957. Die wilden Leute.

[805] (S. Lyncker S. 59 etc.)


In jener alten Zeit, wo die Kinzig noch nicht zum Maine floß, sondern da, wo jetzt Schlüchtern steht, sich in einem großen Sumpfe verlor, kam eines Tages ein kleines graues Männchen in diese Gegend und bat in den umliegenden Hütten um etwas Brod und ein Obdach. Aber die Leute prügelten das Männchen fort von ihren Thüren, und so mußte es denn wieder fort und ging in die umliegende Wildniß, wo mitten zwischen dichten Bäumen auch noch einige Hütten standen, in welchen aber riesengroße Männer mit ihren ebenso großen Weibern wohnten, welche Kinder hatten, die so groß waren wie jetzt der größte Mann. Der kleine Mann fürchtete sich vor ihnen und wollte schon wieder Reißaus nehmen, allein die Riesen riefen ihn zurück, erquickten ihn mit Speise und Trank und machten ihm ein weiches Lager von duftigem Moos zurecht. Als nun der Morgen anbrach, rüstete sich das kleine Männchen zum Aufbruch, zuvor aber sprach es zu den Riesen: »Weil Ihr wohlthätig gegen mich gewesen seid, so thut einen Wunsch; wenn ich zu meinem Herrn komme, will ich ihn bitten, daß er ihn Euch gewähren möge.« Da sprachen die Riesen: »Wohl, wir bitten, daß wir niemals sterben, sondern immer in diesem Walde unser Wesen treiben dürfen.« Das Männchen antwortete: »Gut, ich kann Euch sagen, daß Euer Wunsch Euch gewährt werden wird, so lange Ihr diesen Berg nicht verlasset, werdet Ihr leben und nicht sterben!«

So leben denn die wilden Leute noch immer in dem sogenannten Bernhardswalde bei Schlüchtern, am linken Kinzigufer, und haben ihre Häuser dort oben, wo gewaltige Steinmassen herniederstarren, die werden die wilden Häuser genannt. Da essen die wilden Männer täglich am wilden Tische und ihre großen schönen Frauen steigen in den Mondnächten auf in die Lüfte, ihre Kinder schützen die Kinder der Menschen, wenn sie Beeren suchen im Walde. Die wilden Männer aber sind am lustigsten, wenn der Sturmwind tobt und der Blitz aus den Wolken fährt; dann gehen sie hoch oben über die Berge und rütteln an den Wipfeln der Bäume, sie freuen sich aber auch, wenn die Aaronspflanze gedeihlich emporwächst und wenn sie zwischen den Schachtelhalmen einhergehen können. Begegnen ihnen Leute im Walde, welche Kräuter für Kranke suchen, so zeigen sie ihnen die besten Heilkräuter, sind überhaupt nur gegen böse Menschen feindselig.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 805-806.
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