Fünfter Auftritt.

[19] Die Vorigen. Herr Sinnreich. Herr Jambus. Sie kommen mit ungezogenen wilden Minen ins Zimmer. Reinhart empfängt sie.


HERR REINHART. Ihr Diener meine Herren. Hier sehen Sie den Herrn Vielwitz, einen jungen Menschen aus Niedersachsen, der unserer Universität die Ehre thun, und hier studieren will.

HERR SINNREICH. Ihr Diener, mein Herr, ich bin erfreut, Ihnen zu sehen.

HERR JAMBUS. Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen kennen zu lernen.

HERR VIELWITZ. Es ist mich herzlich angenehm, ein Paar solche Männer hier zu sehen, von die der Herr Reinhart mich so viel Gutes gesagt hat.

HERR REINHART. Setzen Sie sich doch.


Sie laufen beide in eine Ecke des Zimmers und legen die Hüte und die Degen ab. Jungfer Lottchen will sich darüber aufhalten. Reinhart aber winkt ihr, sie soll es nur lassen gut seyn. Sie setzen sich zum Caffeetische. Jungfer Lottchen schenkt einem jeden Caffee ein.


HERR JAMBUS der allemal sehr schreyet. Ist es schon lange mein Herr Vielwitz, daß wir die Ehre haben, Ihnen hier zu sehen?

HERR VIELWITZ. Es ist erst vierzehn Tage.

HERR SINNREICH. Wo logieren Sie denn?[19]

HERR VIELWITZ. Ich bin hier bey dem Herrn Reinhart ins Haus.

HERR JAMBUS. Haben Sie in Willens lange hier zu bleiben?

JUNGFER LOTTCHEN. Ey, was? meine Herren, Sie müssen mit dem Herrn Vielwitz solche gleichgültige Dinge, nicht reden. Er ist ein großer Poet.

HERR JAMBUS. Ein Poet?

HERR VIELWITZ. Zu dienen.

HERR REINHART. Und ein Mathematicus dazu!

HERR SINNREICH. Ein Mathematicus? Wie haben Sie sich denn bis zum Dichter erniedrigen können?

HERR JAMBUS. Ey, mein lieber Herr Sinnreich, es hat eher gescheide Poeten gegeben, als gescheide Mathematicos.

HERR SINNREICH. Ey, Herr Jambus, wir sind gute Freunde: aber in das Alter der Mathematik müssen Sie nicht pfuschen. Sie möchten sonst eine Sau machen.

HERR VIELWITZ. Es ist wahr, die Mathematik ist das Edelste, was ein denkendes Wesen lernen und wissen kann.

HERR SINNREICH. Sie ist die einzige Wissenschaft, die Wahrheiten aufzuweisen hat: mit allen andern ist es lauter Ungewißheit.

O Meßkunst! Zaum der Phantasie,

Wer dir nur folget, irret nie!

Wer ohne dich will gehn, der gleitet!

JUNGFER LOTTCHEN spöttisch. Es ist wohl wahr; daß 2 mal 2 4 ist, das ist eine viel gewissere Wahrheit, als daß die Sonne hell scheint!

HERR REINHART lachend. Ich möchte gleichwohl lieber ein Capitel von Leibnitzens Theodicee gemacht haben, als der Erfinder des Einmal Eins seyn: was für ewige Wahrheiten auch immer darinnen stehen. Zu Jungfer Lottchen. Ich bleibe mit Fleiß bey dem Gleichnisse, was Sie aus der Arithmetik genommen haben: ungeachtet sie nur ein Theil der Mathematik ist.

HERR SINNREICH. Ich streite Ihnen nicht, daß Leibnitz ein großer Mann gewesen! das macht aber, er war ein großer Mathematicus.

HERR REINHART zeigt auf Vielwitzen. Da sitzt aber ein Mann, der an der Leibnitzischen Infinitesimalrechnung sehr viel auszusetzen hat.[20]

HERR SINNREICH sieht ihn von oben bis unten an. Sie? an Leibnitzens Infinitesimalrechnung?

HERR VIELWITZ sieht ihn wieder so an. Ja, mein Herr. Ich bin nicht gern ein blinder Verehrer von die großen Leute. Ich untersuche gern alles, und da finde ich, daß sie alle irrende Menschen gewesen.

HERR SINNREICH voll Verwunderung. Nun? z.B.: was haben Sie denn daran auszusetzen?

HERR VIELWITZ hochmüthig. Das wird sich zeigen, wenn mein Werk herauskommen wird.

HERR REINHART. Sie müssen wissen, daß der Herr Vielwitz sein Werk schon auf der Schule, als ein Secundaner, geschrieben hat. Es ist also schon fertig.

HERR SINNREICH sich verwundernd. Auf der Schule? Sind Sie auf einer Schule gewesen?

HERR VIELWITZ. Ja, mein Herr. Meines wissens bringt man das Latein nicht mit auf die Welt. Sind Sie etwa auf keiner Schule gewesen?

HERR SINNREICH. Es wäre eben so gut, wann es unterblieben wäre! Ich habe doch von keinem Lehrer was gelernet, als von dem Mathematico: das ist noch der einzige, von dem ich was gelernet habe!

JUNGFER LOTTCHEN lachend. Haben Sie denn das Lesen und Schreiben schon die ersten acht Tage Ihres Lebens gekonnt?

HERR JAMBUS. Nun, das könnte wohl seyn! Wenigstens kann ich ihm das Zeugniß geben, daß er so schreibt, als ich in meinem ersten Jahre auch hätte schreiben wollen.

HERR REINHART lachend. Ja, Herr Sinnreich, Ihre Liebste wird sich erst einmal an D: Fausts Zauberzeichen üben müssen, ehe sie Ihre Hand wird lesen können.

HERR SINNREICH stolz. Docti male pingunt! Indessen, um wieder auf die Schulen zu kommen; so wird man da nur mit lauter Ungewißheiten gequälet. Mit der philosophischen Ungewißheit, mit der juristischen, medicinischen, oratorischen, historischen, poetischen und tausend andern Ungewißheiten: so daß noch das einzige Wahre, was man höret, die Mathematik ist.

HERR REINHART lachend. Also, mein Herr Sinnreich, alles was Sie außer der Mathematik gelernet haben, das ist erlogen?[21]

HERR SINNREICH. Es giebt wohl einige Arten von halben Gewißheiten, oder Wahrscheinlichkeiten, in den andern Wissenschaften; allein auf die kann ein Kopf, der zu den ewigen Wahrheiten gebohren ist, allenfalls von sich selbst kommen. Dazu hätte ich keine Lehrer nöthig gehabt!

JUNGFER LOTTCHEN. Nun es ist mir lieb, daß ich keiner von Ihren Lehrern gewesen bin. Das würde mir ein wenig undankbar vorkommen!

HERR SINNREICH. Wenn Sie mir die Ehre thun, und meine Lehrmeisterinn werden wollen; so will ich Ihnen gern alle meine Wissenschaften verdanken.

HERR VIELWITZ. Sie werden also wohl schon etwas mathematisches geschrieben haben? Darf ich mich wohl etwas davon zu sehen ausbitten?

HERR SINNREICH. In etwa vierzehn Tagen, werde ich Sie mit einer Dissertation aufwarten können.

HERR VIELWITZ. Wovon wird sie handeln?

HERR SINNREICH. Von dem Maaße des Winkels der Abweichung derer Gesichtsstralen, womit ein Schielender einen Gegenstand ansieht.

HERR VIELWITZ. Das ist eine neue Materie!

HERR SINNREICH. Was ich davon sagen werde, das wird auch alles ganz neu seyn. Die Erfindungen gehören alle meine: und ich habe deswegen kein optisches Werk, ja nicht einmal den Newton nachgeschlagen: ungeachtet dieser noch das einzige Buch ist, das man sich nicht schämen darf, gelesen zu haben.

HERR VIELWITZ. Ich bin recht neugierig, das zu lesen.

HERR SINNREICH. Die Beweise schließe ich allemal mit einer oder zwey Zeilen aus einem mathematischen Poeten, als Pope, Gebhardi, oder dergleichen.

HERR JAMBUS. Nun, da sehen wirs! vorhin wollten Sie die Poesie herunter machen, und jetzt spicken Sie Ihre mathematischen Abhandlungen damit aus.

HERR SINNREICH. Ey Poesie und Poesie ist sehr unterschieden: Ich meyne nicht die Wiegenliederpoeten, wie Opitz, Canitz, Besser, Neukirch, Günther, und andere Dichter; sondern diejenigen, darinn man, das Wahre, das Schöne, das Hohe, das Tiefe, das Dunkele, das Gedachte, das Schalkhafte ... kurz, alles, was man nur abstract nennen kann, antrifft.[22]

JUNGFER LOTTCHEN lachend. Abstract? könnte man das nicht das Abgezogene nennen?

HERR REINHART lacht. Ja ja! das Abgezogene in Gedichten. Das ist sehr schön und abgezogen gesagt!

HERR JAMBUS. Nun Herr Sinnreich, Sie haben anjetzt den Herren Vielwitz lange genug unterhalten; nunmehr lassen Sie mich auch einmal mit der Dichtkunst daran kommen. Es ist ganz unnatürlich, daß ein Poet so lange schweigen und zuhören soll.

HERR SINNREICH. Meinethalben! Ich werde zum mindesten von der Poesie auch mit reden können. Dahingegen Sie von der Mathematik schweigen, und uns allein reden lassen mußten.

HERR JAMBUS zum Vielwitze. Sie haben unfehlbar schon viel schönes drucken lassen?

HERR VIELWITZ. Nein, das eben nicht. Aber ich denke dennoch, daß meine Arbeiten hier nicht unbekannt seyn können.

HERR SINNREICH. Ich besinne mich nicht; etwas von Sie gelesen zu haben.

HERR VIELWITZ erstaunt. Haben Sie nicht vergangenen August die Cantate auf dem Schellhaferischen Saale gehört?

HERR JAMBUS. Nein. Haben Sie die etwa gemacht?

HERR VIELWITZ. Ja. Der Componist schrieb an mir und ersuchte mir, ich möchte ihm die Ehre thun und ihm eine Cantate machen.

HERR REINHART zu den andern. Ey! meine Herren, das sollten Sie dem Manne nicht für ungenossen ausgehen lassen! Was? Zween solche körnichte Dichter in der Stadt zu haben, und noch nach Niedersachsen zu gehen, wenn man was schönes haben will? Das litte ich nicht!


Sie schütteln die Köpfe. Lottchen lacht.


HERR VIELWITZ. Ich mochte es ihm auch nicht abschlagen: denn ich dachte, es könnte des ehrlichen Mannes Glück seyn. Wenn er aber so dumm gewesen ist, und hat meinen Namen nicht darzu drucken lassen: Da habe ich nicht schuld an! Da kann ich nicht vor.

HERR SINNREICH. Nein, wir haben hier nichts davon gewußt.

HERR VIELWITZ. Das ist ein dummes Beest! Bey mich hat sich ein Componist Haus und Hof mit einer von meinen Cantaten verdient: sie war mich aber auch schön gerathen.

HERR REINHART. O! daran ist kein Zweifel.[23]

HERR VIELWITZ. Indessen, die ich nach hier machte, war auch schön: denn ich dachte, du mußt doch die Leipziger was hermachen, das eine Art hat! In eine Arie hatte ich aus der Algebra was angebracht. Das war recht schön. Ich hatte mich aber auch viel Mühe gegeben ... kann ich mir nicht noch darauf besinnen? Er sinnt nach.

HERR JAMBUS. Bedienen Sie sich auch der Participiorum, Herr Vielwitz?

HERR VIELWITZ. Ey! die sind meine beste Zierde! Die Cantate war recht voll davon.

JUNGFER LOTTCHEN. Was sind das für Dinger, Herr Reinhart?

HERR REINHART lächelnd. Das ist eben das, als wenn ich Ihnen sagte: zu kalt zum Trinken, wird der Caffee wohl weggeräumt werden müssen.

JUNGFER LOTTCHEN lacht. So so! und: Nicht gebohren zum aufwarten, werde ich wohl den Diener rufen müssen. Sie steht auf; die andern lachen und Jambus aus vollem Halse: so daß sich Lottchen die Ohren zuhält und abgeht.


Quelle:
Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Der Witzling. Berlin 1962, S. 19-24.
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