Die große, einfache Aussicht auf die Flotte und Norwegen wird dem Stücke sehr gut tun; nähme man sie ganz weg, so ist es nur eine Familienszene, und der große Begriff, daß hier ein ganzes königliches Haus durch innere Verbrechen und Ungeschicklichkeiten zugrunde geht, wird nicht in seiner ganzen Würde dargestellt. Bliebe aber jener Hintergrund selbst mannigfaltig, beweglich, konfus, so täte er dem Eindrucke der Figuren Schaden.«

Wilhelm nahm nun wieder die Partie Shakespeares und zeigte, daß er für Insulaner geschrieben habe, für Engländer, die selbst im Hintergrunde nur Schiffe und Seereisen, die Küste von Frankreich und Kaper zu sehen gewohnt sind, und daß, was jenen etwas ganz Gewöhnliches sei, uns schon zerstreue und verwirre.

Serlo mußte nachgeben, und beide stimmten darin überein, daß, da das Stück nun einmal auf das deutsche Theater solle, dieser ernstere, einfachere Hintergrund für unsre Vorstellungsart am besten passen werde.

Die Rollen hatte man schon früher ausgeteilt; den Polonius übernahm Serlo, Aurelie Ophelien; Laertes war durch seinen Namen schon bezeichnet; ein junger, untersetzter, muntrer, neuangekommener Jüngling erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen des Königs und des Geistes war man in einiger Verlegenheit. Für beide Rollen war nur der alte Polterer da. Serlo schlug den Pedanten zum Könige vor, wogegen Wilhelm aber aufs äußerste protestierte. Man konnte sich nicht entschließen.

Ferner hatte Wilhelm in seinem Stücke die beiden Rollen von Rosenkranz und Güldenstern stehen lassen. »Warum haben Sie diese nicht in eine verbunden?« fragte Serlo; »diese Abbreviatur ist doch so leicht gemacht.«

»Gott bewahre mich vor solchen Verkürzungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben!« versetzte Wilhelm. »Das, was diese beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Größe. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen und Biegen, dies Jasagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dies Schwänzeln, diese Allheit[299] und Leerheit, diese rechtliche Schurkerei, diese Unfähigkeit, wie kann sie durch einen Menschen ausgedruckt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben könnte; denn sie sind bloß in Gesellschaft etwas, sie sind die Gesellschaft, und Shakespeare war sehr bescheiden und weise, daß er nur zwei solche Repräsentanten auftreten ließ. Überdies brauche ich sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem einen, guten, trefflichen Horatio kontrastiert.«

»Ich verstehe Sie«, sagte Serlo, »und wir können uns helfen. Den einen geben wir Elmiren (so nannte man die älteste Tochter des Polterers); es kann nicht schaden, wenn sie gut aussehen, und ich will die Puppen putzen und dressieren, daß es eine Lust sein soll.«

Philine freute sich außerordentlich, daß sie die Herzogin in der kleinen Komödie spielen sollte. »Das will ich so natürlich machen«, rief sie aus, »wie man in der Geschwindigkeit einen Zweiten heiratet, nachdem man den Ersten ganz außerordentlich geliebt hat. Ich hoffe, mir den größten Beifall zu erwerben, und jeder Mann soll wünschen, der Dritte zu werden.«

Aurelie machte ein verdrießliches Gesicht bei diesen Äußerungen; ihr Widerwillen gegen Philinen nahm mit jedem Tage zu.

»Es ist recht schade«, sagte Serlo, »daß wir kein Ballett haben; sonst sollten Sie mir mit Ihrem ersten und zweiten Manne ein Pas de deux tanzen, und der Alte sollte nach dem Takt einschlafen, und Ihre Füßchen und Wädchen würden sich dort hinten auf dem Kindertheater ganz aller liebst ausnehmen.«

»Von meinen Wädchen wissen Sie ja wohl nicht viel«, versetzte sie schnippisch, »und was meine Füßchen betrifft«, rief sie, indem sie schnell unter den Tisch reichte, ihre Pantöffelchen heraufholte und nebeneinander vor Serlo hinstellte: »hier sind die Stelzchen, und ich gebe Ihnen auf, niedlichere zu finden.«

»Es war Ernst!« sagte er, als er die zierlichen Halbschuhe betrachtete. Gewiß, man konnte nicht leicht etwas Artigers sehen.[300]

Sie waren Pariser Arbeit; Philine hatte sie von der Gräfin zum Geschenk erhalten, einer Dame, deren schöner Fuß berühmt war.

»Ein reizender Gegenstand!« rief Serlo; »das Herz hüpft mir, wenn ich sie ansehe.«

»Welche Verzuckungen!« sagte Philine.

»Es geht nichts über ein Paar Pantöffelchen von so feiner, schöner Arbeit«, rief Serlo; »doch ist ihr Klang noch reizender als ihr Anblick.« Er hub sie auf und ließ sie einigemal hintereinander wechselsweise auf den Tisch fallen.

»Was soll das heißen? Nur wieder her damit!« rief Philine.

»Darf ich sagen«, versetzte er mit verstellter Bescheidenheit und schalkhaftem Ernst, »wir andern Junggesellen, die wir nachts meist allein sind und uns doch wie andre Menschen fürchten und im Dunkeln uns nach Gesellschaft sehnen, besonders in Wirtshäusern und fremden Orten, wo es nicht ganz geheuer ist, wir finden es gar tröstlich, wenn ein gutherziges Kind uns Gesellschaft und Beistand leisten will. Es ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die Türe tut sich auf, man erkennt ein liebes pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbei, die Vorhänge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der liebe, der einzige Klang, wenn die Absätzchen auf den Boden aufschlagen! Je zierlicher sie sind, je feiner klingt's. Man spreche mir von Philomelen, von rauschenden Bächen, vom Säuseln der Winde und von allem, was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an das Klipp! Klapp! – Klipp! Klapp! ist das schönste Thema zu einem Rondeau, das man immer wieder von vorne zu hören wünscht.«

Philine nahm ihm die Pantoffeln aus den Händen und sagte: »Wie ich sie krumm getreten habe! Sie sind mir viel zu weit.« Dann spielte sie damit und rieb die Sohlen gegeneinander. »Was das heiß wird!« rief sie aus, indem sie die eine Sohle flach an die Wange hielt, dann wieder rieb und sie gegen Serlo hinreichte. Er war gutmütig genug, nach der Wärme zu fühlen, und »Klipp! Klapp!« rief sie, indem sie ihm einen derben Schlag mit dem Absatz versetzte, daß er schreiend[301] die Hand zurückzog. »Ich will euch lehren bei meinen Pantoffeln was anders denken!« sagte Philine lachend.

»Und ich will dich lehren alte Leute wie Kinder anführen!« rief Serlo dagegen, sprang auf, faßte sie mit Heftigkeit und raubte ihr manchen Kuß, deren jeden sie sich mit ernstlichem Widerstreben gar künstlich abzwingen ließ. Über dem Balgen fielen ihre langen Haare herunter und wickelten sich um die Gruppe, der Stuhl schlug an den Boden, und Aurelie, die von diesem Unwesen innerlich beleidigt war, stand mit Verdruß auf.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7, Hamburg 1948 ff, S. 298-302.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Wilhelm Meisters Lehrjahre
Wilhelm Meisters Lehrjahre
Wilhelm Meisters Lehrjahre: Roman
Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens: MÜNCHNER AUSGABE Band 5: Wilhelm Meisters Lehrjahre
Wilhelm Meisters Lehrjahre
Wilhelm Meisters Lehrjahre: Ein Roman (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon