798. Die Wisperstimme.

[709] (S. Bechstein S. 68.)


Ohnweit Lorch am Rhein liegt eine Mühle im Wisperthale und am Wisperbach, darin lebten der Müller, seine Frau und einige Kinder ganz gut und glücklich mit einander. Das Haus aber lag dicht am Berg, auf[709] dem die alten Schlösser Kammerberg und Rheinberg stehen. Eines Tages geschah es, daß die Müllerin eine Stimme hörte, als wispere ihr Jemand ins Ohr und doch sah sie Niemand. Dann wisperte es aber wieder und sprach: »Gehe hinauf nach Kammerberg, hebe den Schatz im Thurme, er ist Dir bestimmt, der Schlüssel steckt am schwarzen Kasten!« Die Frau dadurch beunruhigt, erzählte ihrem Manne, was sie immer um sich wispern und flüstern höre, er aber sprach: »Possen, Hirngespinste, kehre Dich nicht an solche Dinge, unser Schatz ist der weiße Mehlkasten!« Aber die Frau hörte die Wisperstimme fort und fort und hatte keine Ruhe mehr und hatte auch keine Lust zur Arbeit, wenn ihr doch einmal der Schatz bescheert werden solle, und eines Morgens, als der Müller weit oben im Thale am Wehr in der Wisper zu bauen hatte und nicht sobald nach Hause zu kommen dachte, da ging die Frau mit ihrem jüngsten Kinde, einem Säugling, hinauf auf den Kammerberg. Der Müller aber vollendete sein Geschäft früher und kam nach Hause, es war gerade Mittag und Essenszeit, aber die Müllerin fehlte. Wie er nun nach der Mutter fragte, so sagte ihm sein ältester Knabe, daß seine Mutter mit dem jüngsten Kinde auf dem Arme schon längst den Berg hinaufgegangen sei. Eilends rann der Müller hinauf und als er in die Trümmer eintrat, hörte er die Stimme seines wimmernden Kindes, die aus der Oeffnung eines halbverfallenen Thurmgewölbes drang, stieg hinab und fand darin sein Weib leblos am Boden liegen. Schnell schleppt er Frau und Kind aus dem Gemäuer und bringt sie, so gut es geht, hinab in sein Haus. Hier ist die Müllerin nach langer Ohnmacht zu sich gekommen und hat erzählt, die Wisperstimme habe ihr Tag und Nacht keine Ruhe gelassen, sie habe hinaufgemußt, und die Stimme habe ihr auf dem Wege noch zugewispert, sie solle ganz ohne Furcht und Bangen sein, es werde ihr nichts geschehen, nur reden solle sie um keinen Preis. Sie stieg in das Thurmgewölbe hinab, da stand der Kasten, da stack der Schlüssel, sie öffnete, da lag das blanke Gold, sie durfte nur nehmen. Plötzlich hörte sie ihren ältern Knaben hinter ihr rufen: »Mutter, Mutter!« und sie antwortete unwillig: »Was giebt's?« Auf einmal that es einen entsetzlichen Krach, als berste der Thurm und als stürze das Gemäuer auf sie und ihr Kind nieder und eine Stimme rief: »Wehe, wehe, warum redest Du? Nun bin ich wieder unerlöst auf abermals hundert Jahre!« und da ist es der Müllerin schwarz vor den Augen geworden. Als sie das alles ihrem Mann erzählt hatte, ist sie in eine schwere Krankheit verfallen und nach drei Tagen eine Leiche gewesen. Das hat der Wispermüller selbst erzählt im Jahre des Herrn achtzehnhundert und vierzehn.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 709-710.
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