An Aeltern und Erzieher.

    An Aeltern und Erzieher. (Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen)
    An Aeltern und Erzieher. (Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen)


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Ich übergebe Euch hier eine Jugendschrift mit dem Wunsche, daß sie Euch willkommen seyn möge. Gleichwohl geschieht es mit einiger Verzagtheit, gleich dem Wanderer, der sicher nicht mit zuversichtlicher Ruhe einen Weg gehet, auf dem er so viele irre gegangen weiß, die vor ihm diese Strasse gewandelt. Möge ich wenigstens von der richtigen Strasse nicht zu ferne seyn, wie die Meisten, die sich mit der Jugendschriftstellerey befassen.

Was man gewöhnlich gegen Kindermährchen sagt und sagen kann – ich weiß es schon. Aber dennoch steht meine Ueberzeugung fest, daß die Jugend Mährchen haben muß. Mährchen-Poesie ist[3] möchte ich sagen, die Poesie der Kindheit des poetischen Lebensalters. Das Interesse, das Kinder daran nehmen, ist mein Beweis dafür. Und ich möchte behaupten, daß ein Mährchen von dem Aschenpittchen, dem Lebkuchenhäuschen, dem Schneewittchen u.d. gl. eben so gut (wo nicht besser) in eine gute Erziehung eingreifet, als die hundert und aber hundert geglätteten Erzählungen von dem eiteln Julchen, dem wil den Lorchen, dem leichtsinnigen Karl, dem gutherzigen Lottchen, und wie sie sonst betitelt seyn mögen.

Darum übergebe ich Euch Mährchen; und übergebe sie Euch, weil ich sie lieber in Euern, als der Kinder, Händen wüßte; weil ich wünschte, daß Ihr in den Abendstunden – (nur für den Abend ist das Mährchen) – das Vorlesen übernähmet. In dem häuslichen Kreise[4] unsers verdienstvollen deutschen Pädagogen, des Hrn. Kirchenraths Schwarz, wo auch das Mährchen nicht unter die Contrebande in der Erziehung gerechnet ist, wird es so behandelt, und dort überzeugte ich mich von dem Vortheile, den diese Behandlungsart gewährt.

Besonders Euch seyen diese Blätter geweyht, Ihr Mütter! besonders dir, glückliche Mutter acht blühender Kinder, die du in mütterlicher Brust noch rein bewahrest ein Herz aus den Tagen der goldenen Kindheit. Mögen sie dir, mögen sie jeder Mutter, die sie benutzt, eine stillerfreuliche Abendunterhaltung für die Kinder gewähren.


Ob ich den rechten Ton getroffen habe? – Ich wünsche es, ich hoffe es. Ich nahm wenigstens kein Stück auf, das nicht vorher die Probe bestanden hätte,[5] das ich nicht mehrmahls in einem zahlreichen Kinderkreise erzählt, oder vorgelesen, und das den Kindern nicht gefallen hätte. Ein einziges nehme ich davon aus. – Mögen die Kunstrichter meine Fehler und Irrungen mit freundlicher Zurechtweisung andeuten, – mit Danke werde ich sie erkennen, und bey einem vielleicht folgenden Bändchen benutzen.

Einige Ausdrücke im dramatisirten Schneewittchen, wie Teufel u.d. gl. fielen mir erst nach dem Drucke auf, indem ich sie bisher ihrer Natürlichkeit halber bey den rohen Karakteren der Personen, welchen sie in den Mund gelegt sind, übersah. Auch das Lied von Vater, Sohn und Geist, das dem wiedererweckten Schneewittchen in den Mund gelegt ist, gehört in kein Mährchen. Ich bitte diese Mängel zu verbessern vor der Mittheilung an Kinder. Eben so bitte ich[6] um Entschuldigung mehrerer mit eingelaufenen kleinen Orthographie und Interpunctionsfehler, die meiner Abwesenheit vom Druckorte zuzuschreiben sind, So wie auch die bedeutendern: S. 21, Zeile 2 von unten, wo es sieh statt sich, und S. 106, Z. 7–8 v. oben, wo es Wohnung statt Nahrung heissen sollte; S. 117, Z. 8 v.o. muß es statt wuchsen h. wüchsen, u.S. 131, Z. 8v. u. st. auch lese man doch.

Das Mährchen vom Schneewittchen ist nach einem unter mancherley starken Abweichungen bekannten Volksmährchen dieses Namens, aber nach eigener Umformung bearbeitet. So auch das zweyte »Hanns Dudeldee«. Ob sie durch meine Bearbeitung gewonnen haben, darüber steht das Urtheil nicht mir zu. Die Fabeln »von treuer Freundschaft«, »der zornige Löwe« und einige des[7] Anhangs »No. VII, kleinere Mährchen, Fabeln und Parabeln« sind nach Pilpai's oder Bidpai's (Bilbao's, wie es in der von mir benutzten Ausgabe einer Uebersetzung, wenn ich nicht irre, von 1538, heißt,) Unterweisung der alten weisen Meister. Die »drey Königssöhne« sind durch eine Erinnerung an ein ähnliches Volksmährchen veranlaßt; »die drey Königstöchter oder der Stein Opal« und die Mährchen und Parabeln des Anhangs gehören mir ganz an.

So nehmt sie denn hin, diese Blätter, meiner Muse Frucht, meiner Muse Schooskind, und nochmahls: möge es Euch willkommen seyn!


Weinheim an der Bergstrasse, im Herbstmonat 1808.


A.L. Grimm.[8]


Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg [1809].
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