451. Die schwarze Frau auf Stubbenkammer.

[479] (S. Temme S. 250 etc. nach Freyberg, Pommersche Sagen S. 19-22.)


In der Stubbenkammer auf der Insel Rügen befindet sich eine große tiefe Höhle, die Höhle der schwarzen Frau genannt, weil da eine solche schwarze Frau sitzt, welche für alle Ewigkeit dahin gebannt ist. Zu dieser Höhle aber führt ein steiler und schmaler Pfad, der tief in den Felsen hineingeht.

Früher hatte diese Frau einen goldenen Becher zu bewachen und eine weiße Taube oben auf dem Felsen hielt Wache. Vor mehr als hundert Jahren kam aber dorthin ein großes Schiff, daraus stiegen fremde Männer von großer Statur und fragten, wo die Höhle der schwarzen Frau sei. Als man ihnen den Weg dahin gezeigt, so stiegen sie hinauf, einen Gefangenen in ihrer Mitte. Dies war ein Mann, der in fernen Landen ein großes Verbrechen begangen hatte, von ihrem König aber begnadigt worden war, unter der Bedingung, daß er den goldenen Becher holen solle, den die schwarze Frau bewachte. Als sie nun bis an die Höhle gekommen waren, da löste man dem Gefangenen seine Fesseln und hieß ihn allein hineingehen. Dieselbe war offen, aber ganz von hellen Flammen erleuchtet und vor Hitze kaum zu betreten. Mitten in diesem Feuer saß aber unbeweglich die schwarze Frau, ganz schwarz gekleidet und einen schwarzen Schleier vor dem Gesichte. Neben ihr aber lag der goldene Becher, den sie hütete. Der Missethäter ging nun mitten durch die Lohe hin zu ihr und griff nach dem Becher, sie aber sprach: »Wähle das rechte, wenn Du dies wählst, bin ich auf ewig Dein.« Der Mann sah aber nichts als den Becher, ergriff denselben und eilte zur Höhle hinaus; er hätte die Frau selbst wählen sollen, so hätte er die Schätze obenein bekommen. Als er sich umdrehte, hörte er sie schwer hinter sich seufzen und ausrufen: »Wehe mir, nun bin ich auf ewig verloren!« In demselben Augenblicke verschwand auch die weiße Taube und ein schwarzer Rabe trat an ihre Stelle. Die Frau aber in der Höhle jammerte so laut, daß die Männer im Schiffe sie hörten, als der Missethäter ihnen den Becher brachte. Aus Furcht behielten sie ihn nicht, sondern schafften ihn in die benachbarte Kirche zu Bobbin, wo er noch ist.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 479.
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