Fünftes Kapitel

[972] Mein Gott! Wie düster und trostlos sah es anderthalb Jahre nach Oblomows Namenstag in seiner Wohnung aus, als Stolz zu ihm unerwartet zum Essen kam. Auch Ilja Iljitsch selbst war aufgedunsen, und in seinen Augen hatte sich Langeweile gegraben, die wie eine Krankheit von dort hervorblickte. Er ging eine Weile im Zimmer herum, legte sich hin und schaute auf den Plafond; dann nahm er ein Buch von der Etagere, öffnete es, überflog ein paar Zeilen mit den Augen, gähnte und begann mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Sachar war noch plumper und unordentlicher geworden; die Ellbogen seines Rockes waren geflickt, er sah so arm und hungrig aus, als ob er wenig zu essen habe, wenig schlafe und für drei arbeite. Oblomows Schlafrock war abgenützt und ging aus den Fugen, so sorgfältig man seine Löcher auch zunähte; er hätte sich längst einen neuen anschaffen sollen. Die Decke auf dem Bett sah auch ganz abgenützt aus und wies hie und da Flicken auf; die Vorhänge an den Fenstern waren längst verblichen und wirkten, trotzdem sie gewaschen waren, wie Fetzen. Sachar brachte ein altes Tischtuch herein, bedeckte damit den halben Tisch auf der Seite, an der Oblomow saß, brachte dann vorsichtig, sich auf die Zunge beißend, das Gedeck und eine Karaffe mit Schnaps herein, legte das Brot hin und ging. Die Tür der Hausfrau öffnete sich, und Agafja Matwejewna kam rasch herein, eine Pfanne mit einer zischenden Eierspeise tragend.

Auch sie hatte sich furchtbar und nicht zu ihrem Vorteil verändert. Sie war sehr abgemagert. Sie hatte keine[973] runden, weißen, weder errötenden noch erbleichenden Wangen mehr; ihre dünnen Augenbrauen glänzten nicht; ihre Augen waren eingefallen. Sie trug ein altes Kattunkleid; ihre Hände waren von der Arbeit, vom Feuer oder von beidem rot und grob geworden. Akulina war nicht mehr im Hause. Anissja hatte in der Küche und im Gemüsegarten zu tun, sie pflegte die Hühner, scheuerte die Fußböden und wusch die Wäsche; sie konnte allein nicht fertig werden, und Agafja Matwejewna mußte, ob sie wollte oder nicht, selbst in der Küche arbeiten. Sie stieß, siebte und rieb jetzt wenig, denn es wurde wenig Kaffee, Zimt und Mandeln verwendet, und sie dachte nicht einmal mehr an ihre Spitzen. Jetzt mußte sie oft Zwiebeln schneiden und Meerrettich und dergleichen Gewürze reiben. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich tiefe Traurigkeit wider. Doch sie seufzte nicht ihretwegen, nicht weil sie keinen Kaffee zum Trinken hatte, sie grämte sich nicht, weil sie keine Gelegenheit hatte, sich zu betätigen, in größerem Umfange zu wirtschaften, Zimt zu stoßen, Vanille in die Soße zu legen oder dicken Rahm zu sieden, sondern weil Ilja Iljitsch schon das zweite Jahr das alles nicht bekam, weil man den Kaffee für ihn nicht pudweise aus dem besten Geschäft holte, sondern für ein paar Kopeken in dem Krämerladen kaufte; weil der Rahm nicht von einer Finnin gebracht wurde, sondern aus demselben Laden geholt werden mußte; weil sie ihm statt eines saftigen Kotelettes eine mit hartem, altem Schinken aus dem Krämerladen zubereitete Eierspeise brachte. Was bedeutete das? Nichts anderes, als daß die aus Oblomowka eintreffenden Gelder, die Stolz regelmäßig schickte, zur Deckung des Schuldscheines, den Oblomow der Hausfrau ausgestellt hatte, verwendet wurden. Die »gesetzliche Sache« des Bruders war über alle Erwartungen gelungen. Bei der ersten Andeutung Tarantjews auf die skandalöse Angelegenheit war Ilja Iljitsch errötet und verlegen geworden; dann gingen sie zum Ausgleich über, tranken alle drei, und Oblomow unterschrieb den Schuldschein, der für vier Jahre ausgestellt[974] wurde; nach einem Monat unterschrieb Agafja Matwejewna einen ebensolchen Brief auf den Namen des Bruders, ohne zu ahnen, was es war und warum sie es tat. Der Bruder sagte, es sei ein notwendiges Dokument, das sich auf das Haus beziehe, und befahl ihr, zu schreiben: »Diesen Schuldschein hat Frau Soundso (Rang, Vor- und Zuname) eigenhändig unterschrieben.«

Es machte sie nur verwirrt, daß sie so viel schreiben mußte, und sie bat den Bruder, lieber Wanjuscha schreiben zu lassen, er könnte das so gut, sie selbst würde aber vielleicht noch etwas Unrechtes hineinschreiben. Doch der Bruder bestand energisch darauf, und sie unterschrieb mit schiefen und großen Buchstaben. Seitdem war nie mehr die Rede davon. Oblomow tröstete sich beim Unterschreiben teilweise damit, daß dieses Geld den Waisen zugute kommen würde, und dann am nächsten Tage, als ihm der Kopf klar war, dachte er beschämt an diese Angelegenheit, bestrebte sich, sie zu vergessen, vermied es, mit dem Bruder zusammenzukommen, und wenn Tarantjew davon zu sprechen begann, drohte er, sofort aus der Wohnung auszuziehen und aufs Gut zu reisen. Als dann das Geld aus dem Gut eintraf, kam der Bruder zu ihm und erklärte, es wäre für Ilja Iljitsch leichter, die Auszahlung der Schuld sofort aus den Einkünften zu beginnen, dann wäre die Schuld in drei Jahren beglichen, während beim Eintreten des Termins, an dem der Schein eingelöst werden mußte, das Gut öffentlich versteigert werden müßte, da Oblomow kein bares Geld besaß und auch keine Aussichten darauf hatte. Oblomow begriff, in welche Falle man ihn gelockt hatte, als alles, was Stolz schickte, zur Bezahlung der Schuld verwendet wurde und ihm nur eine kleine Summe zum Leben übrigblieb. Der Bruder beeilte sich, diese freiwillige Abmachung mit seinem Schuldner auszunützen und die Schuld innerhalb zweier Jahre einzuheben, damit ihm nicht etwas in den Weg kam und ihn daran hinderte; infolgedessen geriet Oblomow plötzlich in Verlegenheit. Zuerst bemerkte er es nicht sehr, da er die Gewohnheit hatte, nicht zu[975] wissen, wieviel er in seiner Tasche hatte; aber dann fiel es Iwan Matwejewitsch ein, um eine Kaufmannstochter anzuhalten; er mietete eine Wohnung für sich und übersiedelte. Die wirtschaftliche Tätigkeit von Agafja Matwejewna wurde plötzlich eingeschränkt; die Störe, das schneeweiße Kalbfleisch und die Kapaune begannen in der anderen Küche, in Muchojarows neuer Wohnung zu erscheinen. Dort brannte abends Licht und versammelten sich die künftigen Verwandten des Bruders, seine Kollegen und Tarantjew. Alles ging dort hinüber. Agafja Matwejewna und Anissja blieben mit offenem Mund und müßigen Händen bei leeren Pfannen und Töpfen zurück. Agafja Matwejewna erfuhr zum erstenmal, daß sie nur ein Haus, einen Gemüsegarten und Hühner besaß, und daß weder Zimt noch Vanille bei ihr wuchsen; sie sah, daß die Verkäufer auf dem Markt nach und nach aufhörten, sich vor ihr tief zu verbeugen, und daß der ehrfurchtsvolle Gruß und das Lächeln auf die neue, dicke, elegant gekleidete Köchin ihres Bruders übergingen. Oblomow überließ der Hausfrau das ganze Geld, das der Bruder ihm übriggelassen hatte, und sie mahlte drei, vier Monate lang, ohne sich Gedanken zu machen, pudweise Kaffee, stieß Zimt, briet Kalbfleisch und Kapaune und setzte das bis zum Tag fort, an dem sie ihre letzten siebzig Kopeken ausgegeben hatte und ihm mitteilte, sie hätte kein Geld mehr. Er drehte sich bei dieser Nachricht dreimal auf dem Sofa um, schaute dann in seine Lade; es war nichts drin. Er wollte sich erinnern, worauf er es ausgegeben hatte, ihm fiel aber nichts ein; er tastete mit der Hand auf dem Tisch herum, ob es keine Kupfermünze gab, fragte Sachar, doch dieser wußte nichts. Sie ging zum Bruder hin und sagte naiv, es wäre kein Geld im Hause.

»Wo habt ihr, der Edelmann und du, die tausend Rubel hingetan, die ich ihm zum Leben gegeben habe?« fragte er. »Wo soll ich das Geld hernehmen? Du weißt, ich gehe eine Ehe ein, ich kann nicht zwei Familien erhalten, und du mußt dich mit deinem gnädigen Herrn nach der Decke strecken.«[976]

»Warum werfen Sie mir den Herrn vor, Bruder?« sagte sie, »was hat er Ihnen getan? Er rührt niemanden an und lebt für sich allein. Nicht ich, sondern Sie und Michej Andreitsch habt ihn in die Wohnung gelockt.«

Er gab ihr zehn Rubel und sagte, er besäße nicht mehr. Als er sich die Sache aber mit dem Gevatter in der Kneipe überlegt hatte, beschloß er, man dürfe die Schwester und Oblomow nicht ihrem Schicksal überlassen, die Sache könnte sonst noch bis zu Stolz dringen, dieser würde kommen, sich über alles erkundigen, und womöglich alles umändern, so daß sie nicht Zeit hätten, die Schuld einzuheben, obwohl das »eine gesetzliche Sache« war; es war ein so durchtriebener Deutscher! Er begann ihnen fünfzig Rubel monatlich zu geben und nahm sich vor, dieses Geld aus Oblomows Einkünften im dritten Jahre zurückzunehmen, dabei erklärte er aber der Schwester und gab ihr sein Wort darauf, daß er auch nicht eine Kopeke mehr hergeben würde, und rechnete ihr vor, was für eine Kost sie sich erlauben dürften, wie sie die Ausgaben verringern sollten, bestimmte sogar, welche Gerichte sie kochen sollte, rechnete aus, wieviel sie für die Hühner und für das Kraut bekommen konnte, und entschied, daß man für alles das sehr gut leben konnte.

Agafja Matwejewna dachte zum erstenmal im Leben über etwas anderes als über die Wirtschaft nach und weinte zum erstenmal nicht aus Ärger über Akulina, weil sie Geschirr zerschlagen hatte, und nicht, weil der Bruder über einen zu wenig gekochten Fisch schimpfte; sie blickte zum ersten Male drohender Not, die aber nicht sie, sondern Ilja Iljitsch bedrohte, in die Augen. Wie würde dieser Edelmann (überlegte sie sich) statt Spargel – Rüben mit Butter, statt Haselhühner – Hammelfleisch, statt Forellen und bernsteinfarbenes Störfleisch – gesalzenen Zander und vielleicht Sulz aus dem Krämerladen essen? ... Entsetzlich! Sie dachte die Sache nicht bis zu Ende, sondern zog sich eilig an, nahm einen Wagen und fuhr, trotzdem es weder Weihnachten noch Ostern war und kein Familienessen stattfand, früh des Morgens[977] zu den Verwandten ihres Mannes, von Sorge erfüllt, hin, um an sie in ungewohnten Worten die Frage zu richten, was sie tun sollte, und um bei ihnen Geld zu leihen. Sie hatten viel davon, sie würden ihr sofort welches geben, wenn sie erfuhren, daß es für Ilja Iljitsch war. Wenn es sich um Tee oder Kaffee für sie selbst, um Schuhe und Kleider für die Kinder oder um ähnliche Launen gehandelt hätte, würde sie kein Wort gesagt haben, sie brauchte es aber in höchster Not, wo es bis ans Messer ging: um Ilja Iljitsch Spargel und Haselhühner zu kaufen, er liebte auch so französische Erbsen ... Man war dort aber erstaunt und gab ihr kein Geld, sondern sagte, daß, wenn Ilja Iljitsch irgendwelche Gold- oder Silbersachen und sogar Pelz hatte, man es versetzen konnte und daß es solche Wohltäter gab, welche den dritten Teil der gebetenen Summe vorstreckten, bis er wieder Geld aus dem Gute bekam. Dieser praktische Rat würde zu einer anderen Zeit an der genialen Hausfrau vorübergeflogen sein, ohne ihre Gedanken irgendwie zu berühren, und es würde kein Mittel gegeben haben, ihr das klarzumachen; jetzt faßte sie alles mit dem Verstande des Herzens auf und wog ... ihre Perlen, die sie als Mitgift bekommen hatte. Ilja Iljitsch trank, ohne etwas zu ahnen, am nächsten Tage Johannisbeerschnaps, aß ausgezeichneten Lachs, sein geliebtes Gekröse und ein weißes, frisches Haselhuhn dazu. Agafja Matwejewna und ihre Kinder aßen mit den Dienstboten zusammen Schtschi und Brei, und sie trank, nur um Ilja Iljitsch Gesellschaft zu leisten, zwei Schalen Kaffee. Bald holte sie aus einem gewissen Koffer ihre Kette hervor, dann das Silber und den Pelz ... Dann kam der Zeitpunkt, in dem das Geld aus dem Gute kam; Oblomow gab ihr das ganze. Sie löste die Perlen ein und bezahlte die Zinsen für die Halskette, das Silber und den Pelz, begann ihm wieder Spargel und Haselhühner zu kochen und trank nur seinetwegen Kaffee. Die Perlen wurden wieder auf ihren Platz hingelegt. So spannte sie von Woche zu Woche ihre Kräfte an, quälte sich ab und tat alles, was sie konnte; sie hatte ihren Schal und das[978] Sonntagskleid verkauft, trug jetzt immer ihr altes Kattunkleid mit den kurzen Ärmeln und deckte sich am Sonntag den Hals mit einem alten, abgetragenen Tuche zu.

Darum war sie abgemagert, hatte eingefallene Augen und brachte Ilja Iljitsch eigenhändig das Frühstück. Sie hatte sogar die Kraft, eine fröhliche Miene aufzusetzen, wenn Oblomow ihr erklärte, morgen würde Tarantjew, Alexejew oder Iwan Gerassimowitsch zu ihm zu Mittag kommen. Es erschien ein schmackhaftes, gut serviertes Essen. Sie machte dem Gastgeber keine Schande. Aber wie mußte sie sich aufregen und herumlaufen, wieviel Bitten mußte sie an den Krämer richten, und wieviel schlaflose Nächte und Tränen verursachten ihr diese Sorgen! Wie tief mußte sie sich in die Aufregungen des Lebens versenken und wie gut lernte sie die Tage des Glücks und Unglücks kennen! Doch sie liebte dieses Leben und würde es trotz ihrer Tränen und Sorgen nicht gegen das frühere, stille Dasein eingetauscht haben, das sie geführt hatte, bevor sie Oblomow kannte, als sie mit Würde inmitten von gefüllten, knisternden und zischenden Töpfen, Pfannen und Kasserolen herrschte und Akulina und den Hausbesorger befehligte. Sie fuhr sogar vor Entsetzen zusammen, wenn ihr der Gedanke an den Tod kam, trotzdem der Tod ja mit einem Schlage ihren nie trocknenden Tränen, dem täglichen Herumlaufen und den schlaflosen Nächten ein Ende gemacht hätte.

Ilja Iljitsch frühstückte, hörte zu, wie Mascha Französisch las, saß eine Weile in Agafja Matwejewnas Zimmer und schaute zu, wie sie Wanjas Rock ausbesserte, indem sie ihn zehnmal von einer Seite auf die andere wandte und zu gleicher Zeit immerwährend in der Küche nachsehen lief, wie das Hammelfleisch, das zum Mittagessen bestimmt war, briet und ob es nicht Zeit sei, die Fischsuppe zu kochen.

»Warum bemühen Sie sich so?« sagte Oblomow, »lassen Sie das doch!«

»Wer wird denn für alles sorgen, wenn ich es nicht tue?« sagte sie, »Ich werde nur noch zwei Flicken auflegen, und[979] dann muß ich die Fischsuppe kochen. Was für ein schlimmer Knabe dieser Wanja ist! Ich habe ihm erst vorige Woche den Rock ausgebessert, und er hat ihn wieder zerrissen! Was lachst du?« wandte sie sich an Wanja, der in Hosen und im Hemd und nur mit einem Hosenträger am Tische saß. »Ich werde dir das bis zum Morgen nicht ausbessern, dann kannst du nicht zum Tor hinlaufen. Du hast gewiß gerauft, und die Kinder haben ihn dir zerrissen. – Gestehe nur!«

»Nein, Mamachen, er ist von selbst zerrissen!« sagte Wanja.

»Wisch dir die Nase ab, siehst du denn nicht«, bemerkte sie, ihm das Tuch hinwerfend.

Wanjuscha kicherte, wischte sich aber die Nase nicht ab.

»Warten Sie nur, bis ich das Geld aus dem Gut bekomme, dann lasse ich ihm zwei Anzüge nähen«, sprach Oblomow dazwischen, »einen blauen, und nächstes Jahr, wenn er ins Gymnasium eintritt, eine Uniform.«

»Er kann noch den alten tragen«, sagte Agafja Matwejewna, »und das Geld brauchen wir ja für die Wirtschaft. Ich werde für Sie dann Pökelfleisch und Eingesottenes vorbereiten. Ich muß nachsehen, ob Anissja den Rahm gebracht hat ...«

Sie erhob sich.

»Was haben wir heute?«

»Fischsuppe von Barschen, gebratenes Hammelfleisch und Obstkuchen.«

Oblomow schwieg. Plötzlich rollte ein Wagen heran, man klopfte an die Pforte, der Hund begann zu bellen und an der Kette zu zerren. Oblomow ging in sein Zimmer, da er glaubte, es wäre jemand zur Hausfrau gekommen, der Fleischer, der Gemüsehändler oder sonst jemand. Ein solcher Besuch hatte gewöhnlich die Bitte um Geld, die Absage der Hausfrau, die Drohungen von seiten des Verkäufers, die Bitte, zu warten, von seiten der Hausfrau, dann Schimpfen, Zuschlagen der Tür, der Pforte und wildes Bellen und Zerren des Hundes an der Kette –[980] alles in allem eine unangenehme Szene im Gefolge. Es war eben ein Wagen gekommen – was konnte das bedeuten? Die Fleischer und Gemüsehändler fuhren nicht im Wagen. Plötzlich lief die Hausfrau erschrocken zu ihm herein.

»Zu Ihnen kommt ein Gast«, sagte sie.

»Wer denn? Tarantjew oder Alexejew?«

»Nein, nein, der, welcher am Iljatage bei Ihnen gegessen hat.«

»Stolz?« fragte Oblomow, unruhig um sich blickend, »wohin könnte ich gehen, mein Gott! Was wird er sagen, wenn er sieht ... Sagen Sie, daß ich fort bin!« setzte er eilig hinzu und ging in das Zimmer der Hausfrau.

Anissja kam gerade zur rechten Zeit, um den Gast zu empfangen. Agafja Matwejewna hatte ihr Oblomows Befehl übermittelt. Stolz glaubte ihr, wunderte sich nur darüber, daß Oblomow nicht zu Hause war.

»Nun, so sage, daß ich in zwei Stunden zum Mittagessen komme!« sagte er und ging in den Park, der sich in der Nähe befand.

»Er wird mit uns essen!« teilte Anissja erschrocken mit.

»Er wird mit uns essen!« wiederholte Agafja Matwejewna ängstlich Oblomow.

»Man muß ein anderes Mittagessen vorbereiten«, beschloß er nach einem Schweigen.

Sie richtete auf ihn einen entsetzten Blick. Sie besaß nur einen halben Rubel, und es blieben noch zehn Tage bis zum ersten, da sie das Geld vom Bruder bekam. Auf Borg wollte niemand etwas geben.

»Wir haben nicht genug Zeit, Ilja Iljitsch«, bemerkte sie schüchtern, »er soll das essen, was da ist ...«

»Er ißt das nicht, Agafja Matwejewna; er kann keine Fischsuppe ausstehen, und wenn sie sogar aus Sterlett gemacht ist; er nimmt auch nie Hammelfleisch in den Mund.«

»Man könnte in der Wursthandlung Zunge nehmen?« fragte sie plötzlich, gleichsam einer Eingebung folgend. »Das ist hier in der Nähe.«[981]

»Das ist gut, das könnte man, und lassen Sie irgendein Gemüse, vielleicht frische Bohnen, dazu reichen ...«

Bohnen kosten achtzig Kopeken das Pfund! stieg es in ihr auf, kam aber nicht über die Lippen.

»Gut, ich werde es besorgen ...« sagte sie und beschloß, die Bohnen durch Kohl zu ersetzen.

»Lassen Sie ein Pfund Schweizer Käse holen!« kommandierte er, da er nicht wußte, wie es um Agafja Matwejewnas Geldbeutel bestellt war. »Sonst nichts! Ich werde um Entschuldigung bitten und sagen, daß wir ihn nicht erwartet haben.«

Sie wollte gehen.

»Und Wein!« fiel es ihm plötzlich ein.

Sie richtete auf ihn wieder einen entsetzten Blick.

»Man muß Lafitte holen lassen!« schloß er kaltblütig.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 972-982.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
Oblomow

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon