21. Auf eben selbige

[308] 1.

Tugend / wann ich dich zu lieben

mir so steiff nicht fürgesetzt /

blieb' ich durch so viel Betrüben

mehr als tausend mal verletzt.

Alle Wetter gehn auf mich /

Zornesstrahlen / haglen / knallen:

doch / solt auch der Himmel fallen /

gleichwol lieb und üb ich dich.


2.

Was ich deinetwegen leide /

gieß' ich alles in den Leth.

Mir beliebt die Weißheit-Weide:

daß / dem Unglück in die Wett

ich ganz unbeweglich bleib'

und die holden Musen ehre /

mich an Neid und Streit nit kehre /

etwas sie zu preißen schreib.


3.

Wird nit / in den sauren Wellen /

unsrer Perlen Zier erzeugt?

solt' ich nicht auch / in Leid-Quellen

meiner Freundin seyn geneigt?[309]

Ja / mein Herz / schließ dich nur zu /

wie der Perlen Mutter pfleget /

daß kein Grimm-Salz dich beweget:

Weißheit lieb' und leb in Ruh.


4.

Jason kunte nicht erlangen /

ohne Streit / das göldne Fell.

Hercules wurd nit ruhmprangen /

wann er nit in jener Höhl

hätt' erlegt die wilden Thier.

Tugend / muß mit Schmerz gebähren

ihre edle Frücht / die Ehren:

Niemand nehm ihm's anderst für.


5.

Meine Schöne / meine Reine /

Weißheit meine Herzen-Braut!

dir hab ich mich gantz alleine

zuregieren anvertraut.

Neid und Boßheit acht ich nicht /

ob sie schon die Tugend hassen.

Sich durch nichts abtreiben lassen /

in der Weißheit Liebes-Pflicht.

Quelle:
Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonnette, Nürnberg 1662, S. 308-310.
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