Zweiter Auftritt


[160] Die Vorigen. Chapelle.


LEFÊVRE. Guten Morgen, guten Morgen, lieber Chapelle!


Chapelle tritt nachdenklich ein und zählt an den Fingern.


GERMAIN. Herr Chapelle scheint Verse abzuzählen. Beiseite. Er ist so geizig, daß sich bei ihm nur Verse finden, die zu wenig, nie welche, die zu viel Füße haben. Ab nach innen.

CHAPELLE wie aus einem Traum erwachend. Wer sprach da? Ah, lieber Freund, ich bemerkte dich nicht.

LEFÊVRE. Du schienst in einer poetischen Vision zu schweben.

CHAPELLE. Wo ist meine Frau? Dank deinen Bemühungen, ich komme aus der Prüfung meines Stückes.

LEFÊVRE. Und wie ist sie ausgefallen?

CHAPELLE. Freund! Wenn ich alle Äußerungen der Schauspieler zusammenfasse – wenn ich mich mit Bescheidenheit auf den Eindruck, den mein Werk im ganzen genommen hervorbrachte, besinne – so denk' ich – glänzend!

LEFÊVRE. Nimm meinen Glückwunsch. Ich komme, dir ein anderes Resultat zu bringen, das du weniger deiner bewunderungswürdigen Bescheidenheit und meiner Rechtskunde als deinem Glücke verdankst. Die Besorgnisse über die Gefährlichkeit des biblischen Inhalts deines Stückes sind glücklich beseitigt.

CHAPELLE. Du kommst –?

LEFÊVRE. Von Almosenier des Königs! Er äußerte sich, es wäre ja selten die Geistlichkeit selbst, die sich der Behandlung biblischer Gegenstände widersetzte. Gefährlich nur wär' es, das Mißfallen gewisser weltlicher Personen zu erregen, die mit der Religion auf einem vertrautern Fuße leben, als die Geistlichkeit selbst. Von diesen nannte mir der edle und wahrhaft fromme Mann vorzugsweise einen allmächtigen Namen, der sich möglicherweise über die Wahl deines Stoffes im Nebukadnezar ungünstig äußern könnte.

CHAPELLE. Den Präsidenten La Roquette?

LEFÊVRE. Den Präsidenten La Roquette! Ich hin zu La[160] Roquette, sondierte, horchte, ließ dies und jenes fallen, was ihn angenehm berühren mußte, und erreichte dann das erfreuliche Resultat, daß das Haupt unserer allmächtigen Frommen, der Chef aller wohltätigen Vereine und Armenkassen, der gefürchtete Verketzerer aller Sünder und Sünderinnen unsers sündigen Jahrhunderts, sich nicht nur über die obschwebende Differenz, dein Sujet betreffend, auf das wohlwollendste äußerte, sondern sich sogar bereit erklärte, selbst zu dir zu kommen und dir über die günstigen Aussichten deines Talents Glück zu wünschen. Du mußt wissen, daß er die Absicht hat, sich für den nächsten erledigten Stuhl in der Akademie zu melden.

CHAPELLE. La Roquette kommt zu mir? Der allgewaltige La Roquette? Der Präsident des obersten Tribunals! Meine Stimme ist ihm gewiß. Nun wohl, es läßt sich ja alles vortrefflich an. Ich denke, Molière soll nicht länger der Alleinherrscher des Geschmacks sein. Heut' bei der Leseprobe war er totenstill. Ich sah's ihm an, der Geist meiner Schöpfung warf ihn zu Boden. Die übrigen Schauspieler lasen ihre Rollen mit stiller Gelassenheit. Es war eine feierliche, polizeilich anbefohlene Leseprobe.

LEFÊVRE. Und das Endresultat, die Meinung des Komitee, ob das Stück gegeben werden könne oder nicht?

CHAPELLE. Das Komitee wollte sein Urteil gleich nach den Schlußworten fällen, aber Molière fürchtete, der Eindruck möchte noch zu frisch, zu günstig sein, und schob die Abstimmung einige Stunden auf. Sie wird mir sogleich überbracht werden. Freund, wir haben gesiegt! Meine Frau wird glücklich sein. Frühstücken wir jetzt!


Quelle:
Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1912], S. 160-161.
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