813. Das Fräulein von Willberg.934

[765] Nahe bei Höxter bildet die Lage der drei Dörfer Gockelheim, Amelungen und Ottbergen ein Dreieck, durch welches die Aa fließt. Gockelheim gegenüber liegt der Willberg, von dem eben die Rede gewesen ist. Auf diesem wandelt ein Fräulein herum und erscheint bisweilen und begabt die Menschen, wenn sie verständig sind.

Zwei junge Burschen aus Wehren, Peter und Knipping haben sie geheißen, gingen in den Wald nach Vogelnestern; der eine war erstaunlich faul, legte sich unter einen Baum und schlief ein, das war der Peter. Knipping verlor sich indessen im Walde und suchte Nester. Da zupfte den Peter etwas am Ohr, er wachte auf, sah sich um und sah nichts. Das geschah, nachdem der faule Peter wieder eingeschlafen war, zum zweiten und endlich gar zum dritten Male. Da mochte der Peter nicht länger liegen bleiben an einem so unruhigen Ort und stand auf einen ruhigern zu suchen, wo er im Frieden schlafen könne. Siehe da ging vor ihm her eine weiße[765] Jungfer, die knackte Nüsse auf, warf die Kerne auf die Erde und steckte die Schalen in die Tasche und verschwand. Peter las die Nüsse auf und aß sie und es freuete ihn, daß er nicht die Plage gehabt, sie selbst aufknacken zu müssen, denn das wäre ihm schon zu viel Arbeit gewesen. Da Peter nun den Knipping wiederfand, erzählte er ihm, was ihm begegnet war und zeigte ihm den Ort, wo das wandelnde Fräulein verschwunden war, danach machten sie sich Merkzeichen, holten noch ein Paar Kameraden und gruben an derselben Stelle. Da fanden sie ihr Glück, vieles Geld, soviel sie einsacken konnten. Am andern Tage wollten sie mehr holen, da war aber Alles verschwunden. Peter war aber ganz glücklich, er baute sich von seinem Gelde ein Haus, worin er herrlich schlafen konnte.

Ein anderer älterer Mann, auch aus Wehren, ging nach Amelungen, um auf der dortigen Mühle Korn zu mahlen. Auf dem Rückwege ruhte er ein wenig aus am Teich im Lau, da erschien ihm das Fräulein von Willberg und sprach zu ihm: »Trage mir zwei Eimer voll Wasser hinauf auf die Stolle von Willberg!« Solches that der Mann und als er die zwei Eimer voll Wasser auf den Gipfel des Berges gebracht, sprach das Fräulein: »Morgen gehe nach Ottenbergen, suche den Schäfer auf und bitte ihn um den Blumenbusch, den er auf seinem Hute trägt, dann komm zu dieser Stunde wieder.« Auch dieses that der Mann, ungern gab ihm der Schäfer den Blumenbusch, ein schönes Jungfräulein hatte ihm denselben geschenkt, er hatte aber nichts damit anzufangen verstanden, wußte nicht, daß das Fräulein von Willberg die Geberin und daß im Busch die Wunderblume war, vor der sich alle Schlösser und Riegel aufthun. Als jener mit dem Busch zu dem Fräulein auf den Gipfel des Willberges kam, sah er eine vorher nie erblickte eiserne Thüre, mußte den Blumenbusch vor das Schloß halten und da sprang die Thüre auf. In einer Höhle sah der Mann ein uraltes graues Männchen sitzen, dem war der Bart durch den Tisch gewachsen und ringsum standen Schätze zu Hauf. Ueber dem Tische aber hing ein goldener Kronleuchter. Jetzt begann der Mann einzusacken und legte, die Hände frei zu haben, den Blumenstrauß auf den Tisch. Das Fräulein aber sprach zu ihm: »Vergiß das Beste nicht!« Da langte der gute Mann nach dem goldenen Kronleuchter. Da hob das graue Männlein seine Hand und gab ihm eine Ohrfeige. Darüber erschrack der Mann über alle Maßen und eilte von dannen, ließ die Blumen liegen und hörte nicht auf des Fräuleins wiederholten Ruf: »Vergiß das Beste nicht!« Krachend flog die Gewölbethüre hinter ihm zu. Als er aber drunten am Berge war, Angesichts Gockelheim, wollte er seinen Schatz zählen, da fand er statt Geldes in seinen Taschen eitel Papierzettel, es stand auf jedem ein Wappen und ein Geldwerth. Der gute Mann konnte aber nicht lesen, was darauf stand, und warf das Papier in die Aa, da floß sein Glück dahin. Es war das erste Papiergeld gewesen.

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S. Bechstein S. 259.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 765-766.
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