Neuntes Kapitel

[1033] Friede und Stille ruhen über der ungepflasterten Wiborgskajastraße, über ihren hölzernen Trottoirs, den spärlichen Gärten und den mit Brennesseln überwucherten Rinnsteinen, wo unter dem Zaun irgendeine Ziege mit einem abgerissenen Strick um den Hals fleißig Gras zupft oder stumpf hindämmert, wo um die Mittagsstunde die geckenhaften hohen Absätze eines über das Trottoir gehenden Schreibers vorüberstampfen, sich an dem Fenster ein Tüllvorhang bewegt und zwischen den Geranien eine Beamtenfrau hervorschaut, oder es erscheint plötzlich über dem Gartenzaun für einen Augenblick ein lustiges, frisches Mädchengesicht, um sofort wieder zu verschwinden; gleich darauf taucht ein zweites, ebensolches Gesicht auf und verschwindet auf dieselbe Weise, dann erscheint wieder das erste und wird vom zweiten abgelöst, und es ertönt das Kichern und Lachen der sich schaukelnden Mädchen.

Auch im Hause der Pschenizina ist alles still. Wenn man auf den Hof tritt, stößt man auf eine lebende Idylle: die Hühner und Hähne laufen geschäftig hin und her und verstecken sich in die Winkel; der Hund beginnt an der Kette zu zerren und wütend zu bellen: Akulina hört die Kuh zu melken auf, der Hausmeister hält beim Holzhacken inne, und beide blicken neugierig den Besucher an. »Wen wünschen Sie?« fragt der Hausbesorger und zeigt, wenn er den Namen Ilja Iljitsch oder der Hausfrau vernimmt, schweigend auf den Hauseingang hin und fängt wieder Holz zu hacken an, während der Besucher über den reinen, mit Sand bestreuten Weg zur Stiege geht,[1034] deren Stufen mit einem einfachen, reinen Teppich bedeckt sind, und an dem blank geputzten Messinggriff der Klingel zieht, wonach ihm Anissja, die Kinder, manchmal die Hausfrau selbst oder Sachar, dieser aber zu allerletzt, öffnet.

Alles im Hause der Pschenizina wies auf eine Fülle und einen Umfang der Wirtschaft hin, die dort auch zu der Zeit, als Agafja Matwejewna mit ihrem Bruder zusammen wohnte, nicht zu sehen waren. Die Küche, die Vorratskammern und die Kredenz – alles war mit Geschirrbrettern angefüllt, auf denen große und kleine, runde und ovale Platten, Saucieren, Tassen und Berge von Tellern, von gußeisernen, kupfernen und irdenen Töpfen standen. In den Schränken lag das Silber der Hausfrau, das längst eingelöst und nie wieder versetzt wurde, und das von Oblomow. Dann waren dort ganze Reihen von riesengroßen, bauchigen und winzigen Teekannen und ein paar Reihen von einfachen, bemalten, vergoldeten, mit Sprüchen und flammenden Herzen und mit Chinesen verzierten Porzellantassen aufgestellt. Daneben standen Glasbehälter für Kaffee, Zimt, Vanille, Kristallschüsseln, Öl- und Essigflaschen. Außerdem waren ganze Bretter mit Paketen, Flaschen und Schächtelchen mit Hausmitteln, Kräutern, Wasser, Pflastern, Spiritus, Kampfer, mit Pulvern und Räucherkerzen bedeckt; dabei befand sich Seife, Putzmittel für Spitzen und Flecken usw. usw., alles, was man bei jeder sorgsamen Hausfrau in jedem beliebigen Hause in der Provinz vorfindet. Wenn Agafja Matwejewna plötzlich den mit diesen Gegenständen gefüllten Schrank öffnet, kann sie selbst dem Bukett all dieser narkotischen Gerüche nicht widerstehen und wendet im ersten Augenblick das Gesicht zur Seite hin.

In der Vorratskammer hingen an der Decke hin, um vor den Mäusen geschützt zu sein, ganze Schinkenkeulen, Käse, Zuckerhüte, gedörrte Fische, Säcke mit getrockneten Pilzen und mit bei einem Finnen gekauften Nüssen. Auf dem Fußboden standen Kübel mit Butter, große, zugedeckte Töpfe mit Rahm, Körbe mit Eiern und noch[1035] tausend andere Sachen! Man müßte über die Feder eines Homer verfügen, um alles, was in den Ecken und auf den Wandbrettern dieser kleinen Arche des häuslichen Lebens versammelt war, genau und voll wiederzugeben. Die Küche war das wahre Palladium der Tätigkeit der großen Hausfrau und ihrer würdigen Stütze Anissja. Alles befand sich im Hause bei der Hand und auf seinem Platz; man könnte sagen, daß überall Ordnung und Reinlichkeit herrschten, wenn es im Hause nicht eine Ecke gegeben hätte, wohin niemals weder ein Lichtstrahl noch ein frischer Lufthauch noch das Auge der Hausfrau noch die flinke, alles reinigende Hand Anissjas drang. Das war Sachars Ecke oder Nest. Seine Kammer besaß kein Fenster, und die ewige Dunkelheit begünstigte das Verwandeln dieser menschlichen Wohnung in eine Höhle. Wenn Sachar dort manchmal die Hausfrau mit irgendwelchen Verbesserungs- und Reinigungsplänen antraf, erklärte er resolut, es sei keine weibliche Beschäftigung, die Bürsten, die Wichse und die Stiefel zu ordnen, es gehe niemand etwas an, weshalb seine Kleider in einem Haufen auf dem Fußboden lagen und sein Bett sich im Staub hinter dem Ofen befand, daß ja er und nicht sie diese Kleider trug und auf diesem Bette schlief. Was aber den Besen, die Bretter, die beiden Ziegelsteine, den Boden eines Fasses und die Holzstücke betraf, die er in seinem Zimmer hatte, könnte er ohne dieselben in der Wirtschaft nicht auskommen; er erklärte aber niemals, wozu er das alles verwendete; außerdem meinte er, daß der Staub und die Spinnen ihn nicht stören, daß er übrigens seine Nase nicht in ihre Küche steckte und folglich auch nicht wünschte, daß sie sich um ihn kümmerten. Als er einmal Anissja bei sich antraf, überschüttete er sie mit solcher Verachtung und bedrohte ihre Brust so ernsthaft mit den Ellbogen, daß sie sich nie mehr zu ihm hineintraute. Als die Angelegenheit der höheren Instanz, Ilja Iljitschs Entscheidung, überlassen wurde, ging dieser hin, um die Sache anzuschauen und diesbezüglich strenge Befehle zu erlassen, nachdem er aber zu Sachar den Kopf hineingesteckt[1036] und für einen Augenblick alles, was sich dort befand, in Augenschein genommen hatte, spuckte er nur aus und sagte kein Wort. »Nun, was habt ihr erreicht?« sagte Sachar zu Agafja Matwejewna und zu Anissja, die mit Ilja Iljitsch gekommen waren und durch dessen Verwendung irgendeine Reform zu erreichen hofften. Dann lächelte er auf seine Art, so daß die Brauen und der Backenbart sich seitwärts auseinanderschoben.

In allen übrigen Zimmern war es hell, rein und frisch. Die alten verblaßten Vorhänge waren verschwunden, und die Fenster und Türen des Salons und des Arbeitszimmers waren von blauen und grünen Draperien und Tüllvorhängen mit roten Zacken – alles Agafja Matwejewnas Arbeit – umrahmt. Die Kissen waren weiß wie Schnee und erhoben sich wie ein Berg fast bis zum Plafond; die Decken waren aus gesteppter Seide. Das Zimmer der Hausfrau war im Laufe von einigen Wochen mit aneinandergereihten und auseinandergezogenen Lombertischen gefüllt, auf denen diese Decken und Ilja Iljitschs Schlafrock ausgebreitet lagen. Agafja Matwejewna schnitt alles eigenhändig zu, fütterte es mit Watte und steppte es, indem sie ihre feste Brust an die Arbeit preßte, sie mit den Augen verschlang und sogar mit dem Mund tätig war, wenn sie einen Faden abbeißen wollte; sie arbeitete mit Liebe und mit unermüdlichem Fleiße, sich bescheiden mit dem Gedanken belohnend, daß der Schlafrock und die Decken den teuren Ilja Iljitsch bedecken, wärmen und verwöhnen würden und daß er sich darin behaglich fühlen würde. Er bewunderte, tagelang auf dem Sofa liegend, wie ihre nackten Ellbogen sich, der Nadel und dem Faden folgend, hin und her bewegten. Er schlummerte mehr als einmal wie in Oblomowka beim Zischen des eingefädelten und dem Knistern des abgebissenen Fadens ein.

»Hören Sie doch zu arbeiten auf, Sie werden müde werden«, versuchte er ihrem Eifer Einhalt zu gebieten.

»Gott liebt die Arbeit!« antwortete sie, ohne die Augen und die Hände von der Arbeit zu wenden.[1037]

Der Kaffee wird ihm ebenso sorgsam, appetitlich und schmackhaft zubereitet wie anfangs gereicht, als er vor ein paar Jahren in die Wohnung eingezogen war. Suppe mit Gekröse, Makronen mit Parmesan, Fischpasteten, Betensuppe und selbstgezüchtete junge Hühner lösten einander in strenger Reihenfolge ab und brachten in die eintönigen Tage des kleinen Hauses eine angenehme Abwechslung. In die Fenster schienen von früh bis spät freudige Sonnenstrahlen, die eine Hälfte des Tages von der einen und die zweite Hälfte von der anderen Seite, dank der Gemüsegärten von beiden Seiten ganz unbehindert.

Die Kanarienvögel sangen lustig, die Geranien und die manchmal von den Kindern aus dem gräflichen Garten mitgebrachten Hyazinthen strömten in das kleine Zimmer ihren starken Duft aus, der sich auf eine angenehme Weise mit dem Rauche einer echten Havannazigarre und dem Geruch des Zimts oder der Vanille vermengte, welche die Hausfrau, energisch die Ellbogen bewegend, stieß.

Ilja Iljitsch schien sein Leben in einem Goldrahmen zu verbringen, in dem die Phasen des Tages, der Nacht und der Jahreszeiten wie in einem Diorama abwechselten; es gab sonst keine anderen Veränderungen und keine besonderen Vorfälle, die vom Grund des Lebens den ganzen, oft bitteren und trüben Satz hätten aufsteigen lassen. Von dem Augenblick an, da Stolz Oblomowka vom diebischen Schuldbrief des Bruders befreit hatte, und dieser mit Tarantjew für immer verschwunden war, hatte sich auch alles Feindliche aus Ilja Iljitschs Leben entfernt. Ihn umgaben jetzt einfache, gute, liebende Gesichter, die es zum Ziel ihres Daseins machten, sein Leben zu stützen und ihm dazu zu verhelfen, dasselbe nicht zu bemerken und zu fühlen. Agafja Matwejewna stand im Zenit ihrer Existenz; sie lebte und fühlte, daß sie sich auslebte, was sie früher nie getan hatte, sie konnte das aber wie bisher niemals in Worte kleiden, aber das fiel ihr, besser gesagt, auch gar nicht ein. Sie flehte nur Gott an, er möchte Ilja Iljitsch ein langes Leben schenken und ihn mit allem Leid, mit[1038] seinem Zorn und mit Not verschonen, und sich, die Kinder und das ganze Haus vertraute sie Gottes Gutdünken an. Aber ihr Gesicht äußerte stets ein und dasselbe Glück, das voll, befriedigt, wunschlos und folglich selten und bei einer jeden anderen Natur unmöglich war. Sie hatte zugenommen; die Brust und die Schultern strahlten gleichfalls Zufriedenheit und Fülle aus, in den Augen leuchteten Sanftheit und nur wirtschaftliche Sorgen. Zu ihr war dieselbe Ruhe und Würde zurückgekehrt, mit denen sie früher über das Haus und die gehorsame Anissja, über Akulina und über den Hausbesorger geherrscht hatte.

Sie geht nicht, sondern schwebt wie früher vom Schrank in die Küche und von der Küche in die Vorratskammer und erteilt langsam und gleichmäßig Befehle mit dem vollen Bewußtsein dessen, was sie tut.

Anissja ist noch flinker als bisher, weil es mehr Arbeit gibt; sie bewegt sich, läuft, arbeitet und sorgt sich um alles auf den Wink der Hausfrau. Ihre Augen sind sogar leuchtender geworden, und die Nase, diese sprechende Nase, eilt immer ihrer ganzen Person voraus, glüht vor Sorgen, vor Gedanken und Absichten und spricht, wenn die Zunge auch schweigt. Beide sind der Würde ihrer Stellung und ihres Amtes angemessen gekleidet. Die Hausfrau hatte sich einen großen Schrank mit einer Reihe von Seidenkleidern, Mänteln und Mantillen angeschafft; sie bestellte ihre Hauben in der Stadt, fast auf der Litejnajastraße, ihre Schuhe stammten nicht mehr von dem Markt, sondern aus einem guten Geschäfte und ihr Hut sogar aus der Morskajastraße! Und Anissja zog, wenn sie mit dem Kochen fertig war, und besonders am Sonntag, ein wollenes Kleid an. Nur Akulina ging noch immer mit dem in den Gürtel gesteckten Kleidersaum herum, und der Hausbesorger konnte sich selbst während der Sommerferien nicht von seinem Schafpelz trennen. Von Sachar ganz zu schweigen. Dieser hatte sich aus dem grauen Frack eine Joppe gemacht, und man konnte nicht bestimmen, welche Farbe seine Beinkleider hatten und woraus seine Krawatte[1039] gemacht war. Er putzte die Schuhe, schlief dann, saß am Haustor, die wenigen Passanten stumpf betrachtend, oder begab sich in den Krämerladen und tat alles ebenso, wie er es früher, zuerst in Oblomowka und dann auf der Gorochowajastraße, getan hatte.

Und Oblomow selbst? Oblomow war das vollkommene und natürliche Spiegelbild und die Äußerung des ihn umgebenden Wohlstandes, der Ruhe und ungetrübten Stille. Er entschied, sein Leben betrachtend, darüber sinnend und sich immer mehr hineinversenkend, daß er nirgends mehr hinzugehen und nichts zu suchen hatte, daß sein Ideal vom Leben sich verwirklicht hatte, wenn es auch ohne Poesie und ohne jene Strahlen geschehen war, mit denen seine Phantasie ihm einst das sorglose, herrschaftliche Leben, auf großem Fuße auf dem eigenen Gute, inmitten von Bauern und von Dienstboten, geschmückt hatte. Er sah seine jetzige Existenz für die Fortsetzung des Lebens in Oblomowka an, die nur ein anderes Kolorit des Ortes und teilweise auch der Zeit aufzuweisen hatte. Es war ihm hier, wie früher in Oblomowka, gelungen, im Leben billig fortzukommen und sich bei demselben ungetrübte Ruhe zu erhandeln und zu sichern. Er triumphierte innerlich, weil er den qualvollen, störenden Forderungen und Stürmen entgangen war und sich von dem Horizonte entfernt hatte, unter dem die Blitze großer Freuden flammen und die Schläge großer Schmerzen herabsausen, wo trügerische Hoffnungen und majestätische Glücksphantome schweben, wo an dem Menschen die eigenen Gedanken nagen und wo ihn die Leidenschaft tötet, wo der Geist fällt oder triumphiert, wo der Mensch einen steten Kampf führt und gemartert, aber doch unbefriedigt und ungesättigt den Kampfplatz verläßt. Er hatte den Freuden, die der Kampf bietet, im Geiste entsagt, bevor er sie genossen hatte, und fühlte in seiner Seele nur in dem entlegenen Winkel, der aller Bewegung, allem Kampf und Leben fremd war, Ruhe. Und wenn seine Phantasie zu arbeiten begann, vergessene Erinnerungen und unerfüllte Träume auferstanden, wenn sich in seinem[1040] Gewissen Vorwürfe regten, warum er das Leben so und nicht anders verbrachte, schlief er unruhig, erwachte, sprang vom Bett auf und beweinte manchmal mit kalten Tränen der Hoffnungslosigkeit das lichte, für ewig erloschene Lebensideal, wie man einen teuren Toten beweint, mit dem Bewußtsein, für ihn, als er lebte, nicht genug getan zu haben.

Dann blickte er seine Umgebung an, genoß die zeitlichen Güter und beruhigte sich, indem er sinnend zusah, wie still und friedlich die Sonne in den Flammen des Abendrots unterging, und entschied endlich, daß sein Leben sich nicht nur so geformt hatte, sondern dazu geschaffen und sogar vorher bestimmt war, so einfach und schlicht zu sein, um die Möglichkeit der idealen Ruhe im menschlichen Sein zu verkörpern. Andern, dachte er, fiel das Schicksal zu, dessen stürmische Elemente zu äußern und die schaffenden und zerstörenden Kräfte in Bewegung zu setzen; jeder hatte seine Bestimmung! Dieser Oblomower Plato arbeitete sich diese Philosophie aus, die ihn inmitten der Fragen und strengen Forderungen der Pflicht und der Bestimmung sanft einwiegte! Er war nicht als Gladiator für eine Arena, sondern als friedlicher Zuschauer des Kampfes auf die Welt gekommen und erzogen worden; seine ängstliche, träge Seele hätte weder die Erregungen des Glückes noch die Schicksalsschläge ertragen – folglich hatte er die eine Seite des Lebens verkörpert und brauchte nichts mehr darin zu erstreben, zu ändern oder zu bereuen. Mit den Jahren kamen diese Gedanken und die Reue seltener, und er legte sie allmählich still in den einfachen, breiten Sarg seiner übrigen Existenz, den er sich mit seinen eigenen Händen nach dem Beispiel der Eremiten vorbereitet hatte, welche sich vom Leben abwenden und sich selbst ins Grab schaufeln. Er hatte schon aufgehört, von der Einrichtung des Gutes und von der Übersiedlung dorthin mit dem ganzen Hause zu träumen. Der von Stolz eingesetzte Verwalter schickte ihm regelmäßig einen bedeutenden Betrag, zu Weihnachten brachten die Bauern Mehl und Geflügel, und das Haus[1041] war von Wohlstand und Frohsinn erfüllt. Ilja Iljitsch kaufte sich sogar Pferde, aber mit der ihm eigenen Vorsicht schaffte er sich solche an, die sich erst nach dem dritten Peitschenschlag in Bewegung setzten, beim ersten und zweiten Schlag rührte sich das erste Pferd und machte einen Schritt zur Seite, dann rührte sich das zweite Pferd und machte einen Schritt zur Seite und dann erst zogen alle drei mit gespannt gestrecktem Hals, Rücken und Schwanz auf einmal an und begannen, mit dem Kopfe nickend, zu laufen. Mit ihnen fuhr Wanja ins Gymnasium auf das gegenüberliegende Ufer der Newa und besorgte die Hausfrau ihre Einkäufe. Am Karneval und zu Ostern fuhr die ganze Familie mit Ilja Iljitsch spazieren und zu den Marktbuden hin, ab und zu wurde eine Loge genommen, und das ganze Haus ging ins Theater. Im Sommer begab man sich in die Umgegend der Stadt, am Eliasfreitag zu den Pulvermühlen; das Leben wechselte in seinen gewohnten Erscheinungen ab, und man möchte sagen, daß darin keine verhängnisvollen Veränderungen hätten eintreten können, wenn die Schicksalsschläge die kleinen, friedlichen Winkel nicht erreichen würden. Aber unglücklicherweise tönt der Donnerschlag, der die Berge und die ungeheuren Luftschichten erschüttert, auch in einem Mauseloch wider, zwar geschieht es schwächer und dumpfer, aber doch empfindlich für das Loch.

Ilja Iljitsch aß viel und mit Appetit, wie in Oblomowka, und arbeitete wenig und träge, auch wie in Oblomowka. Er trank, trotzdem die Jahre vorübereilten, sorglos Johannisbeerschnaps und schlief lange und noch sorgloser nach Tisch. Plötzlich veränderte sich das alles. Als er eines Tages nach dem Nachmittagsschlafe vom Sofa aufstehen wollte, gelang es ihm nicht, und als er ein Wort sagen wollte, gehorchte ihm die Zunge nicht. Er winkte nur erschrocken mit der Hand, man möchte ihm zu Hilfe kommen. Wenn er allein mit Sachar gewohnt hätte, hätte er bis zum Morgen mit der Hand telegraphieren und endlich sterben können, was man dann am nächsten Tage erfahren hätte; doch das Auge der Hausfrau wachte gleich[1042] der Vorsehung über ihm; sie brauchte keinen Verstand, ihr genügte die bloße Ahnung des Herzens, daß Ilja Iljitsch nicht ganz wohl sei. Und sowie diese Ahnung über sie gekommen war, flog Anissja in einer Droschke zum Arzt hin, und sie selbst belegte ihm den Kopf mit Eis und schleppte aus dem geheimnisvollen Schrank alle Mittel herbei, die die Gewohnheit und die Überlieferung ihr anzuwenden vorschrieben. Sogar Sachar hatte Zeit gehabt, einen Stiefel anzuziehen, und pflegte mit dem Arzte, mit der Hausfrau und Anissja zusammen seinen Herrn. Man brachte Ilja Iljitsch zum Bewußtsein, ließ ihn zur Ader, und der Arzt erklärte, das sei ein Schlaganfall gewesen und er müsse eine andere Lebensweise beginnen. Ihm wurden Schnaps, Bier, Wein und Kaffee, mit wenigen und seltenen Ausnahmen, dann jede Fleischkost, alles Fette und Gewürze verboten und dann tägliche Bewegung und mäßiger Schlaf, nur des Nachts, vorgeschrieben.

Ohne Agafja Matwejewnas Fürsorge würde das alles nicht eingehalten worden sein, doch sie verstand es, dieses System dadurch einzuhalten, daß sie demselben das ganze Haus unterordnete und Oblomow bald durch List und bald durch Güte vom verführerischen Wein, von dem Nachmittagsschlaf und den fetten Pasteten ablenkte. Sowie er einnickte, fiel wie von selbst ein Stuhl zur Erde, oder es wurde im Nebenzimmer mit großem Lärm altes Geschirr zerbrochen, oder die Kinder tollten so herum, daß es zum Davonlaufen war.

Wenn das nicht half, ertönte ihre sanfte Stimme; sie rief ihn und fragte nach irgend etwas. Der Gartenweg wurde in dem Gemüsegarten fortgesetzt, und Ilja Iljitsch spazierte darauf morgens und abends zwei Stunden lang herum. Sie begleitete ihn, und wenn sie nicht konnte, schickte sie Mascha oder Wanja mit ihm oder alte Bekannte, der ruhige, gehorsame, mit allem einverstandene Alexejew ersetzte sie.

Ilja Iljitsch schreitet langsam über den Weg hin und stützt sich auf Wanjas Schulter; Wanja ist schon fast ein Jüngling in der Gymnasialuniform und gebietet seinem[1043] schnellen Gang mit Mühe Einhalt, indem er sich Ilja Iljitschs Schritten anzupassen bestrebt. Oblomow kann den einen Fuß nicht ganz frei bewegen; das sind die Spuren des Schlaganfalles.

»Nun gehen wir ins Zimmer, Wanjuscha!« sagte er. Sie wollten sich der Tür zuwenden. Ihnen kam Agafja Matwejewna entgegen.

»Wohin gehen Sie so früh?« fragte sie, ihnen den Weg versperrend.

»Es ist ja gar nicht früh! Wir sind etwa zwanzigmal hin und her gegangen, und von hier bis zum Zaun sind es fünfzig Klafter, es sind also im ganzen zwei Werst.«

»Wievielmal habt ihr den Weg gemacht?« fragte sie Wanjuscha.

Dieser wurde verlegen.

»Du, lüg mir nichts vor!« drohte sie, ihm in die Augen blickend, »ich werde es gleich merken. Denke an Sonntag, ich lasse dich nicht auf Besuch fort.«

»Nein, Mamachen, wir sind wirklich zwölfmal hin und her gegangen.«

»Ach, du Schelm!« sagte Oblomow, »du hast immer Akazienblüten gepflückt, und ich habe jedesmal gezählt ...«

»Nein, geht noch spazieren, meine Fischsuppe ist ohnehin noch nicht fertig!« beschloß die Hausfrau und schlug vor ihnen die Tür zu.

Und Oblomow mußte nun, ob er wollte oder nicht, den Weg noch achtmal zurücklegen und durfte erst dann ins Zimmer kommen.

Dort dampfte schon die Fischsuppe auf dem großen runden Tisch. Oblomow nahm seinen Platz auf dem Sofa ein, neben ihm saß rechts auf einem Sessel Agafja Matwejewna, und links setzte sich ein dreijähriges Kind auf einen Kinderstuhl mit einem vorgeschobenen Riegel hin. Daneben saß Mascha, ein schon dreizehnjähriges Mädchen, dann Wanja, und Oblomow gegenüber befand sich an diesem Tage Alexejew.

»Warten Sie, ich werde Ihnen noch einen Barsch auf den[1044] Teller legen, ich habe da einen fetten gefunden!« sagte Agafja Matwejewna, Oblomow einen Fisch auf den Teller legend.

»Es wäre gut, dazu eine Piroge zu essen!« sagte Oblomow.

»Ich habe es ganz vergessen! Und ich wollte noch abends eine vorbereiten, ich habe jetzt gar kein Gedächtnis mehr!« sagte Agafja Matwejewna schlau.

»Ich habe auch vergessen, Ihnen Kohl zu den Koteletten vorzubereiten, Iwan Alexeitsch«, fügte sie hinzu, sich an Alexejew wendend. »Verzeihen Sie.«

Das war wieder eine List.

»Das macht nichts, ich esse alles«, sagte Alexejew.

»Warum bereitet man für ihn wirklich keinen Schinken mit Erbsen oder kein Beefsteak vor?« fragte Oblomow. »Er liebt das ...«

»Ich bin selbst einkaufen gegangen, Ilja Iljitsch, es war kein gutes Fleisch da! Dafür habe ich Ihnen aber aus Weichselsirup ein Gelee machen lassen; ich weiß, daß Sie ein Liebhaber davon sind«, fügte sie hinzu, sich an Alexejew wendend.

Das Gelee konnte Ilja Iljitsch nichts schaden, und darum mußte der stets gehorsame Alexejew es gerne essen.

Nach dem Speisen konnte niemand und nichts Ilja Iljitsch vom Liegen abbringen. Er legte sich gewöhnlich für eine Stunde auf das Sofa hin. Die Hausfrau schenkte gleich darauf den Kaffee ein und ließ die Kinder daneben auf dem Teppich spielen, damit Ilja Iljitsch nicht einschlief, und er mußte notgedrungen an allem teilnehmen.

»Höre auf, Andrjuscha zu necken; er wird gleich weinen!« wies er Wanja zurecht, wenn dieser das Kind neckte.

»Maschenjka, schau, Andrjuscha wird sich am Sessel stoßen!« warnte er sorgsam, wenn das Kind unter die Sessel kroch.

Und Mascha stürzte dem »Brüderchen« nach, wie sie das Kind nannte.

Dann verstummte alles für einen Augenblick, die Hausfrau war in die Küche nachsehen gegangen, ob der Kaffee[1045] fertig war. Die Kinder wurden ruhig. Im Zimmer ertönte ein zuerst gedämpftes Schnaufen, das immer lauter wurde, und als Agafja Matwejewna mit der dampfenden Kaffeekanne erschien, war sie vom Schnarchen betroffen, das so laut wie in einem Bauernhaus erklang. Sie nickte Alexejew vorwurfsvoll zu.

»Ich habe ihn geweckt, er hört aber nicht auf mich!« sagte dieser, um sich zu entschuldigen.

Sie stellte die Kaffeekanne schnell auf den Tisch hin, nahm Andrjuscha vom Fußboden auf und setzte ihn leise aufs Sofa zu Ilja Iljitsch hin.

Das Kind kroch auf ihn hinauf, erreichte sein Gesicht und packte ihn bei der Nase.

»Was? Wer?« fragte unruhig der erwachte Ilja Iljitsch.

»Sie sind eingenickt, und Andrjuscha ist auf Sie hinaufgekrochen und hat Sie aufgeweckt«, sagte die Hausfrau freundlich.

»Wann bin ich denn eingenickt?« rechtfertigte sich Oblomow, Andrjuscha in seine Arme nehmend. »Habe ich denn nicht gehört, wie er mit seinen Händchen auf mir herumgekrabbelt ist? Ich höre alles. Ach, dieser Wildfang; er hat mich bei der Nase gepackt! Wart nur, wart! Du kriegst dafür schon etwas ab!« sagte er, das Kind liebkosend. Dann ließ er es auf den Fußboden herab und seufzte laut auf.

»Erzählen Sie etwas, Iwan Alexeitsch«, sagte er.

»Wir haben schon über alles gesprochen, Ilja Iljitsch; ich habe jetzt nichts mehr zu erzählen«, antwortete Alexejew.

»Wieso denn? Sie kommen ja mit Menschen zusammen, gibt es denn nichts Neues? Ich denke, Sie lesen auch?«

»Ja, ich lese manchmal, oder die anderen lesen und sprechen darüber, und ich höre zu. Gestern hat bei Alexej Spiridonitsch der Sohn, ein Student, laut vorgelesen ...«

»Was hat er denn gelesen?«

»Von den Engländern, die jemandem Gewehre und Pulver geschickt haben. Alexej Spiridonitsch hat gesagt, daß es Krieg geben wird.«

»Wem haben sie es denn geschickt?«[1046]

»Nach Spanien oder nach Indien, ich weiß es nicht mehr, aber der Gesandte war sehr unzufrieden.«

»Welcher Gesandte?«

»Das habe ich schon vergessen!« sagte Alexejew, die Nase zum Plafond erhebend und sich zu erinnern bemüht.

»Mit wem wird es denn Krieg geben?«

»Ich glaube mit dem türkischen Pascha.«

»Nun, was gibt es noch Neues in der Politik?« fragte Ilja Iljitsch nach einem Schweigen.

»Man schreibt, daß die Erdkugel sich immer mehr abkühlt; sie wird einmal ganz erstarren.«

»Ist denn das Politik?« fragte Oblomow.

Alexejew war verblüfft.

»Dimitrij Iwanitsch hat zuerst etwas über Politik gesagt«, rechtfertigte er sich, »und hat dann weitergelesen, ohne mitzuteilen, wenn die Politik zu Ende ist. Ich weiß, daß das schon Literatur ist.«

»Was hat er denn über Literatur gelesen?« fragte Oblomow.

»Er hat gelesen, daß Dimitriew, Karamsin, Batjuschkow und Schukowskij die besten Schriftsteller sind ...«

»Und Puschkin?«

»Puschkin war nicht dabei. Es ist auch mir aufgefallen, daß er nicht dabei war! Er ist ja ein Genie!« sagte Alexejew, das »G« wie ein »Sch« aussprechend.

Darauf folgte Schweigen. Die Hausfrau brachte ihre Arbeit herein und begann die Nadel hin und her zu bewegen, indem sie ab und zu Ilja Iljitsch und Alexejew anblickte und mit wachsamen Ohren lauschte, ob es nicht irgendwo Lärm und Unordnung gab, ob Sachar sich nicht in der Küche mit Anissja zankte, ob Akulina das Geschirr abwusch, ob die Pforte nicht auf dem Hof knarrte, das heißt, ob der Hausbesorger sich nicht in die »Kneipe« entfernt hatte.

Oblomow versenkte sich leise in Schweigen und Sinnen. Dieses Sinnen war weder Schlaf noch Wachen; er ließ die Gedanken sorglos frei herumirren, ohne sie auf etwas zu konzentrieren, hörte dem gleichmäßigen Schlag[1047] seines Herzens zu und blinzelte manchmal, wie jemand, der seinen Blick auf nichts Bestimmtes richtet. Er hatte sich in einen unbestimmten, rätselhaften Zustand, in eine Art von Halluzination, versenkt.

Der Mensch hat manchmal seltene und kurze Momente des Sinnens, wenn es ihm scheint, daß er dem schon einmal irgendwo erlebten Augenblick zum zweitenmal begegnet. Er weiß nicht, ob das um ihn Vorgehende ihm im Traum erschienen ist, oder ob er schon einmal gelebt und es vergessen hat; er sieht aber, daß ihn jetzt dieselben Personen umgeben, die einst um ihn herum waren, und daß dieselben Worte schon einmal gesprochen wurden. Die Phantasie kann sich nicht dorthin zurückversetzen, das Gedächtnis läßt die Vergangenheit nicht auferstehen und ruft nur tiefes Sinnen hervor. Das war jetzt Oblomows Zustand. Auf ihn senkte sich die schon einmal von ihm erlebte Stille herab, er sieht den bekannten Pendel sich bewegen und hört das Knistern des abgebissenen Fadens; bekannte Worte und bekanntes Flüstern wiederholen sich: »Ich kann nicht mit dem Faden in die Nadel hineinkommen, probiere du's, Mascha, du hast schärfere Augen!« Er blickte träge, mechanisch und wie im Traum auf das Gesicht der Hausfrau, und aus der Tiefe seiner Erinnerungen taucht eine bekannte, von ihm irgendwo gesehene Gestalt auf. Er sucht darauf zu kommen, wann und wo er das gesehen hat ... Und er sieht den großen, dunklen, von einer Paraffinkerze beleuchteten Salon in seinem Vaterhause, und um den Tisch herum sitzt die verstorbene Mutter mit ihren Gästen; sie nähen schweigend; der Vater geht auf und ab. Gegenwart und Vergangenheit haben sich verwebt und verflochten. Ihm träumt, daß er jenes gelobte Land erreicht hat, wo Milch und Honig fließen, wo man, ohne zu arbeiten, ißt und sich in Gold und Silber kleidet ... Er hört von den Träumen und Vorzeichen sprechen und das Klappern der Teller und Messer ertönen, schmiegt sich an die Kinderfrau und lauscht ihrer greisenhaft zitternden Stimme: »Militrissa Kirbitjewna!« sagt sie, ihn auf die Gestalt der Hausfrau hinweisend.[1048] Er glaubt, dasselbe Wölkchen wie damals über den blauen Himmel gleiten zu sehen, derselbe Wind bläst ins Fenster hinein und spielt mit seinen Haaren; und ein Oblomower Truthahn geht unter dem Fenster und schreit.

Jetzt bellt der Hund; es ist gewiß ein Gast gekommen. Vielleicht ist es Andrej, der mit dem Vater aus Werchljowo kommt? Das war ein Feiertag für ihn. Das ist er wahrscheinlich. Die Schritte nähern sich immer mehr, die Tür öffnet sich ... »Andrej!« sagt er. Vor ihm steht wirklich Andrej, aber nicht als Knabe, sondern als reifer Mann. Oblomow erwachte; vor ihm stand kein Gespenst, sondern der wirkliche und greifbare Stolz.

Die Hausfrau ergriff schnell Andrjuscha, nahm ihre Arbeit vom Tisch auf und führte die anderen Kinder fort; auch Alexejew verschwand. Stolz und Oblomow blieben allein und blickten einander schweigend und unbeweglich an. Stolz durchdrang ihn förmlich mit den Augen.

»Bist du es, Andrej?« fragte Oblomow, vor Erregung kaum hörbar, wie man nur seine Geliebte nach langer Trennung fragt.

»Ich bin es!« sagte Andrej leise. »Du lebst und bist bei guter Gesundheit?«

Oblomow umarmte ihn und schmiegte sich fest an ihn.

»Ach!« gab er gedehnt zur Antwort und legte in dieses »Ach« die ganze Macht der lange in seiner Seele angehäuften Freude und Traurigkeit hinein, die er seit ihrer Trennung vielleicht niemals in bezug auf jemand oder etwas geäußert hatte.

Sie setzten sich und blickten einander wieder forschend an.

»Bist du wohlauf?« fragte Andrej.

»Ja, jetzt, Gott sei Dank.«

»Warst du krank?«

»Ja, Andrej, ich habe einen Schlaganfall gehabt ...«

»Ist's möglich? Mein Gott!« sagte Andrej erschrocken und teilnahmsvoll. »Aber doch ohne Folgen?«[1049]

»Ja, ich kann nur den linken Fuß nicht ganz frei bewegen ...« antwortete Oblomow.

»Ach, Ilja, Ilja! Was ist mit dir? Du läßt dich jetzt ja ganz gehen! Was hast du diese ganze Zeit gemacht? Wir haben uns ja nun über vier Jahre nicht gesehen!«

Oblomow seufzte.

»Warum bist du denn nicht nach Oblomowka gekommen? Warum hast du nicht geschrieben?«

»Was soll ich dir sagen, Andrej? Du kennst mich, frage nicht weiter!« sagte Oblomow traurig.

»Und du bist immer noch in dieser Wohnung?« fragte Stolz, sich im Zimmer umschauend. »Und bist gar nicht übersiedelt?«

»Nein, ich war die ganze Zeit hier ... Jetzt werde ich nicht mehr ausziehen!«

»Wieso, bist du fest entschlossen?«

»Ja, Andrej ... ich bin fest entschlossen.«

Stolz blickte ihn forschend an, vertiefte sich in seine Gedanken und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Und was ist mit Oljga Sjergejewna? Geht es ihr gut? Wo befindet sie sich jetzt? Denkt sie an mich?«

Er sprach nicht zu Ende.

»Es geht ihr gut, und sie erinnert sich deiner, als ob ihr euch erst gestern getrennt hättet. Ich werde dir gleich sagen, wo sie ist.«

»Und die Kinder?«

»Auch die Kinder sind gesund ... Aber höre, Ilja: du scherzest nur, wenn du sagst, daß du hier bleiben willst! Und ich bin dich abzuholen gekommen, um dich zu uns aufs Gut mitzunehmen ...«

»Nein, nein!« sagte Oblomow, die Stimme senkend und sichtbar beunruhigt nach der Tür blickend. »Nein, fang lieber gar nicht davon an, sprich nicht darüber ...«

»Warum? Was hast du?« begann Stolz. »Du kennst mich! Ich habe mir längst diese Aufgabe gestellt und werde von dir nicht ablassen. Bis jetzt haben mich verschiedene Angelegenheiten davon abgelenkt, jetzt bin ich aber frei. Du mußt mit uns, in unserer Nähe wohnen. Oljga und ich[1050] haben das beschlossen, und es wird auch so sein. Gott sei Dank, daß ich dich so und nicht in einem noch ärgeren Zustand antreffe. Ich habe nicht darauf gehofft ... Komm also mit! ... Ich bin bereit, dich mit Gewalt fortzuführen; man muß anders leben, du weißt ja wie ...«

Oblomow hörte ihm ungeduldig zu.

»Schrei bitte nicht, sprich leiser!« bat er ihn. »Dort ...«

»Was ist dort?«

»Man wird es hören ... Die Hausfrau wird glauben, daß ich wirklich fortfahren will ...«

»Was macht es denn? Sie soll das nur glauben!«

»Nein, das geht nicht! Höre, Andrej!« fügte er plötzlich in einem für ihn ungewohnt entschlossenen Tone hinzu. »Mache keine vergeblichen Versuche, rede mir nicht zu; ich bleibe hier.«

Stolz blickte seinen Freund erstaunt an. Oblomow erwiderte diesen Blick ruhig und entschlossen.

»Du bist verloren, Ilja!« sagte er. »Dieses Haus, diese Frau ... dieses ganze Leben ... Das ist unmöglich! Komm, komm!«

Er packte ihn beim Ärmel und zog ihn zur Tür hin.

»Warum willst du mich fortführen? Wohin?« fragte Oblomow, sich wehrend.

»Aus dieser Grube, aus diesem Sumpfe ans Licht, unter freien Himmel, wo es ein gesundes, normales Leben gibt!« bestand Stolz fast befehlend auf seiner Forderung. »Wo bist du? Was ist aus dir geworden? Besinne dich! Hast du dich denn zu einem solchen Leben vorbereitet, um wie ein Maulwurf in einer Höhle zu schlafen? Denke an alles ...«

»Erinnere mich nicht daran, rühre nicht an der Vergangenheit; du wirst sie nicht mehr zurückbringen!« sagte Oblomow mit einem sinnenden Ausdruck im Gesicht, bei vollem Bewußtsein des Verstandes und des Willens. »Was willst du mit mir anfangen? Ich bin mit jener Welt, in die du mich ziehst, für immer zerfallen; du wirst die beiden zerrissenen Hälften nie vereinigen und zusammenlöten. Ich bin mit meiner wunden Stelle an[1051] diese Grube festgewachsen; versuche es, mich loszureißen, und du gibst mir den Tod.«

»Aber so schau doch um dich! Wo bist du und mit wem?«

»Ich weiß und fühle das ... Ach, Andrej, ich fühle und verstehe alles ... ich schäme mich schon, daß ich auf der Welt lebe! Ich kann dir aber nicht auf deinen Weg folgen, und wenn ich es sogar wollte ... Voriges Mal wäre es vielleicht noch möglich gewesen. Jetzt ...« er senkte die Augen und schwieg eine Weile, »ist es zu spät ... Geh und halte dich über mich nicht auf. Ich bin deiner Freundschaft wert – das sieht Gott, ich verdiene aber nicht, daß du dich mit mir abgibst.«

»Nein, Ilja, du sagst etwas, sprichst es aber nicht zu Ende. Ich werde dich trotz allem mitnehmen, gerade darum, weil ich dich im Verdacht habe ... Höre«, sagte er, »zieh etwas an und komm mit mir, verbringe bei mir den Abend. Ich werde dir alles erzählen; du weißt ja nicht und hast nicht gehört, was bei uns vorgeht ...«

Oblomow blickte ihn fragend an.

»Du kommst ja mit niemand zusammen, ich habe ganz vergessen! Komm, ich erzähle dir alles ... Weißt du, wer mich hier am Haustor im Wagen erwartet? ... Ich gehe hin!«

»Oljga!« rief der erschrockene Oblomow plötzlich aus. Er hatte sogar die Farbe gewechselt. »Laß sie um Gottes willen nicht herein! Fahre fort! Leb wohl, leb wohl, um Gottes willen!«

Er stieß Stolz fast hinaus; dieser rührte sich jedoch nicht.

»Ich darf ohne dich nicht zu ihr zurückkommen; ich habe es ihr versprochen, hörst du, Ilja? Wenn du heute nicht mitgehst, komme ich morgen wieder; du wirst die Sache nur hinausschieben, du kannst mich aber nicht verjagen ... Wir werden uns morgen oder übermorgen doch wiedersehen!«

Oblomow schwieg mit gesenktem Kopfe und wagte es nicht, Stolz anzublicken.

»Wann also? Oljga wird mich fragen.«

»Ach, Andrej«, sagte er mit zärtlicher, flehender Stimme,[1052] indem er ihn umarmte und ihm den Kopf auf die Schulter legte. »Wende dich von mir ganz ab ... vergiß mich ...«

»Wieso für immer?« fragte Stolz erstaunt, sich aus seiner Umarmung befreiend und ihm ins Gesicht blickend.

»Ja!« flüsterte Oblomow.

Stolz trat um einen Schritt vor ihm zurück.

»Bist du es, Ilja?« warf er ihm vor. »Du stößt mich fort; und das alles ihretwegen, dieser Frau wegen ... Mein Gott!« schrie er wie vor plötzlichem Schmerz auf. »Dieses Kind, das ich soeben gesehen habe ... Ilja, Ilja! Fliehe von hier, komm, komm schnell! Wie tief du gesunken bist! Dieses Weib ... Was ist sie dir ...«

»Meine Frau!« sagte Oblomow ruhig.

Stolz erstarrte.

»Und dieses Kind ist mein Sohn! Er heißt Andrej, zur Erinnerung an dich!« eröffnete Oblomow ihm alles und atmete ruhig auf, nachdem er die Last der Geheimtuerei von sich abgewälzt hatte.

Jetzt wechselte Stolz die Farbe und betrachtete alles um sich herum mit erstaunten, fast wahnsinnigen Augen. Vor ihm hatte sich plötzlich »ein Abgrund aufgetan« und »eine steinerne Mauer erhoben«. Oblomow schien vor seinen Augen zu verschwinden und in die Tiefe zu versinken, und er fühlte nur den brennenden Schmerz, den man empfindet, wenn man nach einer Trennung erregt zum Freunde eilt, um ihn zu sehen, und erfährt, daß er schon längst nicht mehr da sei, daß er gestorben sei.

»Verloren!« flüsterte er mechanisch. »Was werde ich Oljga sagen?«

Oblomow hatte die letzten Worte gehört, wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Er streckte beide Arme zu Andrej hin, und sie umfaßten sich schweigend und fest, wie man sich vor dem Kampfe und vor dem Tode umarmt. Diese Umarmung erstickte ihre Worte, ihre Tränen und Gefühle ...

»Vergiß meinen Andrej nicht, wenn ich nicht mehr da bin ...!« waren Oblomows letzte Worte, die er mit erloschener Stimme sagte.

Andrej trat schweigend und langsam hinaus, ging langsam[1053] und sinnend über den Hof und stieg in den Wagen, während Oblomow sich auf das Sofa setzte, seine Ellbogen auf den Tisch stützte und sich das Gesicht mit den Händen bedeckte.

Nein, ich werde deinen Andrej nicht vergessen, dachte Stolz traurig, während er über den Hof schritt, du bist verloren, Ilja! Man braucht dir nicht zu sagen, daß dein Oblomowka nicht mehr in der Wildnis liegt, daß auch dein Nest an die Reihe gekommen ist und auch dort die Sonne strahlt. Ich werde dir nicht sagen, daß dein Gut nach vier Jahren eine Bahnstation sein wird, daß deine Bauern alle dazugehörigen Arbeiten verrichten werden und daß dein Getreide per Eisenbahn zum Hafen transportiert werden wird. Und dann ... die Schulen, die Aufklärung, und ferner ... Nein, du wirst dich vor dem Morgenrot des neuen Glückes fürchten, deine ungeübten Augen werden schmerzen. Ich aber werde deinen Andrej dorthin führen, wohin du nicht gelangen konntest ... und ich werde mit ihm zusammen unsere Jugendträume zur Erfüllung bringen. »Leb wohl, altes Oblomowka!« sagte er, zum letzten Male auf die Fenster des kleinen Hauses zurückblickend. »Du hast ausgelebt!«

»Was ist dort?« fragte Oljga mit starkem Herzklopfen.

»Nichts!« antwortete Andrej trocken und lakonisch.

»Lebt er und geht es ihm gut?«

»Ja«, antwortete Andrej ungern.

»Warum bist du so schnell zurückgekehrt? Warum hast du mich nicht hereingerufen und hast auch ihn nicht mitgebracht? Laß mich zu ihm!«

»Das geht nicht!«

»Was geht denn dort vor?« fragte Oljga erschrocken. »Hat sich denn ein Abgrund aufgetan? Willst du mir es nicht sagen?«

Er schwieg.

»Was geht denn dort vor?«

»Dort herrscht Oblomowerei!« antwortete Andrej düster und beantwortete die ferneren Fragen Oljgas bis zum Hause hin mit düsterem Schweigen.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 1033-1054.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
Oblomow

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon