1163. Die Vogelsburg und das Dorf Vogelbeck.

[938] (S. Schambach u. Müller, Niedersächs. Sagen S. 9.)


Auf der Vogelsburg, einem bewaldeten Berge bei dem Dorfe Vogelbeck, soll vor alten Zeiten eine Burg gestanden haben, worin ein Fürst wohnte. Bisweilen wird ein Mann Namens Vogel als der Bewohner derselben genannt, gewöhnlich aber Heinrich der Vogelsteller, der hier auch seinen Vogelherd gehabt haben soll. Als derselbe hier eifrig mit Vogelstellen beschäftigt war, wurde er abgerufen, da sagte er: nur noch einen Finken (will ich fangen)! und blieb so lange, bis er den einen Finken auch wirklich gefangen hatte. Davon hat er den Beinamen der Finkler erhalten. In dem vor der Vogelsburg herabfließenden Bache sind des Kaisers Vögel getränkt worden: davon heißt der Bach und das Dorf Vogelbeck.

Der alte Kuhhirt Wessel aus Vogelbeck führte eines Tages seine Heerde am Fuße der Vogelsburg. Als es Mittag wurde, wollte er Ruhe halten und streckte sich der Länge nach auf den Boden hin; unter den Kopf legte er sich seinen dreieckigen Hut und seine Kühe hatten sich ringsum ihn herum gelagert. Als er so ein Weilchen gelegen hatte, kam ein kleines weißes Männchen von der Vogelsburg herab gerade auf ihn zu und legte etwas wie ein Blatt Papier neben ihn hin. Der Hirt erschrack, indem er sich aber aufrichtete, war das Männchen schon wieder verschwunden. Ohne es genau zu besehen, steckte er das Papier, welches wohl einen Finger lang war, in die Tasche. Als er Abends nach Hause gekommen war, wollte er das Papier aus der Tasche nehmen und genauer besehen, statt des Papiers zog er aber eine Stange Gold heraus.

Einst gingen vier Musikanten von Ahlshausen über die Vogelsburg nach Einbeck, um daselbst zu musiziren. Als sie auf der Vogelsburg sind, macht einer von ihnen den Vorschlag, dem Kaiser Heinrich dem Vogelsteller zu Ehren ein Stück zu spielen. Sie thun dies, und als sie fertig sind, kommt mit einem Male eine weiße Jungfrau, hält ihnen einen Teller hin, worauf weiße Knochen liegen, und fordert Jeden auf, einen davon zu nehmen. Sie sind sehr bestürzt, so daß sie kein Wort sprechen, aber ein Jeder nimmt einen der Knochen, und weil sie die Knochen für werthlos halten, so lassen drei von ihnen ihren Knochen still am Leibe herunterfallen, und nur einer steckt ihn in die Tasche. Als sie eine Strecke weit gegangen sind, will dieser seinen Knochen ordentlich ansehen, greift in die Tasche und holt statt desselben[938] eine Stange Gold hervor. Nun kehren die andern zu der Stelle zurück, wo sie ihren Knochen hatten fallen lassen, finden aber nichts.

Auf der Vogelsburg hören spät am Abend mehrere Männer aus Vogelbeck etwas auf einem Baume wie ein Kind schreien, doch sehen sie nichts. Die Stimme war erst fein, wurde dann aber immer stärker. So oft sie darauf zu gingen, wich es jedesmal vor ihnen zurück und das Geschrei ließ sich dann von einem andern Baume her hören. Es gelang ihnen die Stelle, wo es saß, zu umschließen, wollten sie aber dann gerade darauf losgehen, so wich es wieder zurück. Sie standen nun von ihren fruchtlosen Bemühungen ab und wollten nach dem Dorfe zurückgehen, aber sie waren jetzt unvermögend sich von der Vogelsburg herabzufinden und erst am Morgen zwischen zwei und drei Uhr gelang es ihnen endlich wieder herabzukommen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 938-939.
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