705. Der Irrgarten bei Riesenburg.

[640] (S. Erläut. Preußen Th. I. S. 121 etc. IV. S. 363. Temme S. 213.)


Es ist bekannt, daß die Brüder und Kreuzherrn des deutschen Ordens durch ihren Eid verpflichtet waren, Jerusalem die heilige Stadt gegen die Ungläubigen nicht blos zu vertheidigen, sondern auch, wenn es verloren gegangen sei, wieder zu erobern. Da sie nun dies weder konnten noch wollten, so suchten sie ihren Eid durch folgende List zu umgehen. Sie ließen fast bei allen ihren Schlössern in Preußen im Felde die Erde aufgraben und eine Art Festung mit Wällen und Gräben aufwerfen und nannten dieses einem Irrgarten ähnliche Werk Jerusalem. Anfangs mochten sie sich wirklich hierbei etwas gedacht haben, allein später trieben sie nur ihren Spott damit, denn wenn sie tüchtig geschmaust hatten, dann schickten sie ihre Knechte hinein und endlich kamen die Ritter und jagten jene mit Schlägen wieder heraus. Ein solcher Irrgarten namentlich ist auf einem Felde bei Marienburg gewesen, er war 55 Fuß lang und 60 Fuß breit, darin befand sich ein Kreuz im Felde gegraben, 54 Fuß lang und breit. In diesem Kreuze war es ruhig, allein in dem Irrgarten war es des Nachts dafür desto lebendiger. Man sah dort feurige Gestalten mit glühenden Schwertern in den Gräben hin- und herlaufen, das waren die ruhelosen Geister jener Ritter, welche diesen Spott getrieben hatten, nur daß jetzt nicht die Ritter die Knappen, sondern die Knappen die Ritter jagten.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 640.
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