470. Die Steinprobe.

[496] (Nach Temme S. 323 etc.)


In der Stubnitz, dem bekannten herrlichen Walde auf Rügen nicht weit von dem Herthasee findet man einen Stein, in welchem man die Spuren eines großen Fußes und eines ganz kleinen Kinderfußes eingedrückt findet. Hierüber erzählt sich das Volk folgende Sage. Zur Zeit als noch der Herthadienst auf der Insel Rügen im Flor war, war unter den Jungfrauen, welche sich dem Dienste dieser Göttin geweiht hatten, ein junges und schönes Mädchen. Dieselbe hatte wie alle ihre Mitpriesterinnen der Göttin ewige Jungfrauschaft geschworen, allein gleichwohl mit einem jungen Ritter ein Liebesverhältniß angeknüpft und hielt mit demselben alle Nächte Zusammenkünfte[496] am Ufer des heiligen Sees. Der Oberpriester bekam bald Kunde davon, daß eine der Priesterinnen nächtliche Unterredungen mit einem Manne habe, allein er wußte nicht, welche es sei, ertappen aber konnte er die Schuldige auch nicht, weil dieselbe natürlich diese Zusammenkünfte aussetzte. Er hielt nun zwar eine Ansprache an sie, worin er sie ermahnte, die Eidbrüchige zu bezeichnen, allein diese zeigte sich natürlich selbst nicht an und die Uebrigen wußten nichts Genaues. Er flehte also zu der Göttin, sie möge durch ein Wunder die Wahrheit an den Tag bringen. Er führte daher am nächsten Morgen sämmtliche Jungfrauen nach dem großen Opfersteine im Walde, dort befahl er ihnen, eine nach der andern mit dem nackten Fuße auf den Stein zu treten. Das thaten sie auch und als die Schuldige auf denselben trat, drückte sich nicht blos ihr eigener Fuß, sondern auch noch der eines kleinen Kindes in demselben ab. Dies bedeutete, daß sie ihre Unschuld verloren hatte und ein Kind unter dem Herzen trage. Hierauf soll der Oberpriester sie von der Stubbenkammer hinab ins Meer gestürzt haben, allein im Fallen hat sie ein Engel in seinen Armen aufgefangen und sanft hinab bis auf die Oberfläche des Wassers getragen. Dort aber erwartete sie ihr Geliebter mit einem Nachen, nahm sie in denselben auf und fuhr mit ihr davon in seine entfernte Heimath.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 496-497.
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