Elftes Kapitel

[597] Als es nach vier Uhr war, öffnete Sachar vorsichtig und geräuschlos die Vorzimmertür und ging auf den Fußspitzen in sein Zimmer; dort trat er an die Tür, die ins Arbeitszimmer des Herrn führte, legte zuerst sein Ohr an und hielt dann das Auge an das Schlüsselloch.

Im Arbeitszimmer ertönte ein gleichmäßiges Schnarchen.

»Er schläft«, flüsterte er; »ich muß ihn aufwecken; es ist bald halb fünf Uhr.«

Er hüstelte und trat ins Zimmer.

»Ilja Iljitsch! Ilja Iljitsch!« begann er leise an Oblomows Kopfende.

Das Schnarchen dauerte fort.

»Wie er schläft!« sagte Sachar. »Wie eine Mauer!«

»Ilja Iljitsch!«

Sachar faßte Oblomow leise am Ärmel.

»Stehen Sie auf. Es ist halb fünf.«

Ilja Iljitsch brummte nur etwas als Antwort, erwachte aber nicht.

»Stehen Sie doch auf, Ilja Iljitsch! Was ist das für eine Schande!« sagte Sachar, seine Stimme erhebend.

Er erhielt keine Antwort.

»Ilja Iljitsch!« sagte Sachar, den Herrn beim Ärmel fassend.

Oblomow wandte ein wenig den Kopf um und richtete auf Sachar mit Mühe das eine Auge, das ganz paralytisch aussah.

»Wer ist hier?« fragte er mit heiserer Summe.

»Ich bin es ja. Stehen Sie auf!«[598]

»Geh weg!« brummte Ilja Iljitsch, sich wieder in tiefen Schlaf versenkend. Anstatt des Schnarchens ertönte jetzt ein Pfeifen durch die Nase. Sachar zog ihn am Rockschoße.

»Was willst du?« fragte Oblomow drohend und öffnete auf einmal beide Augen.

»Sie haben mir befohlen, Sie aufzuwecken.«

»Ja, ich weiß. Du hast deine Pflicht erfüllt, und geh jetzt fort. Das übrige geht mich an.«

»Ich gehe nicht fort«, sagte Sachar, ihn wieder beim Ärmel packend.

»Aber so rühr mich doch nicht an!« begann Ilja Iljitsch sanft, steckte den Kopf in die Kissen und begann wieder zu schnarchen.

»Das geht nicht, Ilja Iljitsch«, sagte Sachar. »Ich wäre selbst froh; es geht aber unmöglich!«

Er faßte den Herrn wieder an.

»So tu mir doch den Gefallen und störe mich nicht«, sagte Oblomow überzeugend und öffnete die Augen.

»Ja, ich soll Ihnen den Gefallen tun, und dann werden Sie selbst darüber schimpfen, daß ich Sie nicht aufgeweckt habe ...«

»Ach du mein Gott, was das für ein Mensch ist!« sagte Oblomow. »So laß mich doch nur einen Augenblick schlafen; was ist denn das, ein Augenblick? Ich weiß selbst ...«

Ilja Iljitsch verstummte, plötzlich vom Schlaf überwältigt.

»Du kannst nichts als schlafen«, sagte Sachar, der überzeugt war, daß der Herr ihn nicht hörte. »Wie er schläft, wie ein Holzklotz! Wozu bist du nur auf die Welt gekommen?«

»Man sagt dir, du sollst aufstehen! ...« begann Sachar zu brüllen.

»Was? Was?« rief Oblomow drohend aus und hob den Kopf in die Höhe.

»Warum stehen Sie nicht auf, gnädiger Herr!« antwortete Sachar sanft.

»Nein, was hast du gesagt – he? Wie wagst du es nur, he?«[599]

»Was denn?«

»So grob zu sprechen?«

»Das hat Ihnen geträumt ... bei Gott, es hat Ihnen geträumt.«

»Glaubst du, ich schlafe? Ich schlafe nicht, ich höre alles ...«

Und dabei schlief er schon.

»Ach du!« sagte Sachar verzweifelt. »Was liegst du wie ein Klotz da? Es ekelt einen ja, dich anzuschauen. Schaut nur her, ihr lieben Leute! ... Pfui!«

»Stehen Sie auf, stehen Sie auf«, sagte er plötzlich mit erschrockener Stimme, »Ilja Iljitsch! Schauen Sie einmal, was um Sie her vorgeht ...«

Oblomow hob rasch den Kopf, blickte um sich und legte sich tief seufzend wieder hin.

»Laß mich in Ruh'!« sagte er würdevoll. »Ich habe dir befohlen, mich aufzuwecken, jetzt hebe ich diesen Befehl wieder auf – hörst du? Ich werde selbst aufwachen, wenn es mir einfällt.«

Manchmal ließ ihn Sachar in Ruh', indem er sagte: »Nun schlafe, zum Teufel auch!« Manchmal aber gab er nicht nach, was er auch jetzt tat.

»Stehen Sie auf, stehen Sie auf«, brüllte er aus Leibeskräften und packte Oblomow mit beiden Händen beim Rockschoße und beim Ärmel. Oblomow stand plötzlich unerwartet auf und stürzte auf Sachar los.

»Wart nur, ich werde dich lehren, wie man den Herrn stört, wenn er schlafen will!« sagte er.

Sachar rannte, so schnell er konnte, von ihm fort, doch beim dritten Schritt hatte Oblomow den Schlaf ganz von sich abgeschüttelt und begann zu gähnen und sich zu strecken.

»Gib mir ... Kwaß ...« sagte er durch das Gähnen hindurch.

Jetzt brach jemand hinter Sachars Rücken in helles Gelächter aus. Beide wandten sich um.

»Stolz! Stolz!« schrie Oblomow entzückt, auf den Gast zustürzend.[600]

»Andrej Iwanitsch!« sagte Sachar grinsend.

Und Stolz fuhr fort, sich vor Lachen zu schütteln; er hatte die ganze vorhergehende Szene mit angesehen.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 597-601.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
Oblomow

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon