810. Die Kirche von Dietkirchen.

[716] (Poetisch behandelt von Henninger Bd. III. S. 71 etc.)


Auf schroffem Felsen am Ufer der Lahn steht die Kirche von Dietkirchen. Hier ward in der heidnischen Zeit das uralte Gericht zum Reckenforst gehalten, das jedesmal das Volk aus dem ganzen Gau um sich versammelte. Da erschien der h. Lubentius, der Apostel der Nassauer, wählte sich den schroff emporsteigenden Felsen über dem Flusse zur Kanzel und verkündete dem zahlreich hier zusammengeströmten Volke (um 350) das Evangelium und errichtete hier eine kleine Kapelle. Weil aber die Kirche so recht eigentlich eine Volkskirche war, so nannte man sie Dietkirchen (Diet von Thiuda, Volk) oder wie Andere wollen, vorzugsweise »die Kirche.«

Die jetzt hier befindliche Kirche hat aber einen andern Ursprung. Wenn man in dieselbe tritt, gewahrt man darin an der Wand in Stein gehauen einen Rittersmann mit Schwert und Schild und neben ihm hängen an der altersgrauen Wand schwere Fesseln für Fuß und Hand. Das ist ihr Erbauer, der Ritter Dietrich von Dern. Dieser war mit den Kreuzfahrern nach Palästina gezogen und dort in einer Schlacht in die Hände der Saracenen gefallen. Manches Jahr schmachtete er in tiefer Kerkersnacht und gab alle Hoffnung auf, jemals wieder die Freiheit zu erlangen. Da that er einst, als ihn eben wieder eine unnennbare Sehnsucht nach der Heimath überfiel, das Gelübde, er wolle, wenn er je wieder sein Vaterhaus wiedersehen werde, dort neben der Lahn auf dem heiligen Steine, wo die Gebeine des h. Lubentius ruhten, eine Kirche bauen. So flehte er andächtig, da kam ein süßer Schlummer, wie er ihn lange nicht gekostet, über ihn, und als er erwachte, fand er sich mitten in einem frischen grünen Walde, umtönt von dem lieblichen Gesang der Vögel. Er wollte seinen Augen nicht trauen, da hörte er von Vorübergehenden die heimischen Laute, er raffte sich auf, eilte ihnen nach und fragte, wo er sich befinde. Zwar schauten diese den hagern Mann in ärmlichen Kleidern verwundert an, allein sie sprachen: »Ihr seid in dem Walde von Dern!« Fort stürmte er hinauf ins Schloß und lag bald in den Armen seiner Gemahlin und Kinder, welche ihn längst für todt gehalten hatten. Und seines Wortes eingedenk, erbaute er auf der Höhe, welche man den Herrnberg nennt, die Dietrichskirche von Dietkirchen. Zum Andenken an den h. Lubentius nennen aber heute noch die Lahnschiffer den stromaufwärtsblasenden linden Wind den St. Lubentiwind und auf dem Strom selbst eine Strömung der Wellen gegen den Strom, die sich bald in der Mitte und bald an dem linken, bald an dem rechten Ufer so breit wie das Geleise eines Schiffleins zeigt, noch heute den Lubentiusstrom. Das Stift zu Dietkirchen aber bewahrte noch im Jahre 1525 ein übergoldetes Brustbild des guten Heiligen und ein silbernes Schifflein, welches ihm, ihrem Patron, die Lahnschiffer geweiht hatten.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 716-717.
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