Neunter Gesang

[528] Reineke war nach Hofe gelangt, er dachte die Klagen

Abzuwenden, die ihn bedrohten. Doch als er die vielen

Feinde beisammen erblickte, wie alle standen und alle

Sich zu rächen begehrten und ihn am Leben zu strafen,

Fiel ihm der Mut; er zweifelte nun, doch ging er mit Kühnheit

Grade durch alle Baronen, und Grimbart ging ihm zur Seite;

Sie gelangten zum Throne des Königs, da lispelte Grimbart:

»Seid nicht furchtsam, Reineke, diesmal; gedenket: dem Blöden

Wird das Glück nicht zuteil, der Kühne sucht die Gefahr auf

Und erfreut sich mit ihr; sie hilft ihm wieder entkommen.«

Reineke sprach: »Ihr sagt mir die Wahrheit, ich danke zum schönsten

Für den herrlichen Trost, und komm ich wieder in Freiheit,

Werd ich's gedenken.« Er sah nun umher, und viele Verwandte

Fanden sich unter der Schar, doch wenige Gönner, den meisten

Pflegt' er übel zu dienen; ja, unter den Ottern und Bibern,

Unter Großen und Kleinen trieb er sein schelmisches Wesen.

Doch entdeckt' er noch Freunde genug im Saale des Königs.


Reineke kniete vorm Throne zur Erden und sagte bedächtig:

»Gott, dem alles bekannt ist und der in Ewigkeit mächtig

Bleibt, bewahr Euch, mein Herr und König, bewahre nicht minder

Meine Frau, die Königin, immer, und beiden zusammen

Geb er Weisheit und gute Gedanken, damit sie besonnen

Recht und Unrecht erkennen; denn viele Falschheit ist jetzo

Unter den Menschen im Gange. Da scheinen viele von außen,

Was sie nicht sind. O hätte doch jeder am Vorhaupt geschrieben,

Wie er gedenkt, und säh es der König! da würde sich zeigen,[528]

Daß ich nicht lüge und daß ich Euch immer zu dienen bereit bin.

Zwar verklagen die Bösen mich heftig; sie möchten mir gerne

Schaden und Eurer Huld mich berauben, als wär ich derselben

Unwert. Aber ich kenne die strenge Gerechtigkeitsliebe

Meines Königs und Herrn, denn ihn verleitete keiner

Je die Wege des Rechtes zu schmälern; so wird es auch bleiben.«


Alles kam und drängte sich nun, ein jeglicher mußte

Reinekens Kühnheit bewundern, es wünscht' ihn jeder zu hören;

Seine Verbrechen waren bekannt, wie wollt er entrinnen?


»Reineke, Bösewicht!« sagte der König, »für diesmal erretten

Deine losen Worte dich nicht, sie helfen nicht länger

Lügen und Trug zu verkleiden, nun bist du ans Ende gekommen.

Denn du hast die Treue zu mir, ich glaube, bewiesen

Am Kaninchen und an der Krähe! Das wäre genugsam.

Aber du übest Verrat an allen Orten und Enden;

Deine Streiche sind falsch und behende, doch werden sie nicht mehr

Lange dauern, denn voll ist das Maß, ich schelte nicht länger.«


Reineke dachte: Wie wird es mir gehn? O hätt ich nur wieder

Meine Behausung erreicht! Wo will ich Mittel ersinnen?

Wie es auch geht, ich muß nun hindurch, versuchen wir alles.


»Mächtiger König, edelster Fürst!« so ließ er sich hören.

»Meint Ihr, ich habe den Tod verdient, so habt Ihr die Sache

Nicht von der rechten Seite betrachtet; drum bitt ich, Ihr wollet

Erst mich hören. Ich habe ja sonst Euch nützlich geraten,

In der Not bin ich bei Euch geblieben, wenn etliche wichen,

Die sich zwischen uns beide nun stellen zu meinem Verderben

Und die Gelegenheit nützen, wenn ich entfernt bin. Ihr möget,

Edler König, hab ich gesprochen, die Sache dann schlichten;

Werd ich schuldig befunden, so muß ich es freilich ertragen.

Wenig habt Ihr meiner gedacht, indes ich im Lande

Vieler Orten und Enden die sorglichste Wache gehalten.

Meint Ihr, ich wäre nach Hofe gekommen, wofern ich mich schuldig[529]

Wußte groß oder kleiner Vergehn? Ich würde bedächtig

Eure Gegenwart fliehn und meine Feinde vermeiden.

Nein, mich hätten gewiß aus meiner Feste nicht sollen

Alle Schätze der Welt hierher verleiten; da war ich

Frei auf eigenem Grund und Boden. Nun bin ich mir aber

Keines Übels bewußt, und also bin ich gekommen.

Eben stand ich, Wache zu halten; da brachte mein Oheim

Mir die Zeitung, ich solle nach Hof. Ich hatte von neuem,

Wie ich dem Bann mich entzöge, gedacht, darüber mit Martin

Vieles gesprochen, und er gelobte mir heilig, er wolle

Mich von dieser Bürde befrein. ›Ich werde nach Rom gehn‹,

Sagt' er, ›und nehme die Sache von nun an völlig auf meine

Schultern, geht nur nach Hofe, des Bannes werdet Ihr ledig.‹

Sehet, so hat mir Martin geraten, er muß es verstehen:

Denn der vortreffliche Bischof, Herr Ohnegrund, braucht ihn beständig;

Schon fünf Jahre dient er demselben in rechtlichen Sachen.

Und so kam ich hieher und finde Klagen auf Klagen.

Das Kaninchen, der Äugler, verleumdet mich; aber es steht nun

Reineke hier: so tret er hervor mir unter die Augen!

Denn es ist freilich was Leichtes, sich über Entfernte beklagen,

Aber man soll den Gegenteil hören, bevor man ihn richtet.

Diese falschen Gesellen, bei meiner Treue! sie haben

Gutes genossen von mir, die Krähe mit dem Kaninchen:

Denn vorgestern am Morgen in aller Frühe begegnet'

Mir das Kaninchen und grüßte mich schön; ich hatte soeben

Vor mein Schloß mich gestellt und las die Gebete des Morgens.

Und er zeigte mir an, er gehe nach Hofe; da sagt ich:

›Gott begleit Euch!‹ Er klagte darauf: ›Wie hungrig und müde

Bin ich geworden!‹ Da fragt ich ihn freundlich: ›Begehrt Ihr zu essen?‹

›Dankbar nehm ich es an‹, versetzt' er. Aber ich sagte:

›Geb ich's doch gerne.‹ So ging ich mit ihm und bracht ihm behende

Kirschen und Butter: ich pflege kein Fleisch am Mittwoch zu essen.

Und er sättigte sich mit Brot und Butter und Früchten.

Aber es trat mein Söhnchen, das jüngste, zum Tische, zu sehen,

Ob was übriggeblieben: denn Kinder lieben das Essen;[530]

Und der Knabe haschte darnach. Da schlug das Kaninchen

Hastig ihn über das Maul, es bluteten Lippen und Zähne.

Reinhart, mein andrer, sah die Begegnung und faßte den Äugler

Grad an der Kehle, spielte sein Spiel und rächte den Bruder.

Das geschah, nicht mehr und nicht minder. Ich säumte nicht lange,

Lief und strafte die Knaben und brachte mit Mühe die beiden

Auseinander. Kriegt' er was ab, so mag er es tragen,

Denn er hatte noch mehr verdient; auch wären die Jungen,

Hätt ich es übel gemeint, mit ihm wohl fertig geworden.

Und so dankt er mir nun! Ich riß ihm, sagt er, ein Ohr ab;

Ehre hat er genossen und hat ein Zeichen behalten.


Ferner kam die Krähe zu mir und klagte: die Gattin

Hab er verloren, sie habe sich leider zu Tode gegessen,

Einen ziemlichen Fisch mit allen Gräten verschlungen;

Wo es geschah, das weiß er am besten, nun sagt er: ich habe

Sie gemordet; er tat es wohl selbst, und würde man ernstlich

Ihn verhören, dürft ich es tun, er spräche wohl anders.

Denn sie fliegen, es reichet kein Sprung so hoch, in die Lüfte.


Will nun solcher verbotenen Taten mich jemand bezüchten,

Tu er's mit redlichen, gültigen Zeugen: denn also gehört sich's,

Gegen edle Männer zu rechten; ich müßt es erwarten.

Aber finden sich keine, so gibt's ein anderes Mittel.

Hier! ich bin zum Kampfe bereit! man setze den Tag an

Und den Ort. Es zeige sich dann ein würdiger Gegner,

Gleich mit mir von Geburt, ein jeder führe sein Recht aus.

Wer dann Ehre gewinnt, dem mag sie bleiben. So hat es

Immer zu Rechte gegolten, und ich verlang es nicht besser.«


Alle standen und hörten und waren über die Worte

Reinekens höchlich verwundert, die er so trotzig gesprochen.

Und es erschraken die beiden, die Krähe mit dem Kaninchen,

Räumten den Hof und trauten nicht weiter ein Wörtchen zu sprechen,

Gingen und sagten untereinander: »Es wäre nicht ratsam,

Gegen ihn weiter zu rechten. Wir möchten alles versuchen,[531]

Und wir kämen nicht aus. Wer hat's gesehen? Wir waren

Ganz allein mit dem Schelm; wer sollte zeugen? Am Ende

Bleibt der Schaden uns doch. Für alle seine Verbrechen

Warte der Henker ihm auf und lohn ihm, wie er's verdiente!

Kämpfen will er mit uns? Das möcht uns übel bekommen.

Nein, fürwahr, wir lassen es lieber. Denn falsch und behende,

Lose und tückisch kennen wir ihn. Es wären ihm wahrlich

Unser fünfe zu wenig, wir müßten es teuer bezahlen.«


Isegrim aber und Braunen war übel zumute; sie sahen

Ungern die beiden von Hofe sich schleichen. Da sagte der König:

»Hat noch jemand zu klagen, der komme! Laßt uns vernehmen!

Gestern drohten so viele, hier steht der Beklagte! Wo sind sie?«


Reineke sagte: »So pflegt es zu gehn; man klagt und beschuldigt

Diesen und jenen; doch stünd er dabei, man bliebe zu Hause.

Diese losen Verräter, die Krähe mit dem Kaninchen,

Hätten mich gern in Schande gebracht und Schaden und Strafe,

Aber sie bitten mir's ab, und ich vergebe; denn freilich,

Da ich komme, bedenken sie sich und weichen zur Seite.

Wie beschämt ich sie nicht! Ihr sehet, wie es gefährlich

Ist, die losen Verleumder entfernter Diener zu hören;

Sie verdrehen das Rechte und sind den Besten gehässig.

Andre dauern mich nur, an mir ist wenig gelegen.«


»Höre mich«, sagte der König darauf, »du loser Verräter!

Sage, was trieb dich dazu, daß du mir Lampen, den treuen,

Der mir die Briefe zu tragen pflegte, so schmählich getötet?

Hatt ich nicht alles vergeben, soviel du immer verbrochen?

Ränzel und Stab empfingst du von mir, so warst du versehen,

Solltest nach Rom und über das Meer; ich gönnte dir alles,

Und ich hoffte Beßrung von dir. Nun seh ich zum Anfang,

Wie du Lampen gemordet; es mußte Bellyn dir zum Boten

Dienen, der brachte das Haupt im Ränzel getragen und sagte

Öffentlich aus, er bringe mir Briefe, die ihr zusammen

Ausgedacht und geschrieben, er habe das Beste geraten.[532]

Und im Ränzel fand sich das Haupt, nicht mehr und nicht minder.

Mir zum Hohne tatet ihr das. Bellynen behielt ich

Gleich zum Pfande, sein Leben verlor er; nun geht es an deines.«


Reineke sagte: »Was hör ich? Ist Lampe tot? und Bellynen

Find ich nicht mehr? Was wird nun aus mir? Oh, wär ich gestorben!

Ach, mit beiden geht mir ein Schatz, der größte, verloren!

Denn ich sandt Euch durch sie Kleinode, welche nicht besser

Über der Erde sich finden. Wer sollte glauben, der Widder

Würde Lampen ermorden und Euch der Schätze berauben?

Hüte sich einer, wo niemand Gefahr und Tücke vermutet.«


Zornig hörte der König nicht aus, was Reineke sagte,

Wandte sich weg nach seinem Gemach und hatte nicht deutlich

Reinekens Rede vernommen, er dacht ihn am Leben zu strafen;

Und er fand die Königin eben in seinem Gemache

Mit Frau Rückenau stehn. Es war die Äffin besonders

König und Königin lieb. Das sollte Reineken helfen.

Unterrichtet war sie und klug und wußte zu reden;

Wo sie erschien, seh jeder auf sie und ehrte sie höchlich.

Diese merkte des Königs Verdruß und sprach mit Bedachte:

»Wenn Ihr, gnädiger Herr, auf meine Bitte zuweilen

Hörtet, gereut' es Euch nie, und Ihr vergabt mir die Kühnheit,

Wenn Ihr zürntet, ein Wort gelinder Meinung zu sagen.

Seid auch diesmal geneigt, mich anzuhören, betrifft es

Doch mein eignes Geschlecht! Wer kann die Seinen verleugnen?

Reineke, wie er auch sei, ist mein Verwandter, und soll ich,

Wie sein Betragen mir scheint, aufrichtig bekennen: ich denke,

Da er zu Rechte sich stellt, von seiner Sache das Beste.

Mußte sein Vater doch auch, den Euer Vater begünstigt,

Viel von losen Mäulern erdulden und falschen Verklägern!

Doch beschämt' er sie stets. Sobald man die Sache genauer

Untersuchte, fand es sich klar: Die tückischen Neider

Suchten Verdienste sogar als schwere Verbrechen zu deuten.

So erhielt er sich immer in größerem Ansehn bei Hof als

Braun und Isegrim jetzt: denn diesen wäre zu wünschen,[533]

Daß sie alle Beschwerden auch zu beseitigen wüßten,

Die man häufig über sie hört; allein sie verstehen

Wenig vom Rechte, so zeigt es ihr Rat, so zeigt es ihr Leben.«


Doch der König versetzte darauf: »Wie kann es Euch wundern,

Daß ich Reineken gram bin, dem Diebe, der mir vor kurzem

Lampen getötet, Bellynen verführt und frecher als jemals

Alles leugnet und sich als treuen und redlichen Diener

Anzupreisen erkühnt, indessen alle zusammen

Laute Klagen erheben und nur zu deutlich beweisen,

Wie er mein sicher Geleite verletzt und wie er mit Stehlen,

Rauben und Morden das Land und meine Getreuen beschädigt.

Nein! ich duld es nicht länger!« Dagegen sagte die Äffin:

»Freilich ist's nicht vielen gegeben, in jeglichen Fällen

Klug zu handeln und klug zu raten, und wem es gelinget,

Der erwirbt sich Vertrauen; allein es suchen die Neider

Ihm dagegen heimlich zu schaden, und werden sie zahlreich,

Treten sie öffentlich auf. So ist es Reineken mehrmals

Schon ergangen; doch werden sie nicht die Erinnrung vertilgen,

Wie er in Fällen Euch weise geraten, wenn alle verstummten.

Wißt Ihr noch, vor kurzem geschah's. Der Mann und die Schlange

Kamen vor Euch, und niemand verstund die Sache zu schlichten;

Aber Reineke fand's, Ihr lobtet ihn damals vor allen.«


Und der König versetzte nach kurzem Bedenken dagegen:

»Ich erinnre der Sache mich wohl, doch hab ich vergessen,

Wie sie zusammenhing; sie war verworren, so dünkt mich.

Wißt Ihr sie noch, so laßt sie mich hören, es macht mir Vergnügen.«

Und sie sagte: »Befiehlt es mein Herr, so soll es geschehen.


Eben sind's zwei Jahre, da kam ein Lindwurm und klagte

Stürmisch, gnädiger Herr, vor Euch: es woll ihm ein Bauer

Nicht im Rechte sich fügen, ein Mann, den zweimal das Urteil

Nicht begünstigt. Er brachte den Bauer vor Euern Gerichtshof

Und erzählte die Sache mit vielen heftigen Worten.[534]

Durch ein Loch im Zaune zu kriechen, gedachte die Schlange,

Fing sich aber im Stricke, der vor die Öffnung gelegt war;

Fester zog die Schlinge sich zu, sie hätte das Leben

Dort gelassen, da kam ihr zum Glück ein Wandrer gegangen.

Ängstlich rief sie: ›Erbarme dich meiner, und mache mich ledig!

Laß dich erbitten!‹ Da sagte der Mann: ›Ich will dich erlösen,

Denn mich jammert dein Elend; allein erst sollst du mir schwören,

Mir nichts Leides zu tun.‹ Die Schlange fand sich erbötig,

Schwur den teuersten Eid: sie wolle auf keinerlei Weise

Ihren Befreier verletzen, und so erlöste der Mann sie.


Und sie gingen ein Weilchen zusammen, da fühlte die Schlange

Schmerzlichen Hunger, sie schoß auf den Mann und wollt ihn erwürgen,

Ihn verzehren; mit Angst und Not entsprang ihr der Arme.

›Das ist mein Dank? Das hab ich verdient?‹ so rief er. ›Und hast du

Nicht geschworen den teuersten Eid?‹ Da sagte die Schlange:

›Leider nötiget mich der Hunger, ich kann mir nicht helfen;

Not erkennt kein Gebot, und so besteht es zu Rech te.‹


Da versetzte der Mann: ›So schone nur meiner so lange,

Bis wir zu Leuten kommen, die unparteiisch uns richten.‹

Und es sagte der Wurm: ›Ich will mich so lange gedulden.‹


Also gingen sie weiter und fanden über dem Wasser

Pflückebeutel, den Raben, mit seinem Sohne; man nennt ihn

Quackeler. Und die Schlange berief sie zu sich und sagte:

›Kommt und höret!‹ Es hörte die Sache der Rabe bedächtig,

Und er richtete gleich: den Mann zu essen. Er hoffte,

Selbst ein Stück zu gewinnen. Da freute die Schlange sich höchlich:

›Nun, ich habe gesiegt! es kann mir's niemand verdenken.‹

›Nein‹, versetzte der Mann, ›ich habe nicht völlig verloren;

Sollt ein Räuber zum Tode verdammen? und sollte nur einer

Richten? Ich fordere ferner Gehör, im Gange des Rechtes;

Laßt uns vor vier, vor zehn die Sache bringen und hören.‹[535]

›Gehn wir!‹ sagte die Schlange. Sie gingen, und es begegnet'

Ihnen der Wolf und der Bär, und alle traten zusammen.

Alles befürchtete nun der Mann: denn zwischen den fünfen

War es gefährlich zu stehn, und zwischen solchen Gesellen;

Ihn umringten die Schlange, der Wolf, der Bär und die Raben.

Bange war ihm genug, denn bald verglichen sich beide,

Wolf und Bär, das Urteil in dieser Maße zu fällen:

Töten dürfe die Schlange den Mann; der leidige Hunger

Kenne keine Gesetze, die Not entbinde vom Eidschwur.

Sorgen und Angst befielen den Wandrer, denn alle zusammen

Wollten sein Leben. Da schoß die Schlange mit grimmigem Zischen,

Spritzte Geifer auf ihn, und ängstlich sprang er zur Seite.

›Großes Unrecht‹, rief er, ›begehst du! Wer hat dich zum Herren

Über mein Leben gemacht?‹ Sie sprach: ›Du hast es vernommen;

Zweimal sprachen die Richter, und zweimal hast du verloren.‹

Ihr versetzte der Mann: ›Sie rauben selber und stehlen;

Ich erkenne sie nicht, wir wollen zum Könige gehen.

Mag er sprechen, ich füge mich drein, und wenn ich verliere,

Hab ich noch Übels genug, allein ich will es ertragen.‹

Spottend sagte der Wolf und der Bär: ›Du magst es versuchen,

Aber die Schlange gewinnt, sie wird's nicht besser begehren.‹

Denn sie dachten, es würden die sämtlichen Herren des Hofes

Sprechen wie sie, und gingen getrost und führten den Wandrer,

Kamen vor Euch, die Schlange, der Wolf, der Bär und die Raben;

Ja, selbdritt erschien der Wolf, er hatte zwei Kinder,

Eitelbauch hieß der eine, der andere Nimmersatt, beide

Machten dem Mann am meisten zu schaffen; sie waren gekommen,

Auch ihr Teil zu verzehren: denn sie sind immer begierig,

Heulten damals vor Euch mit unerträglicher Grobheit,

Ihr verbotet den Hof den beiden plumpen Gesellen.

Da berief sich der Mann auf Eure Gnaden, erzählte,

Wie ihn die Schlange zu töten gedenke, sie habe der Wohltat

Völlig vergessen, sie breche den Eid! So fleht' er um Rettung.

Aber die Schlange leugnete nicht: ›Es zwingt mich des Hungers

Allgewaltige Not, sie kennet keine Gesetze.‹[536]

Gnädiger Herr, da wart Ihr bekümmert. Es schien Euch die Sache

Gar bedenklich zu sein und rechtlich schwer zu entscheiden.

Denn es schien Euch hart, den guten Mann zu verdammen,

Der sich hülfreich bewiesen; allein Ihr dachtet dagegen

Auch des schmählichen Hungers. Und so berieft Ihr die Räte.

Leider war die Meinung der meisten dem Manne zum Nachteil;

Denn sie wünschten die Mahlzeit und dachten der Schlange zu helfen.

Doch Ihr sendetet Boten nach Reineken: alle die andern

Sprachen gar manches und konnten die Sache zu Rechte nicht scheiden

Reineke kam und hörte den Vortrag, Ihr legtet das Urteil

Ihm in die Hände, und wie er es spräche, so sollt es geschehen.


Reineke sprach mit gutem Bedacht: ›Ich finde vor allem

Nötig, den Ort zu besuchen, und seh ich die Schlange gebunden,

Wie der Bauer sie fand, so wird das Urteil sich geben.‹

Und man band die Schlange von neuem an selbiger Stätte,

In der Maße, wie sie der Bauer im Zaune gefunden.


Reineke sagte darauf: ›Hier ist nun jedes von beiden

Wieder im vorigen Stand, und keines hat weder gewonnen

Noch verloren; jetzt zeigt sich das Recht, so scheint mir's, von selber.

Denn beliebt es dem Manne, so mag er die Schlange noch einmal

Aus der Schlinge befrein; wo nicht, so läßt er sie hängen;

Frei, mit Ehren geht er die Straße nach seinen Geschäften.

Da sie untreu geworden, als sie die Wohltat empfangen,

Hat der Mann nun billig die Wahl. Das scheint mir des Rechtes

Wahrer Sinn; wer's besser versteht, der laß es uns hören.‹


Damals gefiel Euch das Urteil und Euren Räten zusammen;

Reineke wurde gepriesen, der Bauer dankt' Euch, und jeder

Rühmte Reinekens Klugheit, ihn rühmte die Königin selber.

Vieles wurde gesprochen: im Kriege wären noch eher

Isegrim und Braun zu gebrauchen, man fürchte sie beide

Weit und breit, sie fänden sich gern, wo alles verzehrt wird.

Groß und stark und kühn sei jeder, man könn es nicht leugnen;

Doch im Rate fehle gar oft die nötige Klugheit:[537]

Denn sie pflegen zu sehr auf ihre Stärke zu trotzen,

Kommt man ins Feld und naht sich dem Werke, da hinkt es gewaltig.

Mutiger kann man nichts sehn, als sie zu Hause sich zeigen;

Draußen liegen sie gern im Hinterhalt. Setzt es denn einmal

Tüchtige Schläge, so nimmt man sie mit, so gut als ein andrer.

Bären und Wölfe verderben das Land; es kümmert sie wenig,

Wessen Haus die Flamme verzehrt, sie pflegen sich immer

An den Kohlen zu wärmen, und sie erbarmen sich keines,

Wenn ihr Kropf sich nur füllt. Man schlürft die Eier hinunter,

Läßt den Armen die Schalen und glaubt noch redlich zu teilen.

Reineke Fuchs mit seinem Geschlecht versteht sich dagegen

Wohl auf Weisheit und Rat, und hat er nun etwas versehen,

Gnädiger Herr, so ist er kein Stein. Doch wird Euch ein andrer

Niemals besser beraten. Darum verzeiht ihm, ich bitte!«


Da versetzte der König: »Ich will es bedenken. Das Urteil

Ward gesprochen, wie Ihr erzählt, es büßte die Schlange.

Doch von Grund aus bleibt er ein Schalk, wie sollt er sich bessern?

Macht man ein Bündnis mit ihm, so bleibt man am Ende betrogen;

Denn er dreht sich so listig heraus, wer ist ihm gewachsen?

Wolf und Bär und Kater, Kaninchen und Krähe, sie sind ihm

Nicht behende genug, er bringt sie in Schaden und Schande.

Diesem behielt er ein Ohr, dem andern das Auge, das Leben

Raubt' er dem dritten! Fürwahr, ich weiß nicht, wie Ihr dem Bösen

So zu Gunsten sprecht und seine Sache verteidigt.«

»Gnädiger Herr«, versetzte die Äffin, »ich kann es nicht bergen;

Sein Geschlecht ist edel und groß, Ihr mögt es bedenken.«


Da erhub sich der König, herauszutreten, es stunden

Alle zusammen und warteten sein; er sah in dem Kreise

Viele von Reinekens nächsten Verwandten, sie waren gekommen

Ihren Vetter zu schützen, sie wären schwerlich zu nennen.

Und er sah das große Geschlecht, er sah auf der andern

Seite Reinekens Feinde: es schien der Hof sich zu teilen.[538]

Da begann der König: »So höre mich, Reineke! Kannst du

Solchen Frevel entschuld'gen, daß du mit Hülfe Bellynens

Meinen frommen Lampe getötet? und daß ihr Verwegnen

Mir sein Haupt ins Ränzel gesteckt, als wären es Briefe?

Mich zu höhnen, tatet ihr das; ich habe den einen

Schon bestraft, es büßte Bellyn; erwarte das gleiche.«


»Weh mir!« sagte Reineke drauf, »o wär ich gestorben!

Höret mich an, und wie es sich findet, so mag es geschehen:

Bin ich schuldig, so tötet mich gleich, ich werde doch nimmer

Aus der Not und Sorge mich retten, ich bleibe verloren.

Denn der Verräter Bellyn, er unterschlug mir die größten

Schätze, kein Sterblicher hat dergleichen jemals gesehen.

Ach, sie kosten Lampen das Leben! Ich hatte sie beiden

Anvertraut, nun raubte Bellyn die köstlichen Sachen.

Ließen sie sich doch wieder erforschen! Allein ich befürchte,

Niemand findet sie mehr, sie bleiben auf immer verloren.«


Aber die Äffin versetzte darauf: »Wer wollte verzweifeln?

Sind sie nur über der Erde, so ist noch Hoffnung zu schöpfen.

Früh und späte wollen wir gehn und Laien und Pfaffen

Emsig fragen; doch zeiget uns an, wie waren die Schätze?«


Reineke sagte: »Sie waren so köstlich, wir finden sie nimmer;

Wer sie besitzt, verwahrt sie gewiß. Wie wird sich darüber

Nicht Frau Ermelyn quälen! Sie wird mir's niemals verzeihen.

Denn sie mißriet mir, den beiden das köstliche Kleinod zu geben.

Nun erfindet man Lügen auf mich und will mich verklagen;

Doch ich verfechte mein Recht, erwarte das Urteil, und werd ich

Losgesprochen, so reis ich umher durch Länder und Reiche,

Suche die Schätze zu schaffen, und sollt ich mein Leben verlieren.«
[539]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 528-540.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Reineke Fuchs
Goethes Werke: Band II. West-östlicher Divan. Aus fremden Sprachen. Epische Dichtungen. Hermann und Dorothea. Achilleïs. Reineke Fuchs
Reineke Fuchs
Reineke Fuchs
Reineke Fuchs : in zwölf Gesängen.
Reineke Fuchs. In zwölf Gesängen

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon