Das Ross des Königs

[185] Na, gestern war mal wieder ein Duell, erzählte z.B. der Bruder. Auf einem Kasernenzimmer, in Nr. 39. Blanke Säbel, scharf geschliffen, und im Hemd, nur die Pulsadern verbunden, unten die Redouten maskiert, Donner! Es war 'ne tolle Geschichte. Und dem Chargierten Hartmann wurden zwei Finger lädiert, die auch wohl steif bleiben werden.

An sich war's zum Totlachen. Hartmann wollte zu Jung-Christianis, er erwartete da seine Luise, wir nennen sie nur das[185] Murmeltier. Na! Schon neun Uhr abends wurde rasch Zivilfrack angezogen und auf und davon, natürlich ohne Urlaub und durchs Fenster.

Bei Jung-Christianis in der Zimmerstraße ist Ball. Luise Waldmann, von ihrem langen Schlafen bis in den Mittag Murmeltier genannt, schön und, wenn sie wacht, lustig für zwei, wollte kommen. Es wird elf. Murmeltier schläft oder ist untreu. Na, kommt zum Apollosaal! heißt es. Auf und vorwärts ans Oranienburger Tor! Da wohnt Murmeltier. Wollen sehen, ob's in den Federn liegt. Wir stromern fort. Aber siehe da! An den Linden! Murmeltier am Arm des Chargierten Langheinrich, unsres Don Juans unter den Freiwilligen der Mörser- und Bombenwelt! Lustwandeln beide im Mondschein Unter den Linden, Luise Waldmann und Langheinrich! Na, wartet! hieß es. Steine her! Fünfzig Schritt Distanz mit Kartätschen! Auf Korn und Visier, ich treffe! ruft Hartmann außer sich. Die andern halten ihn zurück. Halunken! bricht Hartmann aus dem Dunkel hervor.

Die Szene wird ernst. Langheinrich zündet sich eine Zgarre an, verlangt ruhig Satisfaktion. Morgen um vier Uhr nachmittags! In der Kaserne! Ihr sorgt, daß die Gemeinen auswärts sind. Und richtig! Hartmann und Langheinrich schlagen sich. Hartmann wird rasend. Langheinrich mit majestätischer Ruhe. Hartmann nur nach dem Gesicht, auf das er neidisch ist. Langheinrich war hübscher. Der pariert nur. Blut! rufen endlich die Sekundanten.

Hartmanns Arm ist rot. Er wirst die Waffe von rechts nach links, will wieder ausfallen, attackiert mit Wut, es konnte Mord geben. Langheinrich, kalt und gefaßt, hat bei dem Rufe Blut! den Säbel weggeworfen und hält ihn mit dem Fuß fest. Stand nun ganz ungedeckt. Hartmann konnte ihn umrennen, wenn die Sekundanten ihn nicht mit Gewalt entwaffneten.

Pistolen! schrie Hartmann, Pistolen! Aber schon gestand er ein, daß ihn etwas kühl an den Rippen kitzelte. Es war das herabrieselnde Blut des verwundeten rechten Unterarms. Es quoll hinterm Rücken auf die linke Hüfte herab. Der Schläger war vier Zoll tief bis an die Knochen eingedrungen.[186]

Ein Klafterhieb! meinte der Chirurgus, den man schnell herbeigerufen. Was? Hieb? Hieb? rufen alle Anwesenden. Hier ist von keinem Hieb die Rede! Was reden Sie, »Gregorio«? Der Chirurgus, dem somit bedeutet wurde, nicht zu plaudern, lachte. Nun denn! Ein Glas, in das man fällt, kann auch vier Zoll tief schneiden – so wurde die Sache abgemacht, um sechs Wochen Lindenstraße (Militärarrest) zu vermeiden.

Zähneknirschend geht Hartmann ins Lazarett und kommt in die summarische Übersicht der Kommandantur als »unvorsichtige Verwundung«. Das Murmeltier will ihn im Lazarett trösten. Hartmann sieht die Weinende nicht wieder an. Sie wird abgewiesen.

Diese jungen lebens- und liebetollen »Stückknechte« stehen dann auch zuweilen in Spandauer Garnison. Die Zeit ist lang, und nirgends ist sie länger als in Spandau. Man muß sich dort – schon wieder drang das ins Ohr des Knaben – verlieben, um auszuhalten, wenn man's nicht schon ist.

Leider führt der Zufall oft aufs erste beste. Eine wohlhabende Witwe, Besitzerin eines eigenen Hauses, war verschwenderisch an Liebesgaben, weniger an Reizen. Sie begünstigte die Armee, bis es sich ereignete, daß nach Spandau Schauspieler kamen. Man denke sich Spandauer Schauspieler, einen »Devrient« von Spandau! Aber die Witwe wird dennoch der Armee untreu und geht zur Fahne Thaliens über.

Ohne Zweifel fand sich unter diesen Musenjüngern ein heißblutiger, werdender Romeo, ein Anfänger, dem nur die Rollen und die Gage fehlten, um aus ihm einen Künstler ersten Ranges zu machen. Die Witwe wenigstens schenkte ihm ihr soldatenmüdes Herz. Aber, Unglückliche, diese Fahnenflucht wird dir teuer zu stehen kommen! Wenigstens die Gardeartillerie hat dir geschworen, sich zu rächen.

Es ist tiefe, stille Mitternacht. Alles schweigt in Spandau, nur im Zuchthause, unter den schlafenden Spinnern und Spinnerinnen, hört man zuweilen den Anruf der Wachen. Die Witwe scheint noch nicht zu schlummern. Die Chargierten, Langheinrich[187] an der Spitze, schleichen sich an den Häusern entlang, sie sehen Gardinen schimmern, hinter ihnen zwei ombres chinoises.

Romeo ist bei der Witwe.

Nun werden die Laufgräben eröffnet. Man schleicht an die Haustür. Sie ist verschlossen; sie soll auch verschlossen bleiben. Man hat die Absicht, die Witwe einzunageln, Romeo zu einem Fenstersprung zu veranlassen, man will ihm mit taktischem Manöver den gewöhnlichen bürgerlichen Rückzug abschneiden.

Die Artillerie hat sich mit einem Bohrer und einem langen Draht versehen. Oberhalb des Haustürdrückers setzt Langheinrich den Bohrer an, der Bohrer dringt ohne das mindeste Geräusch in die Tür, bleibt fest, felsenfest, und nun wird der Draht so um den Bohrer und die Türklinke geschlungen, daß letztere von innen jeden Dienst versagen muß. Man kann drücken, kann zerren, kann rütteln, der Drücker geht nicht nieder, und das Haus ist nicht zu öffnen.

Kaum hat Langheinrich seine Belagerungsfinte ausgeführt, als durch die Nacht Schritte erdröhnen. Die Patrouille! Festungspatrouille! Husch! Ins Dunkel der Häuser!...

»Guten Abend, ihr Schwarzkrägen!« ruft der Gefreite der Patrouille. »Warum denn noch so spät auf der Straße?«

»Bester Rotkragen!« lautete die Antwort. »Wir haben noch auf dem Pulvermagazin zu schanzen und sammeln uns hier! Nehmt übrigens künftig die Laterne mit, daß ihr unsre Litzen seht!«

Der Gefreite sieht die goldenen Litzen der Bombardiere und Unteroffiziere und entschuldigt sich.

Endlich, es war zwei Uhr, wandelt ein Licht im Hause der Witwe auf und nieder. Romeo ist nicht in Verona, sondern in Spandau. Er springt nicht vom Balkon, sondern er eilt über die Treppe nach Hause. Schon hört man seine Schritte, schon schließt er das Haustor auf. Jetzt klinkt es. Baff! Die Tür geht nicht auf. Was ist das? ruft es drinnen. Man hört zwei Stimmen, Romeos und Juliens. Beide wetteifern in Vermutungen, Ahnungen, Verwünschungen. Es ist noch nicht die Balkonszene, die sie aufführen, sondern erst eine Hausflurvorszene.[188]

Endlich zwingt die Situation den Spandauer Romeo zu einer Parodie der Garten- und Mauersprünge des liebenswürdigen Montague. Das Fenster öffnet sich. Ein niedriger erster Stock. Oben noch ein Abschied in allen philomelischen Akkorden.

»Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche!«

Er aber, Romeo: »Es war die Lerche, nicht die Nachtigall.« Und plumps! Unten lag er! Wohlbehalten an sich, ohne eine Spur von Verletzung, aber über ihm waltete die rauhe Hand des Schicksals in Gestalt eines Nachtwächters.

Man muß wissen, was ehedem ein Nachtwächter war, und gar ein Nachtwächter in Spandau! Jetzt ist die Nacht den Menschen so befreundet geworden, daß man solche wandelnde Festungen, wie vormals ein bewaffneter Nachtwächter war, vollends im Winter, nicht mehr antrifft. Ein Dieb! Ein Einbrecher! Romeo sträubt sich, protestiert, bietet seine »Gage«, seine eben erhaltenen Liebespfänder an, er beruft sich auf seine Künstlerehre.

Langheinrich bekommt Mitleid. Denn alle Liebenden haben einen Drang, sich gegen die schnöde Welt solidarisch beizustehen. Aber was tun? Aus der Seitengasse herausspringen, den unglücklichen Montague mit Mercutioaufopferung retten? Es würde ihnen allen einen »Mittelarrest« von wenigstens drei Tagen verschafft haben. Da hilft sich der kluge Musensohn selbst. Angekommen an dem Marktplatz und dessen nächtlich schlummerndem Gerümpel, reißt er sich aus Nachtwächtershänden los, stürztin die dort aufgeschlagene bretterne Budenwelt und ist spurlos verschwunden.

Der schwerfällige Häscher ruht freilich nicht. Hilfe! Hilfe! Diebe! Heraus! ruft die Wache am Rathause. Der Wächter pfeift. Am liebsten hätte er Feuer geblasen. Die Wache schickt ihm drei Mann Sukkurs. An das Haus der Witwe! Der Nachtwächter will den Einbruch, das geöffnete Fenster konstatieren. Die Rotkragen folgen, Menschen sehen in Schlafmützen aus den Fenstern. Acht! Es wird lebendig in Spandau. Die Schwarzkragen können sich jetzt unter die allgemein erwachende Neugier mischen. Man untersucht[189] das Haus der Witwe. Alles ist dort still, alle Läden sind geschlossen. Aber halt! Die Tür! Ein Bohrer, ein Draht an der Tür! Diebe! Die fünfzigjährige Julia Capulet erscheint oben am Fenster im Nachtgewande.

»Schließen Sie von innen auf! Diebe!« ruft man der Witwe zu.

Halb Spandau umzingelt das Haus. Laternen lösen das Rätsel der unfähig gemachten Tür. Dunkle Taten können nicht geleugnet werden. Man entbohrt das Haus und biegt den Draht ab. Am andern Morgen steht ein Steckbrief auf den Entsprungenen am Tor angeschlagen. Doch nahm Romeo schnell ein Engagement einige Meilen weiter in Nauen oder Friesack an, die Witwe reiste bald »ins Bad« nach Berlin, und die Chargierten der Artillerie waren großmütig genug, Langheinrichs Schwank, der sich allmählich von selbst lichtete, nicht noch mit schadenfrohen Zündern und artilleristischen Leuchtkugeln weiter zu erhellen.

Aber wir haben ja zum »Roß des Königs« kommen wollen! Eines Tages war beim Chef des gesamten preußischen Artilleriewesens, dem persönlichen Eroberer jener Kanone vor dem Schlosse Bellevue, dem ehemaligen Anbeter der berühmten Récamier, dem Prinzen August in der Wilhelmstraße, eine große »Abfütterung« der Offiziere. Die Offiziere nannten die ihnen angetane Ehre im Nichtkurialstil selbst so.

»Wohlan«, sagte von den Chargierten einer, als die Batteriepferde zu Mittag endlich alle säuberlich geputzt waren, »heute, dächten wir, sind wir doch wohl vollkommen sicher. Der Oberst, der Kapitän, die Leutnants essen in der Wilhelmstraße geschmorte Kubik- und Quadratwurzeln, und höchstens unser kleiner Fähnrich von Haase studiert im Zimmermann, wie wirm hätten anstellen sollen, mit a2 X b2 neulich das Geschütz aus dem Graben zu holen, das uns beim Manöver umschlug.«

Diese Rede kam von Langheinrich, der endlich den Murmeltieren und Spandauer Witwen entsagt hatte und von den Banden einer reinen, edlen, tugendhaften Liebe gefesselt war. Die schöne Pauline, die Tochter eines Wirts in der Heide am Plötzensee, war eine allgemein bewunderte Liebenswürdigkeit auf der[190] ganzen Nordwestseite der Hauptstadt. Man glaubte, daß Langheinrich ihr Herz nicht ungeteilt besaß. Wenigstens widmete Fähnrich von Haase dem Plötzensee eine solche Naturliebe, daß man annehmen mußte, er wäre trotz seiner jugendlichen Unreife Langheinrichs Nebenbuhler in der Gunst der schönen Wirtstochter. Langheinrich stimmte in den allgemeinen Wunsch ein, die Freiheit und das herrlichste Wetter zu einem massenhaften Spazierritte zu benutzen. Man nahm dazu – »die Pferde des Königs«!

Ein gewagtes, gefährliches Unterfangen! Ein Spazierritt mit »Staatsgut«, mit den »Rossen des Königs«! »Pah!« rief der versöhnte Hartmann. »In der Wilhelmstraße wird getafelt! Fähnrich von Haase hat die Stallwache, aber er kommt erst gegen Abend! Gesattelt! In den Bügel! Müssen wir aber doch ›Prison besehen‹, so ruhen wir uns einmal gemütlich auf der Pritsche aus.«

Gesagt, getan! Zwei Feuerwerker, fünf Unteroffiziere, drei Bombardiere satteln die »Rosse des Königs« zu ihrem – Privatvergnügen.

Wohin? hieß es, als man den Fuß schon in den Steigbügeln hielt. Auf den Gesundbrunnen! riefen die einen. Zur schönen Pauline! die anderen. Und: In die Jungfernheide! fielen alle ein, noch ehe Langheinrich nachdrücklicher hatte widerraten können. Man gibt die Sporen, sprengt zur Pforte des Stallgebäudes hinaus und schwenkt links ab zum Oranienburger Tor, an den Kirchhöfen, Gärten, Landhäuschen, dem Apollosaal vorüber, zum Jägerhaus an der Panke und durch die sandige Kiefern- und Eichenwaldung zum Plötzensee.

Unterwegs gab es um so lustigere Gespräche, je mehr es im Gewissen rumorte. Die Menschennatur betrügt sich gern selbst. Die Erinnerung an ein Abenteuer mit dem englischen Gesandten lebte noch frisch in diesen wilden Köpfen. Ihrer vierzig Mann stark, waren kürzlich die Avancierten nach Küstrin marschiert, um Rekruten einzuüben. Auf der Frankfurter Chaussee, dicht bei der »Neuen Welt«, begegnet der Truppe der englische Gesandte zu Pferde. Die Marschierenden wollen ebensowenig ausweichen wie[191] Mylord. Mylord hält sein Vollblut an, hebt die Peitsche, gibt die Sporen und reitet mitten in den Kriegerschwarm hinein. Dieser, statt auseinanderzustieben, verengert sich. Mylord schlägt mit der Gerte links und rechts unter die Drängenden. Es war die Zeit, wo Codrington bei Navarin gesiegt hatte und Wellingtons Name die Alte Welt regierte. Dennoch gab es hier an der »Neuen Welt« ein Scharmützel. Mylord wurde an seinen langen großbritannischen Beinen gefaßt, bügellos gemacht, heruntergezogen und so übel von einer Truppe der Heiligen Allianz zugerichtet, daß die Erfahrenen und Ältesten des Korps, als der mutige Kämpfer gerufen hatte: »Goddam! Very well! Ich bin der englische Gesandte!«, von dem verletzten Völkerrecht und dem Bruch des politischen Gleichgewichts in Europa eine Ahnung bekamen.

Der Gesandte sah den Schrecken, den plötzlich die Nennung seiner Würde hervorbrachte, verleugnete aber seinen britischen Humor nicht. Er zog die Börse, reichte mit den Worten: »Ihr habt mich gut durchgehauen, Soldaten!« seine Guineen rundherum jedem, der etwa zugreifen wollte. Niemand griff zu.

Mylord bestieg sein Pferd, klemmte die Lorgnette ins linke Auge und ritt lachend von dannen. Die bestürzte Mannschaft schließt einen Kreis, leistet einander einen feierlichen Schwur, um alle »Europäischen Verwicklungen« zu vermeiden, den Vorfall an der »Neuen Welt« ersterben zu lassen und keinen Rapport darüber zu erstatten. Mylord tat desgleichen. Und so erstarb diese Affäre, die einen Notenkrieg zwischen Berlin und London hätte veranlassen können. Er erstarb in einem Schwur dieser vierzig Mann, unter denen sich auch der Bruder befand. Er erzählte, man hatte den Vorfall so heilig genommen, daß jedem, der beim feierlichen Ehrenwortgeben rauchte und im Rauchen fortfuhr, der »Cigaro« vom Munde weggeschlagen wurde.

Mit diesen Erinnerungen trabte die Gesellschaft auf den Rossen des Königs in die Tegeler Heide. Jetzt erzählten sich die Staatsfrevler von Kraft- und Kernausdrücken der Kameraden. Wieder mußte florieren der alte Feuerwerker Trimm, den alle damals in Küstrin kennengelernt hatten. Trimm! Du Stichblatt jeder lustigen[192] Laune! Unerschöpflicher Vorrat für die Unterhaltung! Um einen plötzlichen Schreck zu bezeichnen, sagte der alte Feuerwerker in Küstrin gewöhnlich: »Mich krepierte aber auch gleich 'ne siebenpfündige Granate im Leibe.«

Als ihn ein ehemals »Napoleonischer Deutscher«, ein Major in Küstrin, zu oft »Korporal« genannt, krepierte ihm wieder eine Granate im Leib, diesmal vor Ärger. »Herr Oberstwachtmeister, ich diene der preußischen Fahne nun schon zwanzig Jahre, aber noch keine Minute als so ein Ding wie ein Korporal.« Die Bezeichnung war in der preußischen Armee nicht gang und gäbe. Eine Lieblingswendung Trimms war ein Kernspruch der äußersten Entrüstung: »Da möchte einem die pure Seele vom Leibe faulen!« Drohte Trimm mit dem Messer oder der Säbelklinge, so sagte er: »Hund, ich mache dir was zwischen Lunge und Leber!« Um einen Menschen zu bezeichnen, der kaum etwas mehr als ein Kalb war, pflegte er zu sagen: »Wenn ein Ochse gebären könnte, so wüßte ich, wer dem Menschen seine Mutter wäre.« Auf einen ausrangierten alten, ihm zu eigen gewordenen Säbel ließ er sich die Worte ätzen: »Recht zu tun ist jedermanns Pflicht. Anders wenigstens will es mein König nicht!«

Endlich bis zur Jungfernheide gekommen, lenkte man zum Plötzensee ein, immer in dem tiefen, urweltlich vom Meere angeschwemmten märkischen Sand. Pauline empfing die Gäste mit nicht minderer Aufmerksamkeit als »die Rosse des Königs«.

Die starken, kräftigen Tiere wurden in den Stall gebracht. Es war drückend heiß. Der harzige Duft des Tannenwaldes verlockte, im Freien zu bleiben, aber das niedrige, still im Grünen gelegene Häuschen bot noch kühleren Schatten. Man bewirtete die Gäste nach Verlangen, nur Langheinrich schien der Bevorzugte zu sein und mußte sich die Neckereien der Kameraden gefallen lassen.

Langheinrich forschte nach dem Fähnrich. Lachend gestand Pauline, daß das Bürschlein sie oft heimsuchte und schon vorgegeben hatte, er wolle nächstens einmal im Plötzensee angeln. Pauline hatte nicht einmal verstanden, daß der Junker figürlich gesprochen[193] und unter den Fischen des Plötzensees sie selbst verstanden hatte. Freilich, wenn silberne Portepees der Köder sind! hieß es. Der Stich war für Langheinrich bestimmt; zu lernen und sich aufs Examen vorzubereiten war seine Sache nicht. Es wurde Zeit, daß Paulinens Erkorner einen Beweis der Liebe und Treue gab, deren die schöne Tochter des Waldes für ihn fähig sein konnte.

Es kam die Rede auf das letzte dreitägige Manöver. Langheinrich erzählte, er wäre in der letzten Nacht auf seinem Tier eingeschlafen. Die Kameraden wußten die Position, wo man in der Nähe einer Reservebatterie unter fernem Kanonendonner als ganz alleinstehender Wachtposten einschlafen konnte. Hinter dem Wedding hatte sich der Kampf zwischen den beiden von General von Tauentzien und dem Herzog Karl von Mecklenburg gegeneinander operierenden Korps eröffnet und war durch einen forcierten Marsch nach Südost plötzlich in die sogenannten Rollberge hinübergeworfen. Die Reserve des Tauentzienschen Korps folgte langsam und kam nicht ins Feuer. Nichts ist nun abmattender als eine solche Wacht in der Sonnenhitze des Tages und unter der Furcht der Alarmierung in der Nacht. Die Biwaks konnten nicht aufgeschlagen werden; von Spandau aus durch die Tegeler Heide hatte die Reserve immer langsam vorwärts zu rücken und dabei eine Umgehung über den Kreuzberg von Süden her zu gewärtigen.

Langheinrich schlief also ein. Er hatte sich den Zügel zur Vorsicht um seinen Fuß geschlungen, aber die Windung mußte sich gelöst haben, er war vom Pferde geglitten und schlafend im Walde liegengeblieben. Sein Pferd ist plötzlich ohne Reiter. In der Ferne beginnt schon wieder die Kanonade. Früh, Morgendämmerung, und Langheinrich fehlt an der Batterie. Sein Pferd, Rinaldo wurde sein Gaul selbst in einem Militärstall genannt, irrt hin und her im Walde und im Sande. Der treue Fuchswallach scheint zu ahnen, wie groß die Verantwortlichkeit war, der sich sein leichtsinniger Herr aussetzte; denn nicht wenig Wochen Arrest standen auf eine solche Vernachlässigung des Dienstes.

Rinaldo irrt mit fliegenden Steigbügeln, sucht und sucht und[194] entschließt sich endlich – denn fast möchte man von »Intellekt« reden –, des schlummernden Reiters Unfall zu melden, wo derselbe seit Monaten täglich zu finden war.

Rinaldo, der nicht sagen kann: Langheinrich, steh auf. die Kanonade geht an!, trabt durch Busch und Baum zur schönen Pauline. Diese hört in noch so früher Morgenstunde das Wiehern und Stampfen eines Rosses draußen, öffnet ihr Fenster und erblickt Rinaldo gesattelt, herrenlos, wie auf der Flucht. Sie schreit vor Entsetzen auf. Man öffnet das Tor, läßt den Renner ein, bringt ihn in den Stall und möchte ihn ausfragen, wo sein Herr geblieben.

Schon kommt das Schießen näher. Tauentziens Reserve soll vorrücken. Pauline, kriegskundig wie jede Soldatenbraut, ahnt die dienstliche Gefahr des Freundes, selbst wenn ihn kein weiteres persönliches Unglück getroffen hätte und ihm der Gaul nur durch Zufall entkommen. Sie macht sich mit Knechten, Mägden, mit Vater und Mutter auf, läuft in den Wald und sucht Rinaldos Herrn. Endlich finden sie ihn; im tiefsten Sande, unter den abgefallenen Eicheln und den welken Blättern von Zwergeichen, die ihr ja alle kennt aus den märkischen Wäldern!

Man weckt den Schläfer. Er sieht um sich, hört das Schießen. Mein Pferd! Mein Pferd! Es ist geborgen, heißt es, im Stall von Plötzensee. Gott im Himmel – das kann mich...!

In einer Viertelstunde hatte er seinen Gaul wieder. In einer halben rief das Signal zur Sammlung aller Mannschaften und zum Rückzug. Hätte Langheinrich gefehlt oder er wäre unberitten am Posten erschienen, es würde ihm mehrere Wochen Gelegenheit zu einsamen Monologen in der Lindenstraße gegeben haben.

Bravo! riefen die Kameraden nach dieser Erzählung. Paulinen wurde ein Hoch gebracht, das letzte Glas ausgetrunken und allmählich der Heimritt angetreten. Wie streichelte Pauline den braven Rinaldo, der damals die Fürsorge und Obhut der Geliebten wachgerufen hatte! Noch brach sie Haselnußzweige und steckte sie da und dort unter das Riemenzeug und die Sattelgurte des guten Braunen, um ihm die stechenden Fliegen abzuhalten. Als wollte[195] er danken, schlägt Rinaldo den Schweif und scharrt mit dem Vorderfuß.

Man steigt auf, gibt die Sporen und scheidet. Ein halbgelungenes Wagnis gibt für die zweite Hälfte des Frevels doppelten Mut. Den Herren Geschützführern war ihr dienstwidriger Spazierritt mit den »Rossen des Königs« zur Hälfte gelungen, der Heimritt stimmte sie übermütig. Batterietrab! hieß es. So fliegen sie durch die engeren Wege dahin! Sie biegen in die chaussierte Straße in zwei Zügen und nun gar auf Kommando: Batteriegalopp! Der linke Fuß kitzelte die Weichen, und die Tiere springen rechts an zu einem Ritt, der den Staub der Straße aufwirbelt und das ganze damals kirchhofstille Viertel des Woltersdorfer Theaters alarmiert. Aber hilf, Himmel! Bei einem Ausbiegenmüssen an schwerfälligen Lastwagen stürzen drei Reiter, unter ihnen Langheinrich.

Der junge Don Juan im Doppeltuch ist für sich glücklich und bleibt unversehrt, aber sein treues Roß! Rinaldo, das Pferd des Königs, prallt mit dem Kopf an einen Chausseestein und bleibt für tot liegen. Alles hält erschrocken an, springt ab, ein Roß, das sich von einem Sturz nicht sogleich erhebt, muß tot oder zum Tod verwundet sein. Da tröpfelt Blut! Rinaldo ist tot!

Leichenblaß und ratlos stehen die übermütigen jungen Männer, an den Zügeln die dampfenden Pferde haltend. Langheinrich will noch einen Scherz über Geographie, Längenmaße, numerierte Chausseesteine mit soundso viel Quadratfüßen wagen, aber das Wort stockt ihm im Munde. Sein Rinaldo regt sich nicht.

Er faßt des Rosses Puls, ruft: »Es ist nicht tot!« Aber auch ebenso rasch antworten die anderen: »Seht nur das Auge!« Langheinrich starrt. Der Anblick, der sich ihm bot, war entsetzlich. Dem guten, treuen, lieben Rinaldo war sein schönes, schwarzes, glänzendes Augenoval aus der Höhle gedrängt; furchtbar anzuschauen.

Langheinrich fühlte ein Zucken, als sollt' er zusammensinken oder als »krepierte ihm in der innersten Leber«, wie »Korporal« Trimm gesagt haben würde, »eine siebenpfündige Granate«.[196]

Doch greift er nach der Kandare, nimmt sie sanft vom Kopf des Pferdes, lüftet den Sattelgurt. Alle zittern um die allgemeine Schuld. Das Tier springt auf, aber das Auge bleibt an der Höhle hängen, blutend. Jede Hilfe scheint unmöglich.

Man muß das unendlich rührende Schweigen eines duldenden Pferdes kennen, um zu begreifen, wie dem so bitter Bestraften dieser Anblick die Seele zerriß.

Langheinrich ist der erste, der sich sammelt. Er streichelt sein Tier, spricht kosende, liebevolle Worte: »Rinaldo! Mein alter Hans, was machst du mit mir?« Menschen umstanden schon die Szene. Alles Aufsehen war zu vermeiden. Zurück, zurück zu Paulinen! Die andern wandten die Rosse, Langheinrich führte Rinaldo am Zügel. Langsam und die Rosse wie halb lahm, ging es in den Wald zurück. Die Freunde dort sehen von fern den Trauerzug, stürzen den Rückkehrenden entgegen. Pauline findet ihr mit Reisern geschmücktes, geliebtes Roß so mit gesenktem Haupte im Sande schleichend wieder. Was ist geschehen? Rinaldo! Ruhe! Ruhe! Langheinrich weist jede Berührung seines Pferdes zurück, verlangt Leinen, Essig, Wasser, schüssel- und eimerweise. Man bringt das Verlangte. Langheinrich ersucht die Kameraden, des Tieres Kopf zu halten. Andere heben den Vorderfuß. Nun nimmt er das befeuchtete Leinen, reinigt das Tier rings um das entquollene Auge vom Blut und beginnt dann, sanft, milde und gelassen das Auge wieder in die Höhle zurückzudrängen. Rinaldo hält aus mit der himmlischen Geduld, die Tieren eigen ist, wenn sie leiden. Alles steht starr und schweigsam. »Laßt los!« ruft Langheinrich mit Entschlossenheit. Die Kameraden springen zurück, Rinaldo schüttelt sich. Die Operation war gelungen. Das Bluten hörte auf. »Aber was half's!« fügte Langheinrich, dessen Veterinärkenntnisse bewundert wurden, hinzu: »Armer Rinaldo, wirst für immer blind bleiben an dem Auge und bist es schon!« Pauline weinte. Die Zeit zur Klage war gemessen. Das Diner in der Wilhelmstraße konnte zu Ende sein. Man ritt zurück; und nichtim Batterietrab, noch weniger im Batteriegalopp. Man ritt, wie Entdeckung fürchtende Sünder am Hochgericht vorbeireiten könnten.[197]

Im Stall angelangt, trifft man schon Fähnrich von Haase, den Angler vom Plötzensee. Das war ein Zetermordio. Die kleine Kadettenautorität mit der Fistelstimme tobt und rast und schreit »Hochverrat am Königsgut« und droht mit allen Schrecken der Lindenstraße.

Vorerst mußte man ruhig seinen Grimm hinnehmen und auf zwei Dinge sinnen, einmal, ihm den Zustand Rinaldos zu verbergen, und zweitens, ihn auf irgendeine Art zum Mitschuldigen zu machen. Daß er schon beim Ausritt trotz der Stallwache, die ihm oblag, gefehlt hatte, war ein Umstand, der auch ihn belastete und sein sicheres Auftreten allmählich milderte.

Dem Rinaldo war der Gurt aufgeschnallt, der Sattel abgenommen, der Halfter aufgelegt. Der Fähnrich merkte nichts. Im Gegenteil, der eine Teil der Sünder gibt sich ein leichtes, gewissensruhiges Ansehen, trällert, spricht vom Diner in der Wilhelmstraße, von gekochten Kubikwurzeln mit Fischkoteletts, von Ikleien, Steckerlingen und Stinten im Plötzensee, und Fähnrich von Haase läßt sich immer mehr fesseln. In die reizende, schlanke Pauline mußte er verliebt sein mit dem ganzen Feuer, das sich bisher in den Mauern des Kadettenhauses in der Klosterstraße nur in Phantasien hatte auslodern können. Er sah nicht, daß Rinaldo still und traurig vor der Krippe stand, nicht fraß, den Kopf senkte oder ihn zuweilen nur leise, wie ermüdet oder wie von Hitze gequält, an die Wand legte, als suchte er Kühlung für die tief unterm Auge geheim brennende Wunde, es mußte durchaus ein Tierarzt herbei. Langheinrich war entschlossen.

»Herr von Haase, wenn Sie wollen, will ich die Stallwache für Sie übernehmen und die Nacht statt Ihrer hierbleiben.«

Der Fähnrich fixierte seinen Rivalen, schlug den Roman aus Fernbachs Leihbibliothek, den er eben lesen wollte, zu, besann sich, ob hier eine Falle, sah über die kleinen hohen Fenster hinaus die schöne goldne Abendsonne draußen so lockend blitzen, dachte an die schlanke Pauline, an einen Besuch bei der Angebeteten – genug, Fähnrich von Haase verwünschte den Odeur der Ställe, dankte für die Bereitwilligkeit Langheinrichs und schlüpfte mit[198] seinem seidenen Taschentuche, dem Roman und seinem liebelüsternen jungen Herzen davon, zur Chaussee hinaus und zu Paulinen.

Der Tierarzt kam, besah den Schaden, schüttelte den Kopf. sprach von pflichtschuldiger Anmeldung, verdorbenem Gut des Königs, Unheilbarkeit. Alle bitten, flehen, schmeicheln. So schreibt denn der endlich erweichte Mann: Der Fuchs des Geschützführers Langheinrich muß auf einige Zeit vom Dienst dispensiert werden; er leidet an »verschlagener Druse«.

Nach einigen Wochen war Rinaldo total blind und mußte ausrangiert werden. Aber auch Langheinrich verlor den Leichtsinn seiner ersten Jugend. Pauline wurde sein Weib. Er gab die Militärkarriere auf. nahm den Abschied, legte sich auf dem Lande eine Ökonomie zu und kaufte den Rinaldo, um das treue Tier bis in sein Alter zu pflegen.

Ähnliche zahlreich vorgekommene und umständlich berichtete Geschichten wurden ihrer Abenteuerlichkeit wegen mit gierigem Ohr belauscht. Der sich durch sie hinziehende rote Faden von Liebe und vom Reiz der Frauen entschlüpfte der Kindeshand keineswegs; eine gewisse geheimnisvolle Wirkung blieb von alledem bedenklich zurück.

Herr Cleanth ging von der Ansicht aus, daß ein Knabe früh lernen müßte, den Reiz der Weiblichkeit sozusagen – auszuhalten.

Der Weise hatte recht. Worin liegen die Gefahren der späteren Jugend mehr als in diesem noch nicht gekannten Zauber der schönen und dem Ideal entsprechenden Weiblichkeit? Dagegen stumpft ein früh an anmutige Geselligkeit, schöne Lebensformen, man möchte sogar behaupten, an rauschende seidene Kleider und malerische Trachten gewöhnter Knabe den Reiz ab, den uns das Anstreifen am Frauenwesen verursacht.

Ein wilder, blindlings den Frauen nachrasender Freund gestand einst dem Erzähler mit Trauer: »O Freund, ich bejammere, was ich von Phantasie, Glauben, Lebensmut, Lebenskraft an die[199] Frauen verschwendet habe! Nie hatte ich als Knabe in der Nähe zarter, schöner, froher Mädchen gestanden, hatte nie diese zauberische Berührung von Atlas, Samt, Seide empfunden, nie mich an einem schönen Arm oder an einem Handschuh gestreift, der zierliche Finger umschloß. Da erwachte im Jüngling diese glühende, zurückgehaltene Sehnsucht zum Schönen, und wo war es zunächst zu finden als beim Weibe! Ich hatte das Wissen in seinem schweren und nur halbbelohnenden Erwerbe hinter mir, nun wollte ich ein höheres Licht, wollte das wahre Leben, die Schönheit und das beseligte Herz – wohin führte mich der Taumel einer solchen Sehnsucht? Es mag unglaublich klingen, aber es ist wahr, ich suchte in jeder weiblichen Begegnung, die dem Auge gefallsam erschien, mein Bedürfen nach Hingebung, mein Hangen und Bangen nach dem Geheimnis glücklicher Liebe zu befriedigen. Ich liebte edle Mädchen, aber der lange Roman des Hoffens und Werbens rieb mich auf. Ich wollte besitzen, wollte nicht besitzen des flüchtigen Genusses wegen, nein, ich wollte den Edelstein des Frauenzaubers finden und suchte ihn selbst im Schutte auf, vor dem mich hätte schaudern sollen. Putz, selbst da, wo keine Schönheit war, reizte ein Auge, das in schönen Formen nie Kunde und Übung hatte. Ich fühlte das Bedürfen, irgendwie dem Weibe nahe zu sein, irgendwie in diese Existenz einer andern Welt einzublicken, an diesem so glücklichen neutralen Prinzip in allen Alternativen des Denkens und des Lebens mich anzusiedeln. Denn wie ruht es sich so schön an einem Haupte aus, das allein nur an dich denkt, in diesem Augenblicke wenigstens auch ihr Vergessen in dir nur findet! Im Doppelleben der Menschheit als Mann und als Weib liegt eines der Zauberworte, das uns die Tür des Jenseits entriegelt. Dieses einzig und allein wollte ich selbst aus wilden und rohen Klängen abhorchen. Selbst aus der Asche bemitleidenswerter Frauen schlug noch manchmal eine reine Flamme auf, rührte mich und konnte mich und sie auf Augenblicke verklären.«

Ein an Liebe reiches Herz bedarf der Liebe. Herr Cleanth schien ähnlich zu denken wie unser Freund. Sein Malertalent[200] mochte zweifelhaft sein; aber ein Lebenskünstler war er gewiß. Er verlangte gefällige Tracht, gewandtes Benehmen, konventionelles Entgegenkommen, Artigkeit gegen alle Frauen, junge und alte. Er selbst gab das Beispiel der Galanterie. Er hielt seine Zöglinge an, die Worte zu wählen, den Körper in Schick zu bringen, Damen die Hände zu küssen, gewandte Formeln der Höflichkeit zu sprechen. Gesellschaften wurden gegeben, wo sich die Mädchen mit den Knaben zum Spiele vereinigten. Er beförderte die Besuche gerade bei solchen Familien, wo junge Mädchen, oft recht ausgelassene, wilde, den Ton im Hause angaben. Ganz gegen die neue Lehre der Erziehung war Herr Cleanth gerade für die Kinderbälle. Ihm schien bei diesen jungen Stutzern und kleinen Koketten hinlänglich gesorgt, daß noch niemand Gefahr lief. überreizt zu werden. Zur Liebe waren ihm ja die beiden Geschlechter der Menschheit einmal bestimmt, die Eitelkeit und die Galanterie waren ihm Erbschaften unserer Natur. Wozu sich also da den Vorteil entgehen lassen, Knaben schon beizeiten zu »Artigkeiten« »gegen die Damen« zu dressieren und sie an einen Verkehr mit dem schönen Geschlecht zu gewöhnen? Welche Verlegenheiten haben oft zwanzigjährige junge Männer, bei einem Ball Tänzerinnen zu gewinnen oder in einem Salon mit Damen eine Unterhaltung anzuknüpfen! Cleanth ließ seinen Sohn tanzen, Französisch sprechen, Damen die Hände küssen, die Kinderbälle besuchen.

Der Gespiele, der nur ab und zu dies sein Lebensparadies betreten durfte, sah in soviel Herrlichkeit nur von weitem ein. Wie konnte er sich auch ganz aus seiner häuslichen Erde entwurzeln! Ohnehin war das Tanzen den Eltern ein Greuel wie die Komödie. Der Gespiele sah den Freund über die geglättete Diele schweben und sich anmutig im Kreise drehen, während er selbst nur – manchmal Tränen im Auge – mit Bärensüßen nachtrottete. Gewandt entschlüpfte dem Freunde die Phrase: A vot' santé, ma chère tante, die auch der Gespiele nachsprechen sollte, die Reihe herumgehend beim Dessert am Tisch und jedem Erwachsenen die Hände küssend. Wieder stand eine Ohrfeige in Perspektive. Der[201] Versuch wurde schon mit Widerstreben gemacht. Eine alte Tante schalt eines Tages, eine andre lachte, der Knabe wurde verwirrt, erzürnte sich, brüskierte die Gesellschaft, stürzte in ein Nebenzimmer und schlug die Tür zu, um sich einer solchen Dressur zu entziehen. Es waren vornehme »Tanten« des Hauses, polnische Verwandte aus Militärkreisen. Aber so gut sie russisch taten, die Knute blieb diesmal aus. Herr Cleanth verlegte sich auf ein vernünftiges Zureden. Er schien etwas von der wahren Ursache der Verzweiflung des rebellischen Jungen zu ahnen. Die beiden Tanten gaben sich in der ganzen, auch ihm unausstehlich breiten Förmlichkeit russisch-polnisch-französelnder Etikette.

An zunehmender Blickschärfung für menschliches Tun konnte es unter solchen Umständen nicht fehlen. Die Charaktere wurden durch den Kontrast erkannt, der nicht greller sein konnte als z.B. zwischen dem apokalyptischen Vetter und dem Freigeist Cleanth. Das sah der Knabe frühe, wie sich alles den Machtbegabten zudrängte, sich dem Glanze unterordnete, die tiefste Ergebenheit sich nach der Sonne der Gunst neigte. Der Vorteil stand da als Regulator aller Lebensverhältnisse. Mancher Stachel der Zurücksetzung oder des erlittenen Unrechts blieb im verwundeten Gemüt haften. Beklemmend war ihm das Durcheinander der Interessen, das Laufen und Rennen der Menschen um nichts, soweit ihm wenigstens scheinen wollte, und dabei eine Geschwätzigkeit, die für jene Kreise, in denen er zuweilen leben durfte, durch etwas speziell Lokales noch eine besondere Färbung erhielt.

Man kennt die Berliner Hofräte. Sie sind ausgestorben; an ihre Stelle ist der Berliner »Geheimrat« getreten. Der Hofrat war liebenswürdiger. Die Geheimräte erstarren nächstens zur Mumie. Sie geben sich mit beständiger Betrachtung des Schattens, den sie werfen, mit Verwunderung gleichsam über sich selbst. Da war die alte Berliner hofrätliche Emsigkeit, das windigste, charakterisierte Nichts, die Abhängigkeit von einigen aufgerafften und höchst sicher vorgetragenen Phrasen, die immer blindlings angenommene Tradition, die süßeste Unterwürfigkeit gegen[202] Obere, ein stetes Zummundereden von einer Gesellschaftsstufe zur andern, die Sucht nach Auszeichnungen und leeren Titeln, besonders nach Ordensverleihungen, wie sie auch jeden 20. oder 21. Januar wie bei Schulprüfungen erwartet wurden, doch noch amüsanter, leutseliger, kulanter.

Aber der Knabe wurde mit einer wahren Angst vor dieser jenseits seines eigenen Lebens liegenden Welt erfüllt. Es kam ihm vor, als wenn seine ursprüngliche Lebensheimat zwar die der Armut, aber die Welt der gesinnungsvollen Ehrlichkeit war. Der biblische Vetter Wilhelm schwebte so hoch über vornehm tuender Lüge und Narrheit, er wußte so treffend die Endlichkeit alles glänzenden Elends der Erde zu bezeichnen, er wußte die wahre Wahrheit und das lebendige Leben so an die ewige Quelle des Lichts und der Erlösung zurückzuleiten, daß der Knabe zwar in die vornehme Welt mit mächtigstem Reize ging, aber doch wie gefeit gegen Lug und Trug.

Eine Abenderzählung des Vaters von einem Wintersturm auf der pommerschen Heide, von jenem Prallschuß bei Leipzig, von einem Biwak im Ardennenwalde erkräftigte den Knaben, daß er nicht zagte und bangte in dem Getändel von Formen, die ihm ungeschickt gelangen oder die man ihm als Fallen legte, um sich über seinen Sturz zu belustigen.

Auch der mit Liebe und Inbrunst erfaßte Gottesgedanke half ihm oft hinweg über erlittene Unbill. Er gab ihm beim einsamen Nachhausegehen im Abenddunkel von so vielen nur halb verstandenen rauschenden Gesellschaftsleerheiten Trost und so viel Erhebung, daß er stark und kräftig, wenn auch oft nach dem bittersten Weinen, in das er (und eigentlich um nichts) ausbrechen mußte, immer wieder in seine häusliche Welt zurückkehrte mit dem wachsenden Mute des Selbstvertrauens.

Und lag auch nicht eine Erhebung darin, daß der Knabe mitten in dem prächtigen Gewebe vom Laufen im Zirkel, Blind-Dahinrennen, devotesten Grüßen, Schmeicheln, Speichellecken so vielerlei schwarzen Schicksalseinschlag bemerkte?

Es ist ein schaudervoll grausames Wort, das den über die geraubte[203] Tochter jammernden und über die von der Tochter vergeudeten Reichtümer schier verzweifelnden Shylock tröstet, wenn ihm Tubal von des Antonio untergegangenen Schiffen sagen kann: »Andre Leute haben auch Unglück!« Es gibt aber Lebenskompensationen solcher Art. Sie sind da und wirken beruhigend, wenn man sich auch schämt, es einzugestehen. Man fühlt diese Ausgleichungen der ewigen Nemesis, ohne sie herzlos anzurufen oder rachelechzend zu bejubeln. Andre Leute haben auch Unglück! Andre Leute entbehren auch! Die Reichen haben kummervolle Nächte! Der Große muß sich wieder Größeren unterwerfen, noch Mächtigeren dienen! Auch sie werden gezerrt von den Armen geringerer Verwandtschaft, die sich an sie kettet und Hilfe für ihren Ruin verlangt!

Da waren ehrenvoll genannte Namen. Jedes Geschäft wurde ihnen zugewiesen, jede Vermittlung anvertraut. Plötzlich – ein Flüstern, wenn man sie nannte. Es waren Kaufleute, die eben falliert hatten. Sie entflohen oder wanderten in lange und nicht immer bequeme Gefängnisse.

Das Wort: Bankrott! weckte dem Knaben erschütternde Vorstellungen von namenlosestem Menschenweh. Der Bankrott der »Gebrüder Benecke« erfüllte die ganze Stadt. Andre Namen wurden plötzlich wie totgeschwiegen. Ihr Stand, ihr Ehrgefühl, ihre Liebenswürdigkeit hatte sie nicht gehindert, Verbrecher zu werden.

Von unglücklichen Ehen wurde gesprochen, von Scheidungen, mißratenen Kindern. Oh, diese Welt war immer im Fluß, in schwatzhafter Bewegung, charmant, liebenswürdig, aber plötzlich stockte sie. Dann war etwas geschehen, was alle erschütterte, eine Tat, ein Schicksal war dazwischengefahren, und schmerzlich genug fühlt bereits ein Kind, daß jener Schlag, der die Pause am längsten andauern ließ, nicht immer der Tod war. Und freilich dann auch der Tod! Ja, man sah Tränen und hörte Klagen. Für die roten Gewänder rauschten schwarze auf.

Aber manchmal wurde dann die Geschwätzigkeit des Glücks abgelöst von der Geschwätzigkeit des Unglücks. Man hörte prahlende[204] Reden, wie man ertragen, entbehren, dulden, sich einrichten wollte. Und das Kind sah, welch ein Behagen aus dem neuen Zustande erwuchs. Die Erbschaften wurden besprochen. Ost entwickelte sich aus dem Tode eine noch größere Pracht, eine noch größere Freude. »Lachende Erben!« Das war dem Kinde ein Wort, anfangs unverständlich, dann so häßlich wie das Lachen der Lachtauben, das ihm nie gefallen konnte. Lachende Erben! Er hatte ein Bild in allen Buchbinderläden gesehen, wie ein reiches, sogenanntes »Hundefräulein« einen geliebten verstorbenen Favoritmops begraben läßt und den eingeladenen, mitleidbezeugenden Pöbel mit Kuchen und Wein traktiert. Die Geschichte war soeben passiert. Und so kamen ihm alle »lachenden Erben« vor. Ein Hund auf einem Katafalk mit Lichtern und ringsum lachende Heuchler, die zu weinen vorgeben und Kuchen essen und Wein trinken. Ein Toter war in der vornehmen Welt oft längst vergessen, und nur ein Kind, das ihm völlig fernstand, trauerte noch um den alten Herrn, der dort immer am Fenster bei den Hyazinthen gesessen, gescherzt, so präzis nach der Uhr gesehen hatte, an deren Kette man spielen durfte. Dann war er einmal gegangen und nicht wiedergekommen.

Je stärker die Stöße und Angriffe werden, die das Leben auf ein junges Gemüt richtet, desto besorgter wird es sich nach Schutz und Beistand umsehen. Die Welt wimmelt von Haß und Feindschaft. Wo ist Liebe? Der Mensch, kaum geboren, sucht Liebe. Der tote hölzerne Hund, das bärtige Kätzchen von Papiermaché gewinnen des kaum lallenden Kindes erste Zärtlichkeit. Bald freilich zertrümmert die wilde Menschennatur, wie oft in späteren Jahren, oft grausam genug, ihr erstes Spielzeug der Liebe. Die süßen Himmel werden gestürzt, die stumme Gegenliebe wird zerrissen, immer Neues will sich der flatterhafte Sinn erobern, um das Ausgekostete, Genossene für wieder Neues auszutauschen. So wird der Arm um einen Gespielen, so um eine Nachbarin geschlungen, und wie bald sind sie vergessen!

Der Knabe empfand zwei Neigungen zu gleicher Zeit; ein Fall, der seinem Doppelleben entsprach. Die Liebe in der Armut galt[205] einer Tochter jenes Selbstmörders in der Sattelkammer; die Liebe im Reichtum war ein lebhaftes, witziges, ausgelassenes Mädchen, eines Rates Tochter. Beide Phantasien ähnelten sich zum Verwechseln. Sie wurden mit demselben Herzen, demselben Munde durchlebt, die eine auf den dunklen Schleichwegen des akademischen Turms und im Wiesengras der Alltagswelt, die andre sonntäglich auf dem Teppich ihres väterlichen Salons. Beide hatten dasselbe krause, schwarze, weiche Haar, beide kurzgeschnittene sogenannte Schwedenköpfe, beide hatten feurige braune Augen, beide dieselben weißen Zähne, dieselben kleinen Stumpfnäschen, beide waren behend wie Gazellen, älter als der Knabe, der auch in beiden Körpern nur eine und dieselbe Seele liebte. Und diese Neigungen, die eben nur Gefühle waren, ausdruckslose Stimmungen, wurden erwidert.

Von beiden Wesen fand sich der Knabe bevorzugt – wie man eben von Frauen bevorzugt wird – zum Necken, zum Gehänseltwerden; was ist den Frauen Männerliebe? Dienen und Apportieren! Diese beiden Mädchen, älter geworden, schenkten im Spiel nur diesem ihre Gunst oder wußten es vollkommen, wie sie ihn verletzten, wenn sie andre wählten. Auch der Haß, wenigstens Zorn und Schmollen, ist eine Form der Liebe bei so junger Neigung. »Ich möchte ihm die Augen auskratzen« oder: »Der infame Bengel«! Alles das ist Liebe, und darum schwärmte der Knabe auch mit der Tochter des Erhängten unter den Sternen und mit der Tochter des Rates unter duftenden Zimmerblumen.

Wo Liebe ist, ist auch Leid. Und das Leid der Liebe kommt dann noch, wie alles Unheil, selten allein. Wo die einen Blüten welken, sinken ihnen ungeahnt die andern nach.

Das erste große, schmerzliche Weh sollte den Knaben treffen, der Verlust seines Paradieses. Nicht durch eigene Schuld. Das Wetter fuhr aus den Wolken, nachdem schon lange selbst bei lichtem Sonnenschein ferne Donner das Nahen eines Sturmes verkündet hatten.

Ach, diese Zeichen kamen weither, von einem Lande des Ostens![206] Im Reiche des Zaren lebte Herrn Cleanth ein Bruder, ein Kriegsoberster des Kaisers Alexander, nach Warschau kommandiert zum Geniekorps. Schon lange hatte es geheißen, der spekulative Maler sollte ebenfalls mit der deutschen Romantik, die ihm ohnehin ein Greuel war, brechen, sollte aber auch sein aufgeklärtes 18. Jahrhundert, die Freimaurerei, Voltaire, aufgeben und nach Rußland ziehen, dort das neue Wunder der Zeit, die Lithographie lehren, Karten des Zarenreiches zeichnen und der Regierung überhaupt in ihren militärisch organisierten Kulturspekulationen zur Hand gehen. Noch sträubte sich das deutsche Gemüt gegen die polnischen Wälder. Aber der Kriegsoberste des Zaren schickte seine Gemahlin, seine Schwägerin; es kamen die Neffen der Brüder, die schon in Warschau erzogen waren und polnische Sitte, polnischen Ehrgeiz mitbrachten.

Cleanths Hausstand erweiterte sich durch diesen Zuwachs. Russinnen, adlige, stolze, anspruchsvolle Wesen, brachten Wagen, Rosse, Bediente und jene den Sarmaten eigene luxuriöse Umständlichkeit mit, die daheim alles viel besser hat, ausgenommen das, was soeben in der Fremde gekauft wurde. Das bauschte sich, das rauschte, das mäkelte, flanierte durch die »Butiken«, die Gold- und Silberläden, die Modemagazine.

Oh, hieß es, in Deutschland kann man nicht heizen, in Deutschland nicht kochen, in Deutschland kann man nicht waschen, ja auch nicht singen, nicht tanzen, nicht gehen und stehen. Nur noch in Warschau und Petersburg war die Kultur zu Hause. Wer hätte nicht von den vielen beurlaubt reisenden Titular- und Kollegienräten noch jetzt, selbst in Italien, die Überzeugung gewonnen, daß nur in Petersburg die Goldorangen blühen! Dies russische Selbstgefühl in den Damen, das polnische in den Kindern und Bedienten kam oft zu gewaltsamem Ausbruch. Bei beiden Parteien gab es sich in solcher Lebhaftigkeit kund, daß das ohnehin damals traurig zurückgehende Deutschland wie in nichts verschwand. Willusch, ein Spielgenosse, Neffe Cleanths, ergriff bei Tisch eine Gabel und rief. als von Polen und seinem »verschuldeten« Geschick die Rede war, mit Verzweiflung: »Ich mir[207] möchte stechen diese Gabel in die Brust, wenn ihr beschimpft mein Vaterland!« Die anderen wehrten dem Knaben, der später bei Ostrolenka focht.

Herr Cleanth bestrafte sogar den sich so revolutionär vor den russischen Tanten äußernden jungen Polen. Dem deutschen Gespielen blieb Willuschs Drohung unvergeßlich. Sich erstechen können um sein Vaterland! Untergehen um eine Idee! Heilighalten können etwas Verspottetes! Das Wort eröffnete ihm einen Blick auf Gebiete, die von Herrn Cleanths Hause so entlegen waren wie die Turnerei in der Hasenheide von dem Salon des Fürsten Hardenberg. Ideen, Ahnungen stiegen aus dem Herzen in den Kopf.

Auf die Länge widerstand Herr Cleanth den Reizungen des Zaren nicht. Die russische Regierung übertrug ihm vorläufig die Direktion einer neu zu entwerfenden Karte Polens und gab ihm außerdem die bestimmte Zusicherung weiterer Unterstützung, wenn er im Fache der praktischen Kunstanwendungen in Warschau Etablissements errichten wollte. Der Drang nach Bewährung seiner Umsicht und Regsamkeit lebte zu mächtig in dem ehrgeizigen Manne, der sich in einigen Jahren zum Minister der öffentlichen Arbeiten avanciert zu sehen träumte. Berlin bot keine Gelegenheit, seine Kenntnisse geltend zu machen; selbst etwas zu unternehmen, dafür fürchtete er das Risiko. So siegte denn der Entschluß, den russischen Damen und dem kleinen Willusch zu folgen. Das große Palais am Leipziger Achteck wurde der Regierung verkauft, noch ein märchenhaft schöner Winter im Nebenhause durchlebt mit Zeichenstunden, Spielen, Weihnachtsfreuden, strengen, aber unverstandenen Anleitungen zur praktischen Lebensphilosophie, Mißverständnissen zwischen mathematischem Konservativismus und sich schon meldender ungebundener Romantik, Neckereien durch die ausgelassensten Hofrats- und Rendantentöchter und der geduldig hingegebenen Schwärmerei für jene Doppelliebe.

Dann nahte der Frühling. Im nahen Tiergarten sproßte und keimte es über dem vermoderten Laub. Auf der Luiseninsel, die[208] noch nicht lange angelegt war, lagen Schneeglöckchen und Krokus unter düstern Bluttannen und Trauerweiden, die zu treiben anfingen. Die Stunde des Abschieds rückte heran.

Der furchtbarste Schmerz zerriß des Knaben Brust. Nichtetwa nur die Herbigkeit des Verlustes allein war sein Kummer, wenn sich ihm die Tür seines Paradieses so plötzlich zuschlug und die Wonnen dieses Umgangs nicht länger gestattet sein konnten, er sah nur die Trennung von seinem Freunde und Gespielen selbst. Von diesem zu lassen, seinem halben Bruder, dem immer frohgestimmten Gesellen, der nie den Kopf hängen ließ, immer lachte, immer strebte, immer mit blitzendem Auge ins Leben sah, von diesem Namensbruder mit den frischen Wangen, dem braunen Auge, dem dunklen Haar, seinem eigenen vollkommenen Widerspiel in allem – scheiden!

Der Verlust war ihm herzzerreißend. Noch hielt, als Briefe versprochen wurden und baldige Rückkehr und Besuch, die Kraft aus; als aber der Reisewagen hochbepackt vor der Türe stand, das Horn des Postillions sich aus der Leipziger Straße meldete, die Rosse zum frühlingsgrünen Achteck einlenkten und sie eingespannt wurden, als es dann zum Abschied ging, zur letzten Umarmung, da brachen alle Schleusen der zurückgedämmten Wehmut, und so unaufhaltsam flossen die Tränen der innigsten Hingebung, daß Herr Cleanth, über die Heftigkeit dieses Schmerzes selbst erschüttert, seine üblichen Senecaregeln vom Beherrschen der Leidenschaften und alle seine stoischen Maurerphrasen aus »Royal-York« und den »Vier Weltkugeln« diesmal unterließ und in wirklicher Bewegung von seinem Halbsohne Abschied nahm.

Der Wagen rollte von dannen, der Postillion blies, Tücher wehten. Der Knabe sah sich um – er war mit seiner ebenfalls weinenden Schwester allein. Geschenke lagen noch genug da von Dingen, die man nicht hatte mitnehmen können, Spiegel, sogar Bilder in goldenen Rahmen für die Eltern, Bücher, die prächtige Beckersche Weltgeschichte sogar in zehn Bänden. Der loyale, auf die russischen Voraussetzungen schnell eingehende Herr Cleanth hatte diese[209] als ein vom Zaren verbotenes Buch zurückgelassen. Konnte den Knaben von alledem etwas trösten? Er hatte den ersten wahrhaften Schmerz empfunden.

Daheim erwartete ihn sein altes, angeborenes Los. Die Eltern führten keine Szene auf, aber in ihrem Gefühl und sonstigem Benehmen lag das, was die Bildung durch Szenen ausdrückt. Die Bildung würde die trauernden Kinder an ihr Herz gezogen und getröstet haben. Aber solche Eltern aus dem Volk helfen sich anders. Sie wagten den Umzug aus einer engen und unerträglich gewordenen Wohnung in eine neuere und größere, die sie von jetzt ab bezahlen mußten. Sie wagten sogar das Unglaubliche, dem Knaben den Gefallen zu tun, ihn »ins Gymnasium« zu geben.

In der Osterwoche wurde der düstere Turm in der Akademie verlassen und dicht in der Nähe des alten Zieten ein Häuschen bezogen. Nach Ostern führte der Vater den Sohn zum Direktor des Gymnasiums am Friedrichswerder. Nach dem Abschied von seinem geliebten Freunde war der Examinandus in allen Nerven noch so erschüttert, daß er die Ermahnungen des kleinen, runden, wohlgenährten, seltsamen, als komisch berufenen, aber warm empfindenden Schulmonarchen sogleich beim ersten seiner sanften Worte mit Tränen aufnahm. Die gute Sitte, die ihm die polnisch-russische Salonherrschaft zwangsweise beigebracht hatte, wirkte noch so in ihm nach, daß er auf des Direktors Wort: »Und nun, mein Sohn, gib mir auf dies Versprechen feierlichst die Hand!« nicht die Hand reichte, sondern im Gegenteil die zarte, weiche, wohlgepflegte Hand des Schulmonarchen ergriff und diese voll Inbrunst an seine Lippen drückte.

Zimmermann, so hieß der Schulregent, war früher selbst in Polen gewesen, lächelte über die unberlinische Sitte, ließ sich aber die Ausnahme von der Regel gefallen. Gewiß verwilderte der Knabe mit der Zeit – aber von jenem Handkuß her war ihm eine gute Note im Gedächtnis des Rektors zurückgeblieben. Wenigstens hat der durch die ständige Führung eines spanischen Rohrs in seinen hohen Stiefelschäften berühmte Pädagoge ihn niemals – eigenhändig durchgebleut.[210]

Quelle:
Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Berliner Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1960. S. 27–264, S. 185-211.
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