573. Nidda

[575] Eine Gräfin hatte das Gelübde getan, an der Stelle, wo ihr Esel zuerst mit ihr stehenbliebe, ein Schloß zu erbauen. Als nun der Esel in einer sumpfigen Stelle stehenblieb, soll sie gerufen haben: »Nit da, nit da!« Allein das fruchtete nichts, und das Tier war nicht von demselben Platz zu bringen. Also baute sie wirklich ihr Schloß dahin, welches gleich der später da herum entstandenen Stadt den Namen Nidda behielt, die nah gelegene Wiese aber den der Eselswiese.

Noch mehreres davon wußten die Spielknaben vor einem halben Jahrhundert zu sagen, was damals unter dem Volk allgemein verbreitet war, jetzo vielleicht verschollen ist und vermutlich mit den abweichenden Umständen, die Winkelmann (Hessenlands Beschreib., Buch VI, S. 231; vgl. II, S. 193) wohl auch aus mündlicher Sage erzählt, näher eintrifft. Zu Zeiten Friedrich Rotbarts war Berthold, Graf zu Nidda, ein Raubritter,[575] hatte seinen Pferden die Hufeisen umkehren lassen, um die Wandersleute sicher zu berücken, und durch sein Umschweifen in Land und Straßen großen Schaden getan. Da zog des Kaisers Heer vor Altenburg, seine Raubfeste, und drängte ihn hart; allein Berthold wollte sich nicht ergeben. In der Not unterhandelte die Gräfin auf freien Abzug aus der Burg und erlangte endlich vom Heerführer, daß sie mit ihrem beladenen Maulesel und dem, was sie auf ihren Schultern ertragen könnte, frei herausgelassen werden sollte; mit ausdrücklicher Bedingung, daß sie nur ihre beste Sache trüge, auch der Graf selbst nicht auf dem Maulesel ritte. Hierauf nahm sie ihre drei Söhnlein, setzte sie zusammen auf das Tier, ihren Herrn aber hing sie über den Rücken und trug ihn den Berg hinab. So errettete sie ihn; allein bald ermatteten ihre Kräfte, daß sie nicht weiter konnte, und auch der müde Esel blieb im Sumpfe stecken. An der Stelle, wo sie nun diese Nacht zubrachten und ein Feuer angemacht, baute hernach die Gräfin drei Häuser ihren drei Söhnen auf, in der Gegend, wo jetzo Nieder-Nidda stehet. Die Altenburg ist zertrümmert, hat aber noch starke Gewölbe und Keller. Es geht gemeine Sage, daß da ein Schatz verborgen stecke; die Einwohner haben nachgegraben und Hufeisen gefunden, solche, die man den Pferden verkehrt aufnageln kann.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 575-576.
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