15.

[31] »Glückauf, ein Jahr der Haft vorbei! denn winken

Seh' ich ein grünes Blatt am Fensterrande;

Gottlob, 's ist wieder Lenz! Schon will mich's dünken,

Als schaut' ich weit in sonn'ge Blumenlande!


Ich höre klingen die kristall'nen Bronnen,

Den Sprosser flöten zwischen duft'gen Ranken,

Ins Kerkerdunkel glänzen Frühlingssonnen,

Dir, stilles, grünes Blättlein, muß ich's danken!


Doch wehe, weh'! Des Epheus starr Gewinde

Hab' ich gesehn statt saft'gem Lenzgesträuche,

Ach statt des Frühlings ros'gem, frischen Kinde

Nur seine Mumie, die immergleiche!


Des Epheus Ranken grünen Fesseln gleichen,

Und mit dem Schergen steht er längst im Bunde;

Daß nicht des Kerkers Steine lockernd weichen,

Schlingt seine Arm' er um des Thurmes Runde!


Sein bitt'res Amt dem Wächter zu ersparen;

Nach mir zu schielen durch des Fensters Raine,

Kroch er heran, mühvoll, vielleicht seit Jahren,

Indeß nach einem einz'gen Lenz ich weine.«


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke,Band 1–4, Band 3, Berlin 1907, S. 31-32.
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