907. Der Unkenkönig.

[779] (S. Lotich in d. Zeitschr. f. hess. Gesch. Bd. VI. S. 356.)


In Oberkalbach bei Schlüchtern im Hanauischen giebt es sehr große Unken (Schlangen?), zuweilen sind sie 3-4 Schuh lang und 1-21/2 Zoll dick. Sie werden für giftig gehalten. Ihre Eier, die sie in den Sand legen, brüten sie nicht selbst aus. Die Unke flieht den Menschen, stellt sich ihm aber, wenn man sie schabernackt. Eine, die über einen Steinhaufen flüchtete, pfiff und es erschienen gleich darauf andere. Hat eine Unke einen Menschen gestochen und gelangt zuerst dazu sich im Wasser abzuwaschen, so ist der Mensch verloren, er muß sterben, dagegen muß die Unke sterben, wenn der Gebissene vor ihr dorthin gelangt. Die Blindschleiche sagte einst, wenn sie so groß und so stark wäre wie die Unke, so verschone sie das Kind im Mutterleibe nicht, von der Zeit an war sie blind. Der Unkenkönig hat eine Krone, er läßt sie fallen, wenn man ihm ein rothes Tuch unterlegt. Wer eine Unkenkrone besitzt und versteht's, der ist sehr glücklich, alle Morgen vor Sonnenaufgang kann er ein Stückchen davon abschneiden, da hat er ein schwer Stück Gold. Fürchterlich ist der Unkenkönig in seiner Wuth, wenn man ihm seine Krone genommen hat, man mag dann auf den höchsten Baum steigen, er wartet einen ab.

Einmal breitete zu Vollmerz ein Mann das rothe Tuch aus, damit der Unkenkönig seine Krone darauf legen sollte. Da er aber fürchtete, sie[779] nicht ohne Gefahr davonbringen zu können, nahm er seinen Gaul mit. Kaum hatte er sie aber, so that die Unke einen Pfiff und eine Anzahl anderer kamen herbei und alle dem Manne, der im Galopp davonjagte, nach. Sie erreichten ihn und sprangen auf sein Pferd, da ließ er den Mantel fallen, die Unken aber, welche glaubten, der Mann selbst sei herabgefallen, machten sich über den Mantel her, und als ihn Tags darauf sein Herr wieder holte, fand er ihn ganz und gar zerstochen.

Einmal hat eine Familie zu Vollmerz gelebt, die hatte ein kleines Mädchen. Nicht weit von der Hausthüre des Hauses, wo sie wohnten, befand sich ein Rain, der mit Gebüsch bewachsen war. Das Kind pflegte da seine Milch zu essen, und da sich da öfters eine Unke herbeimachte, so ließ es diese mitessen. Da jene aber nur die Milch, und nicht auch das hineingebrockte Brod aß, nahm das Mädchen eines Tags den Löffel und schlug die Unke auf den Kopf mit den Worten: »Freß nit nur Nüh (Brühe), freß ach (auch) Nöcke (Brocken).« Die Eltern neugierig, mit wem ihr Töchterchen sprechen möge, kamen heraus und sahen die seltsame Kameradschaft. Sie lachten und ließen sie gewähren. Die Unken bekommen nun aber erst, wenn sie sieben Jahre alt sind, ihre Krone. Als nun unsere Unke sieben Jahre alt geworden war, bekam auch sie ihre Krone. Als aber später das kleine Mädchen erwachsen und Braut geworden war, kam sie und legte ihr zur Aussteuer ihre goldene Krone auf den Schooß.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 779-780.
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