Das 12. Kapitel

[34] Vermerkt ein schöne Art selig zu sterben, und sich mit geringem Unkosten begraben zu lassen


Zwei Jahr ungefähr hatte ich zugebracht, und das harte eremitisch Leben kaum gewohnet, als mein bester Freund auf Erden seine Haue nahm, mir aber die Schaufel gab, und mich seiner täglichen Gewohnheit nach an der Hand in unsern Garten führte, da wir unser Gebet zu verrichten pflegten: »Nun Simplici, liebes Kind«, sagte er, »dieweil gottlob die Zeit vorhanden, daß ich aus dieser Welt scheiden, die Schuld der Natur bezahlen, und dich in dieser Welt hinter mir verlassen soll, zumalen deines Lebens künftige Begegnisse beiläufig sehe, und wohl weiß, daß du in dieser Einöde nicht lang verharren wirst, so hab ich dich auf dem angetretenen Weg der Tugend stärken, und dir einige Lehren zum Unterricht geben wollen, vermittelst deren du, als nach einer ohnfehlbaren Richtschnur, zur ewigen Seligkeit zu gelangen dein Leben anstellen sollest, damit du mit allen heiligen Auserwählten das Angesicht Gottes in jenem Leben ewiglich anzuschauen gewürdiget werdest.«

Diese Wort setzten meine Augen ins Wasser, wie hiebevor des Feinds Erfindung die Stadt Villingen, einmal, sie waren mir so unerträglich, daß ich sie nicht ertragen konnte, doch sagte ich: »Herzliebster Vater, willst du mich denn allein in diesem wilden Wald verlassen? Soll denn ...« mehrers vermochte ich nicht herauszubringen, denn meines Herzens Qual ward aus überflüssiger Lieb, die ich zu meinem getreuen Vater trug, also heftig, daß ich gleichsam wie tot zu seinen Füßen niedersank; Er hingegen richtet' mich wieder auf, tröstet' mich, so gut es Zeit und Gelegenheit zuließ, und verwies mir gleichsam fragend meinen Fehler, ob ich nämlich der Ordnung des Allerhöchsten widerstreben wollte? »Weißt du nicht«, sagt' er weiters, »daß solches weder Himmel noch Höll zu tun vermögen? nicht also mein Sohn! was unterstehest du dich, meinem schwachen Leib (welcher für sich selbst der Ruhe begierig ist) aufzubürden?[35] vermeinest du mich zu nötigen, länger in diesem Jammertal zu leben? Ach nein, mein Sohn, laß mich fahren, sintemal du mich ohne das weder mit Heulen noch Weinen, und noch viel weniger mit meinem Willen, länger in diesem Elend zu verharren wirst zwingen können, indem ich durch Gottes ausdrücklichen Willen daraus gefordert werde; folge anstatt deines unnützen Geschreis meinen letzten Worten, welche sind, daß du dich je länger je mehr selbst erkennen sollest, und wenn du gleich so alt als Methusalem würdest, so laß solche Übung nicht aus dem Herzen, denn daß die meisten Menschen verdammt werden, ist die Ursach, daß sie nicht gewußt haben, was sie gewesen, und was sie werden können, oder werden müssen.« Weiters riet er mir getreulich, ich sollte mich jederzeit vor böser Gesellschaft hüten, denn derselben Schädlichkeit wäre unaussprechlich. Er gab mir dessen ein Exempel und sagte: »Wenn du einen Tropfen Malvasier in ein Geschirr voll Essig schüttest, so wird er alsobald zu Essig; wirst du aber soviel Essig in Malvasier gießen, so wird er auch unter dem Malvasier hingehen. Liebster Sohn«, sagte er, »vor allen Dingen bleibe standhaftig, denn wer verharret bis ans End, der wird selig; geschiehet aber wider mein Verhoffen, daß du aus menschlicher Schwachheit fällst, so stehe durch ein rechtschaffene Buß geschwind wieder auf.«

Dieser sorgfältige fromme Mann hielt mir allein dies wenige vor, nicht zwar, als hätte er nichts mehrers gewußt, sondern darum, dieweil ich ihn erstlich meiner Jugend wegen nicht fähig genug zu sein bedünkte, ein mehrers in solchem Zustand zu fassen, und dann weil wenig Wort besser, als ein langes Geplauder, im Gedächtnis zu behalten sind, und wenn sie anders Saft und Nachdruck haben, durch das Nachdenken größern Nutzen schaffen, als ein langer Sermon, den man ausdrücklich verstanden hat, und bald wieder zu vergessen pflegt.

Diese drei Stück, sich selbst erkennen, böse Gesellschaft meiden, und beständig verbleiben, hat dieser fromme Mann ohne Zweifel deswegen für gut und nötig geachtet, weil er solches selbsten praktiziert, und daß es ihm dabei nicht[36] mißlungen ist; denn nachdem er sich selbst erkannt, hat er nicht allein böse Gesellschaften, sondern auch die ganze Welt geflohen, ist auch in solchem Vorsatz bis an das Ende verharret, an welchem ohn Zweifel die Seligkeit hängt, welchergestalt aber, folgt hernach.

Nachdem er mir nun obige Stück vorgehalten, hat er mit seiner Reuthaue angefangen sein eigenes Grab zu machen, ich half so gut ich konnte, wie er mir befahl, und bildete mir doch dasjenige nicht ein, worauf es angesehen war, indessen sagte er: »Mein lieber und wahrer einziger Sohn (denn ich habe sonsten keine Kreatur als dich zu Ehren unsers Schöpfers erzeuget) wenn meine Seele an ihren Ort gangen ist, so leiste meinem Leib deine Schuldigkeit und die letzte Ehre, scharre mich mit derjenigen Erden wieder zu, die wir anjetzo aus dieser Gruben gegraben haben.« Darauf nahm er mich in seine Arm und drückte mich küssend viel härter an seine Brust, als einem Mann, wie er zu sein schien, hätte möglich sein können: »Liebes Kind«, sagte er, »ich befehle dich in Gottes Schutz, und sterbe um soviel desto fröhlicher, weil ich hoffe, er werde dich darin aufnehmen«; Ich hingegen konnte nichts anders, als klagen und heulen, ich hängete mich an seine Ketten, die er am Hals trug, und vermeinte ihn damit zu halten, damit er mir nicht entgehen sollte. Er aber sagte: »Mein Sohn lasse mich, daß ich sehe, ob mir das Grab lang genug sei.« Legte demnach die Ketten ab, samt dem Oberrock, und begab sich in das Grab, gleichsam wie einer, der sich sonst schlafen legen will, sprechend: »Ach großer Gott, nun nimm wieder hin die Seele, die du mir gegeben, Herr, in deine Hände befehl ich meine Geist«, etc. Hierauf beschloß er seine Lippen und Augen sänftiglich, ich aber stand da wie ein Stockfisch und meinte nicht, daß seine liebe Seel den Leib gar verlassen haben sollte, dieweil ich ihn öfters in dergleichen Verzückungen gesehen hatte.

Ich verharrete, wie mein Gewohnheit in dergleichen Begebenheiten war, etlich Stund neben dem Grab im Gebet, als sich aber mein allerliebster Einsiedel nicht mehr aufrichten wollte, stieg ich zu ihm ins Grab hinunter, und fing[37] an ihn zu schütteln, zu küssen und zu liebeln, aber da war kein Leben mehr, weil der grimmige ohnerbittliche Tod den armen Simplicium seiner holden Beiwohnung beraubt hatte; ich begoß, oder besser zu sagen, ich balsamierte den entseelten Körper mit meinen Zähren, und nachdem ich lang mit jämmerlichem Geschrei hin und her gelaufen, fing ich an, ihn mit mehr Seufzern als Schaufeln voller Grund zuzuscharren, und wenn ich kaum sein Angesicht bedeckt hatte, stieg ich wieder hinunter, entblößte es wieder, damit ichs noch einmal sehen und küssen möchte, solches trieb ich den ganzen Tag, bis ich fertig worden, und auf diese Weis die funeralia, exequias und luctus gladiatorios allein geendet, weil ohnedas weder Bahr, Sarg, Decke, Lichter, Totenträger noch Geleitsleut, und auch keine Klerisei vorhanden gewesen, die den Toten besungen hätte.

Quelle:
Grimmelshausen, [H. J. Christoffel von]: Der abenteuerliche Simplicissimus. München 1956, S. 34-38.
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