13.

[358] Konnte nun aber wol auch Armgart zu den Ungeduldigen gehört haben, die dem heraufziehenden Unwetter bald den schönsten Uebergang wieder zum blauen Himmel und Sonnenschein verhießen und sich von der Einladung in die drusenheimer Villa um alles in der Welt nicht abbringen lassen wollten?

Wird denn auch sie mit ihrem halb über den Hut gezogenen Oberkleide durch die Feldwege, die in Gießbäche sich verwandelt hatten, so »hingetrottelt« sein, sieben unter einen alten Regenschirm gedrückt?

Wird denn auch sie von den zu Hülfe Eilenden so beschützt werden, daß sie nur noch nöthig hat, das Anerbieten der jungen Frau Wirthin anzunehmen, daß sämmtliche junge Mädchen mit ihren vier Erzieherinnen erst in ihrem Zimmer Toilette machen möchten?

Sieht sie die beiden Englischen Fräulein (nicht die Misses Coffingham, sondern die ihrigen) voll Bewunderung lieber sich bis auf den Tod erkälten, als daß sie ein einziges ihrer nassen Ordenskleider wechseln?[359]

Lernt sie von Frau Bettina, wie eine junge Frau, die eigentlich das Herz voll Aerger haben sollte, davon nicht das Mindeste verräth, sondern sich in diesen Lärm eines massenhaften Besuchs wie in etwas ganz Gewöhnliches findet, dazu die freundlichste Miene behält und statt eines Gartenfestes jetzt oben den Salon und den Flügel und als der Regen nachläßt, die Fenster wieder öffnen und dann die Jugend sich zu Kaffee und allerlei köstlichem Backwerk ergehen läßt, wie es ihr eben beliebt?

Hört Armgart dem Herrn von Terschka zu, der vor allen sie auszuzeichnen sich vornahm, ihr erzählen wollte von ihrer Mutter, die in der That vielleicht schon diesen Abend, jedenfalls morgen am Hüneneck eintreffen konnte?

Lachte sie wie die andern Mädchen über einige der Herren, die sich ins Rauchzimmer zurückgezogen hatten und die unerbittlichste aller Kritiken, die des Muthwillens, herausforderten … womit stößt man nicht alles bei jungen Mädchen an!

Spielte sie Charaden, Moquirstuhl und Schenken und Unterschrift, wobei endlich der die »Herren« meidende Herr von Binnenthal aufhörte vom Wetter zu reden, die in Nebel gehüllten Dampfschiffe zu verfolgen und sogar für einige seiner Devisen, z.B. »Bange machen gilt nicht!« ein dankbares Publikum findet?

Gibt sie der Frau von Guthmann Auskunft über ihren Stammbaum und veranlaßt diese Dame, auch von dem ihrigen zu reden?

Schließt sie sich zuhörend den vier protestantischen Jungfrauen an, die, während die Musiklehrerin Tänze spielt, einen fanatischen Confessionsmeinungsstreit mit den[360] beiden dem Pfarrer attachirten Englischen Fräulein und Angelika beginnen?

Bewundert sie den Heroismus der wirklichen Engländerinnen, die den beiden Nonnen, die nun einmal das sind, was sie sind, das Papstthum als eine Schöpfung des Antichrists schildern und ihnen das Recht abstreiten, sich nach dem freien Albion zu nennen, wodurch sie dann allerdings Gelegenheit gehabt hätte, ihre Ansichten über die Ausbreitung des Katholicismus in England zu berichtigen?

Und hört sie, wie die sanfte Angelika, als die beiden Fräulein Carstens nach langer Conversation des Erstaunens über Lucinden erklären, sie müßten an sich eine weibliche Erziehungsanstalt, wie die drüben, die nur Frauen leiteten, eine musterhafte nennen, denn nur sie lehre es, »die Männer zu verachten«, worauf es in einer heirathsschwierigen Zeit vorzugsweise ankäme, im Gegentheil diese Auffassung in Abrede stellt und erklärt, sie ihrerseits müsse gestehen, sie lehre ihre Mathematik, ihre Geschichte, ihre Naturwissenschaften nur, um desto mehr die Männer hochachten und lieben zu lernen, da eben die Männer es gewesen wären, die die Mathematik, die Naturwissenschaften und die Geschichte erfunden hätten?

Lauscht sie den jener unheimlichen Lucinde gewidmeten Erzählungen Schulzendorf's, der nach zwei genommenen Tassen Kaffee und einem kleinen Curaçâo sich bald empfehlen zu müssen erklärte und auch von Grützmachern und seinem Pferde abgeholt und von dem schärfer blickenden Auge desselben veranlaßt wurde, gewisse auf dem Balcon sichtbare Persönlichkeiten mit gewissen Notizen in ihren Portefeuilles zu vergleichen?[361]

Oder steht Armgart auch nur zur Seite und glossirt mit Moritz diese »stillen Sonntagsfreuden ländlicher Zurückgezogenheit« und hört die Geschichte, die Herr von Guthmann bei Gelegenheit Lucindens, der spätern Schauspielerin Konstanze Huber, von einem jungen Commis erzählt, mit dem Herr von Binnenthal eine ganz merkwürdige Aehnlichkeit hätte?

Von alledem nichts –

Denkt euch einen von Regen träufenden breitastigen Ulmenbaum! Denkt euch an ihm einen gewaltigen Ast und auf dem Ast einen schmächtigern Zweig und in dem Zweige ein grünes Winkelchen und in dem Winkel ein Vögelchen, das in Sturm und Unwetter, in Regen, Blitz und Donner wie ein ganz klein bucklig Zwergmännlein in seinen aufgeplusterten Federn sitzt! Mit Augen und Schnabel sitzt der Kopf, mit Krallen und Sporen sitzen die Füßchen ganz in dem Federwulst versteckt. Sonst so schlank, sonst so leicht durch die Blätter hüpfend, hockt das Thierchen wie ein Männlein aus der Gnomenwelt oder wie ein Kind, das Großmütterchens alten Pelzmuff über den Kopf gezogen hat.

So verzaubert sitzt Armgart einsam auf der Insel Lindenwerth.

Sie wollte nicht mit … Sie blieb daheim …

Sie blieb in ihrem Schlafsaal Nr. 5, an dessen äußerm Ende eine der Pensionärinnen ein wenig unpäßlich liegt, die kleine Liddy, die bei Sturm und Ungewitter ruhig in ihrem Bettchen schlummert. Sie hat die Pflege der Kleinen übernommen … Still ist's in dem noch immer düstern Saale, auch nachdem die Schloßen ausgetobt haben. Einige[362] Scheiben knickten ein, glücklicherweise ohne Zugwind durchzulassen … Armgart zieht sogleich die grauen Fensterladen vor und nun wird's in dem Saale mit den fünf leeren Betten und der einen schlummernden Kranken noch gespenstischer. Da hockt sie denn an dem einen freigebliebenen Fenster, an dem nassen Ulmenbaum, an dem kleinen, von ihr dorthin getragenen Nähtisch, vor dem aufgeschlagenen Buche, in dem sie lesen wollte und nicht lesen kann … in einem Rosenkranz von Gebeten und Gedichten von Beda Hunnius mit einem wundervollen Titelkupferstiche, einen Kranz darstellend von sieben Rosen, die die sieben Schmerzen Mariä enthalten und drüberher triumphirend das Lamm mit der Fahne, das Symbol ihrer schwierigsten und mangelndsten Tugend – der Geduld.

Aber sie scheint recht geduldig geworden zu sein … sie gluckst nur so und duckt sich und »hockelt«, wie die Mädchen sagen.

Erst während des Mittagsessens war Angelika den andern nachgekommen mit der Vorsteherin Aloysia. Sie hatten drüben zwei Stunden auf den Pfarrer warten müssen. Und was brachten sie mit? Mahnungen zum Abwarten! Und die Mutter schrieb doch – der Pfarrer hatte gestattet, daß Armgart den Brief las –:


»Mein gutes Fräulein Angelika Müller!


Ich erhalte von unserm sanften, liebevollen Dechanten aus Kocher am Fall Ihre Einlage an ihn. Sie wissen nicht, daß mir einst mein Kind, mein einziges, wie von Zigeunerhand gestohlen wurde; daß ich hinausgejagt in Sturm und Verzweiflung hundert vergebliche Versuche[363] machte, mein Kind mir wiederzuerobern, daß ich dann, als alles vergebens, in ein Kloster ging, fast zehn Jahre der Selbsterkenntniß lebte und der eingestandenen Pflicht –, erst mich selbst zu erziehen. Jetzt bin ich fast fünfunddreißig Jahre; aber ich fühle mich wie mit Siebzigen. In euern Wäldern wußt' ich mein Kind von meiner Schwester und meinem Schwager liebevoll gehütet, wie ihr eben liebt, wußte sie so erzogen, wie ihr die Menschen erzieht. Ich schildere Ihnen die Sehnsucht nicht, die mich nach meinem Kinde verzehrte, das man mir nur zurückgeben wollte unter der Bedingung, daß ich meinem in seiner Garnison versetzten Gatten folgte. Es trennte mich nichts von ihm, als die freudige Lust, ihm folgen zu können. Zuletzt, als erneute Versuche der Eroberung vergebens waren, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, daß ich Armgart vielleicht zum Opfer meiner Nichterziehung gemacht hätte. Wie oft nennen wir Erziehung, was nur ein unglückliches und widerstandloses Dahingeschleiftwerden ist von älterlichen Thorheiten! Wie oft nennen wir Liebe, was nur ein unglückliches Zermalmtwerden von den Rädern unserer eigenen Entwicklung ist! Thörichte Mütter, die ihr von der Zärtlichkeit für eure Kinder sprecht und sie nur zu den Opfern eurer Stimmungen macht! Eure Umarmungen sind nicht deshalb so heftig, weil sie von euerm reinen Herzen kommen, sondern weil sie von eurer Leidenschaft kommen, von eurer Verzweiflung oft um nichts, von eurer verletzten Eitelkeit! Mit stürmischen Küssen bedeckt ihr eure Kinder und flößt ihnen oft nur Gift ein! … So war wenigstens meine Vergangenheit … Jetzt ist, nach einem langen Klosterleben, vieles, vieles[364] in mir anders. Ich erzog mich, eines Kindes würdige Mutter zu sein. Da soll Armgart's Vater zurückkommen und neue Stunden des Kampfes und der Prüfung sollen heraufziehen? Dem Vater soll gehören, was mit mindestens gleichem Rechte mir gehört? … Wie ich diese Zeilen schreibe, bin ich im Begriff Wien zu verlassen und mein Kind, dessen Seelenkampf ich verstehe, den ich jedoch nimmermehr von Armgart allein oder von meinem Gatten werde entscheiden lassen, in meine Arme zu schließen. Ich kann mich vor ihr rechtfertigen.


Monika Hülleshoven.«


Das Auge der kleinen Richterin hatte gefunkelt beim Lesen des so seltsam entschiedenen Briefes … Bei den Worten: »Wie mit Siebzigen« strich sie sich bewußtlos ihren dunkelbraunen Scheitel, als gedächte sie der weißen Locken ihrer Mutter; bei der Schilderung der falschen Liebe und Zärtlichkeit der Mütter stockte sie … sie verstand diese Stellen nicht … aber bei der Nachricht, daß die Mutter schon unterwegs wäre und von ihr Besitz nehmen wollte, nahmen ihre Gesichtszüge den Ausdruck des Schreckens an, der ihre schönen Lippen halb öffnete und wieder, wie verboten, die beiden Zähne hervortreten ließ. Immerfort strich sie mit der Hand über den Scheitel ihres Haares, gleichsam diesen zu ebnen, und die Hand wollte nur die Gedanken ebnen, die wilden, unruhigen, die schon Entschlüsse in ihr zu treiben begannen.

Der Pfarrer befiehlt dir, deinen Schein von Richterschaft aufzugeben, dir nicht anzumaßen, daß du ein Urtheil fällst über Vater und Mutter und daß du dich[365] ruhig ergeben sollst und vorläufig dem Willen des Stärkeren!

Armgart lächelte und blickte wie abwesend auf die Oberin Aloysia, als die diese Worte gesprochen.

Kommt die Mutter früher als der Vater, so gehörst du den Umarmungen der Mutter! fuhr Schwester Gertrudis fort. Inzwischen hat der Pfarrer nach Westerhof geschrieben und wartet von dort auf Antwort!

Jetzt, zumal da vollends auch Angelika so ganz zu allem schwieg, flossen Thränen der Liebe und des Schmerzes. Und doch standen der stillergebene Stolz des Vaters, die würdevolle Entsagung des Tiefgekränkten auch der Freundin Angelika so lebhaft vor Augen, daß sie das Gefühl des Kindes, gerade diesem Vater sich nicht zu weigern, gerade ihn mit der Heimat nach so langer Trennung wieder auszusöhnen, vollkommen verstand. Die excentrische Gefühlsweise Armgart's entsprach im Grunde auch ihrer eigenen Lebens- und Menschenauffassung. Nicht wer Mathematik treibt, sondern wer ein starkes Herz hat und doch entsagen, doch kämpfen muß, lebt das Leben nach Gesetzen und regelt jedes noch so glühend aufwallende Gefühl. Angelika wußte selbst nicht viel von der Stärke, die sie besaß. Sie war unbewußt stark und gab sich nach außen doch wie die Schwäche selbst. Sie tröstete und schalt und verschwendete noch Worte, wo ihr Inneres längst entschieden hatte. Darin glich sie einer Mutter, die, mit den strengsten Worten und vor Schmerz selbst vergehend, ihrem leidenden Kinde die schmerzhaftesten Wunden lindern und verbinden kann, während dem dabeistehenden Miethling[366] in seinem scheinbar weicheren Mitgefühl angst und wehe wird.

Und wir sehen ja heute noch Benno drüben! war Angelika's Trost gewesen. Er kommt gewiß hinüber! Von der Villa aus erspähen wir ihn schon und wol gar auch Thiebold de Jonge –

Armgart zeigte stumm auf die heranziehenden Wolken und später sagte sie ohne Verstellung:

Ich bin krank! Nach Drusenheim – geh' ich nicht mit hinüber!

Armgart! verwies Angelika und fühlte ganz das Nämliche, was die Gescholtene.

O, sagte Armgart nach einer Weile, es ist furchtbar mit diesen Aerzten der Seele! Zu wissen, daß ein Arzt auf ein Uebel heilt, das wir gar nicht haben! Ungeduld, das ist ja meine Krankheit gar nicht! Eine Zeit kann kommen, wo ich auf die Art in keinen Beichtstuhl mehr gehe!

Armgart! Armgart! rief aufs neue ernstlich verweisend Angelika und – fühlte doch wie die Gescholtene.

Ich will der Priester meiner Aeltern sein! fuhr Armgart fort. Ich will sie zum zweiten male trauen, noch einmal segnen! Davon träum' ich Tag und Nacht! Darauf hin seh' ich Leiden und blutige Dornen über mich verhängt, aber auch Rosen, himmlische Rosen der Erfüllung!

Und Angelika hörte alles das äußerlich tadelnd, innerlich billigend. Mit all ihrer Mathematik und Physik lebte sie in einer gleichen Anschauung überirdischer Dinge, in gleicher Verehrung vor den großen Zauberformeln der Seele, denen alle Natur gehorchen muß. Angelika besaß[367] den reichen aufgesammelten Schatz der Liebe einer Jungfrau, die ohne Hoffnung verblühen muß.

Man hatte längst zu Mittag gegessen … Alles war in Kummer über das zunehmende Sichüberwölken des Himmels … Kurz vor Vier faßte man den heroischen Entschluß, ehe es »gießen« würde, doch hinüberzuschiffen … Die Erzieherinnen gaben nach … die Englischen Fräulein wollten dem Pfarrer ein gegebenes Versprechen halten.

Angelika befürwortete nun selbst das Zurückbleiben Armgart's. Sie ließ ihr außer dem Briefe der Mutter auch den kurzen und so unbestimmten des Dechanten. Und bei alledem, mehr mochte der Dechant jene geheimnißvolle Zuschrift aus Italien nicht studirt haben, als Armgart seine Runenschrift bis auf jedes Häkchen und jeden Bindestrich zu entziffern sich mühte. Ob voll Jammer und Klage über das veränderte Wetter nach langem Hin- und Widerreden das Institut sich eingeschifft hatte, ob die jungen »nachgemachten Engländer« sich drüben einfinden würden, ja ob selbst Benno ihrer harrte … sie blieb daheim und las und wachte über die kleine Liddy.

O, das sind seltsame Zustände, wenn es so in unserm Innern an allen Enden und Ecken zupft und kein Gedanke Stich hält, kein Gefühl zur That wird, keine Vorstellung, und wäre sie auch nicht schreckhaft an sich, doch kein reines und volles Behagen gewähren will! Dann weiß man, und die fiebernde kalte Hand bezeugt es, daß man in seiner Sorge und seinem Unmuth sich gewiß nur selbst zerstört, und doch kann man den Blutstrom, der alle Lebenswärme zum Herzen drängt, im Laufe nicht ändern, geht und wirft sich stöhnend aus einem Winkel[368] in den andern und sagt sich nur: Eins ist gewiß, ich werde krank! … Auch Freunde können dann nicht helfen. Ja, wer hat denn gleich von euch den sanften Ton und den vollen Accord der reinen Uebereinstimmung, den Ton, der uns gerade jetzt so noth thäte und den nur allein zu hören jetzt uns möglich ist! Wie klingt so oft euer Trösten und des Zuspruchs bestes Wort doch so völlig anders, als es die Schmerzen hören wollen! Schon daß ihr alle so gesund aus der frischen Luft des Lebens kommt! Daß euch allen nichts fehlt! … Käme z.B. jetzt Thiebold de Jonge – nur lachen, nur scherzen würd' er … Benno … Benno freilich … Benno ist immer so seltsam traurig … was fehlt ihm nur, dem Guten, dem selbst in Heiterkeit doch immer nur so duldend Scheinenden? … Paula! Paula! … Der hätte sie den Kopf in den Schoos legen mögen! Die hätte Frieden über ihre Seele gehaucht, schon mit dem Streicheln ihrer Hand allein! Paula hätte nur gesagt: Armgart! und in dem einen Worte, in dem Tone schon hätte alles gelegen, was sie still und ergeben gemacht!

Das Gewitter war endlich vorüber …

Armgart erfrischte die verweinten Augen auf einem Balcon, auf den eine Thür des Corridors des alten unheimlichen Gebäudes führt …

Schon war es die sechste Stunde … Die kleine Liddy hatte sich ein Geschichtchen erzählen lassen, sich dann auf die andere Seite gelegt und war wieder eingeschlummert.

Der Balcon ging nach der Seite hin, die dem Hüneneck zugewandt ist. Sie konnte die für eine wiener[369] Dame bestellten Zimmer nicht vergessen. Die »Vier Jahreszeiten« selbst waren vor Nebel nicht zu sehen …

Wie trübe dieser Anblick, der am frühen Morgen so schön gewesen! Die nächsten Berge jetzt ganz unsichtbar! Nur in leisen Contouren glitten sie aus dem Wassernebel heraus … Das Enneper Thal ganz durchwallt von weißen Luftstreifen, als zög' es fort mit den Wolken … Am Meere, das hatte eine Antwerperin im Institute erzählt, da säh' es so fast immer aus … Am Meere! … Selten schossen die Wasservögel so niedrig hin … Am Meere! gedachte sie wieder … Dann mußte sie das Nächste im Auge behalten, den Garten am Kloster, das Gewöhnlichste, nur um noch frisches Grün zu erblicken … Wie die Salatbeete im Regen so putzig küchenmäßig und überreinlich glänzen! Wie die Magd da watet barfuß in die weiche Erde hinein und die Köpfe heraushebt, die für den Nachtimbiß bestimmt sind! …

Wann werden die Mädchen kommen? … Bringt Angelika wol einen Gruß von Benno mit? Von Thiebold de Jonge? Oder kämen sie wol beide und besuchten sie hier selbst auf der stillen Insel? …

Darüber erschrickt Armgart … Leicht gekleidet geht sie aus der frischen, ihr plötzlich fühlbaren Luft in den schwülen Corridor, den noch schwülern Schlafsaal … Sie lüftet ein wenig das Fenster, das von Liddy am entferntesten liegt … Der Gedanke des heimlichen Besuches hat sie ganz überrieselt.

Sieben Uhr! Immer noch kommen die Mädchen nicht!

Der Regen hat längst aufgehört. Man sieht trotz[370] des Abendwerdens schon das Ufer wieder und drüben am Enneper Thal stehen die Kähne schon in Bereitschaft. Tönneschen Hilgers scheint so ungeduldig … Es läßt sich sonst noch etwas verdienen … denn mancher hat das Dampfboot versäumt und will hinübergesetzt sein auf das jenseitige Ufer, wo es heute Omnibus genug gibt, die wenigstens noch nach der Universitätsstadt fahren …

Da fahren auch in Mänteln Herren und Damen … Gäste aus der Villa? … Und immer die Mädchen nicht! … Müssen die sich gut unterhalten!

Die kleine Liddy ruft … des Abends kommt sicher noch das Fieber … Der Arzt, der vom Hüneneck her erwartet wird, auch der bleibt aus …

Halb acht Uhr! …

Da endlich, endlich! … da kommen sie! … Armgart sieht es trotz der Dunkelheit deutlich vom Balcone.

Die mögen schön einsinken in den weichen Feldwegen! … Lederschuhe haben glücklicherweise alle … Herren begleiten sie und die Kleinen werden über manchen Bach, der erst seit einigen Stunden auf der Enneper Landkarte steht, hinweggehoben … Ob Benno's Arm dabei behülflich ist? Wie sollte der zu den Herren von Drusenheim kommen? … Aber Benno weiß ja überall Rath … Da fährt ein Wägelchen! Mit zwei Ponies! … Zwei Damen bringen die allerkleinsten der Pensionärinnen an den Landungsplatz …

Sich alles das und mehr noch nun bald erzählen zu lassen, interessirte Armgart bei alledem … Von der Toilette der schönen Madame Fuld erwartete sie Wunderdinge … Niemand kann sein Geschlecht im Andern[371] mehr lieben und neidloser bewundern, als das weibliche.

Wo ist denn aber unter den Schiffenden nur Angelika? … Sonst winkt die doch immer mit ihrem Sonnenschirm oder mit einem Taschentuch, wenn sie vom Ufer kommt und Armgart steht auf dem Balcon … Heute aber – ja, da ist sie … Sie kehrt der Insel den Rücken zu! O, das sind schlimme Zeichen! … Oder gehört sie auch zu den Lacherinnen und schämt sich nur vor Armgart? … Wie aufgeregt ist das junge Volk! … Sie haben in den nassen Kähnen die Kleider aufgenommen und sitzen fast da wie die Butterfrauen, wenn die vom Markte kommen … Regnet's denn noch? … Die Hüte sind mit Taschentüchern umwunden … Man schont sie wol nur; nur die beiden Nonnen sind, was sie sind, in Sonnenschein und Regen, immer die gleichen Hauben mit den gleichen langen Flügeln … ihre zwei Regenschirme sind die gröbsten der Anstalt.

Jetzt sind sie da …

Die Erzählung! … Das Amusement! .. Was Armgart alles versäumt hätte! …

Armgart hält sich die Ohren zu. Sie will allerdings alles wissen, aber eines doch nur nach dem andern.

Es war indessen alles dasselbe: Kaffee, Chocolade, Baisers, Torten, Pfänderspiele und Pfänderspiele, Torten, Baisers, Chocolade und Kaffee. Die Damen mit den Ponies waren die beiden Engländerinnen gewesen … Das sagten zehn zugleich … Und der Herr, der die andern Kleinen über den Bach gehoben, hieß Herr von Terschka … und das sagten wieder zehn zugleich.[372]

Für Salat und Eier und kalten Braten und die französische Betrachtung der Schwester Aloysia in dem stockdunkeln Eßsaal war heute wenig Interesse vorhanden. Silence! A vos places! Das stiftete wol einige Ruhe. Aber man knupperte müde und übersatt am Salat und es war hier alles »nicht das«! Es rebellirte noch lange und murmelte und seufzte fort in dem jungen Volk bis zum Schlafengehen.

Angelika vermied ordentlich, Armgart zu begegnen.

Sie mied sogar, sie nur zu grüßen.

Von der kleinen Liddy oben sprach sie, die sie gleich besucht hatte und fiebernd fand, was den beiden Nonnen große Angst machte und des schlechten Wetters gedenken ließ, das den Arzt verhindert hätte, die Insel zu besuchen. Der Arzt hatte gesagt, er hätte im Roland noch den Abend zu thun … Im Roland! So nahe der Insel! .. Wird der Arzt nicht kommen?

Zuletzt machte sich's noch, daß Angelika und Armgart etwas allein waren. Die kleinsten streckten sich schon in ihren Betten. Die ältesten saßen unten noch im Eßsaal und sprachen das Erlebte durch. Auf die Beete und die Wege der Insel, die man sonst auch selbst in der nun schon früher und früher eintretenden Dunkelheit des Abends noch durchschlüpfte, konnte man vor Nässe nicht hinaus, wenn auch der Vollmond einlud, der vielleicht doch noch die Wolken durchbrach.

So standen Armgart und Angelika ungestört auf dem Balcon und krampfhaft hielt sich die Hand des jungen Mädchens am eisernen Gitter, als sie erfuhr, was noch der Pfarrer der Freundin mitgetheilt. Die Mutter[373] konnte schon drüben in den Häusern sein, wo die Lichter über den Wellen tanzten! Jener Fremde, der gestern die Zimmer bestellt in den »Vier Jahreszeiten«, hätte das für bestimmt versichert … Von Benno … sie hörte kaum … wußte Angelika nichts … und Thiebold de Jonge und den Bruder der Nanny Schmitz und die andern … von allen denen hätte man gleichfalls nichts vernommen …

Nun schlug es halb Neun … Rings war alles still, trübe und düster … Noch kein Stern am Himmel; doch an der Stelle, wo der Mond hervorbrechen konnte, schien es lichter zu werden … Armgart wollte sogar ein Boot erkennen, das man durch die Zweige der Bäume vom Hüneneck herübersteuern sähe. Angelika strengte ihre Augen an. Es kam auch ein Boot. Armgart zitterte und stand wie auf der Flucht. Alsbald ließ sich jedoch der Arzt erkennen, der noch so spät nach der kleinen Liddy zu sehen kam.

Als dies geschehen, in Begleitung der Englischen Fräulein, fuhr der Arzt nach dem Roland zurück.

Angelika begleitete ihn eine Strecke im Hause und wagte nach Benno von Asselyn zu fragen.

Benno von Asselyn? Wir erwarten ihn drüben im Roland! sagte der Arzt. Ich werd' ihn von den Damen grüßen.

Der Arzt hatte Eile. Sein Schiffer steuerte ihn zurück und bald sah man von allen Seiten, da und dort, Kähne kommen, die alle dem Roland zuschwammen …

Jetzt wollte auch Angelika zur Ruhe gehen.

Als sie an Armgart, die noch immer auf dem Balcon[374] verweilte, vorüber mußte, fand sie diese in der größten Unruhe.

Wieder steuerte vom Hüneneck gerade der Insel ein Nachen zu.

Es ist eine Dame darin! rief sie. Ein carrirter schottischer Mantel! Ein Diener hält den Regenschirm!

Das Wort: Es ist meine Mutter! erstickte in ihrer Freude und in ihrer Angst …

Auch für Angelika gab es kaum einen Zweifel an der Richtigkeit dieser Vorstellung. Sie zitterte ganz wie Armgart. Doch erbot sie sich, hinunterzugehen und genauer zu forschen … in der Richtung der Nachen irrte man sich oft.

Armgart widersprach nicht …

Der Kahn kam näher und näher …

Armgart sah vom Balcon bald rechts, bald links in die Tiefe und wußte nicht, wie sie auf beiden Füßen zugleich stehen sollte …

Angelika durchschreitet die schwülen, dumpfen steinernen Corridore und Treppen. Noch war es ja möglich, daß der Kahn hinüber zum Geierfelsen, nicht an die Insel fuhr …

Armgart rafft sich jetzt auf. Sie huscht in den Schlafsaal, wo ihre Kleider hängen und ihre Wäsche in einer Kommode liegt. Liddy schläft; die kleinern Bewohnerinnen des Saales schlafen alle; zwei ältere sitzen noch, unten im Eßsaal, aus dem man sie laut sprechen hört … Armgart rafft zusammen, was sie mit wenig Griffen finden kann, ihren Mantel, ihren Winterhut, ihre Hemden, einige Tücher, Strümpfe, Unterkleider, Schuhe,[375] Bücher … Ein großes Umschlagetuch wird auf dem Boden ausgebreitet, ohne Licht tastet sie hin und her, öffnet das Nähtischchen, leert es, wirft alles in ihr Tuch, die Zipfel knüpft sie zusammen und ihr Bündel ist geschnürt.

Um Gottes willen, Armgart, was hast du vor? flüstert Angelika, die zurückgekommen.

Ist sie's? Kommt sie?

Eine Dame kommt!

Armgart spricht kein Wort und stürzt mit dem Bündel von dannen.

Angelika besinnungslos – folgt, wie von ihr angesteckt …

Armgart klinkt die Pforte nach dem Garten auf. So feucht der Boden, so kühl die Luft, ist sie doch schon außerhalb des Gartens, quer hindurch über Salat und Rüben und Zwiebelstauden, wie sie die Wege nur abkürzen kann.

So stiegt sie dem Lichte zu, das sie an den kleinen bleigefugten Fenstern der Fischerhütten sieht.

Angelika, das sah sie, folgte nun schon nicht weiter …

Jetzt an den Fenstern der Fischerhütten anzupochen, da um einen Kahn zu bitten, dort dem Tönneschen, den sie richtig sieht und der in einem Buche studirt, oder den halb zuhorchenden, halb zuschlummernden Aeltern desselben, allen denen erst zu klopfen und zu schmeicheln oder etwas aufzubinden, eine Erfindung, eine Ausrede, einen Auftrag etwa … etwa auf der Villa Vergessenes holen zu müssen … das gäbe Fragen, Aufenthalt … Nein! Sie kann ja selbst rudern – fort ans Ufer – in einen Nachen – ihn losgekettelt – das Ruder ergriffen –[376]

So fährt sie von dannen.

Noch konnte sie des jenseit der Insel gegen den Strom angehenden Nachens nicht ansichtig werden … Sie steuert am Ufer der Insel hin, um nicht zu weit unten am Enneper Thal zu landen … Sie steuert gerade nach der entgegengesetzten Richtung, als in die jenen Nachen der Strom drängen muß … Nun aber gewinnt sie die Höhe des Wassers und der ganze Spiegel liegt in dem immer mehr aufgehenden Mondlicht vor ihr … Auf zweihundert Schritte ist sie von dem Boot entfernt, in dem eine Dame sitzt mit einem Diener – Mutter! rief es in ihr … sie suchte – die silbernen Locken! … O, wie pocht ihr das Herz! … Einmal war's ihr doch, als sollte sie über das Wasser hinwegfliegen, sollte einen Freudenschrei ausstoßen, die Arme ausstrecken und rufen: Mutter, da hast du dein Kind! … Aber auch nur einmal überwältigte sie's und sogleich stand ihr der Vater vor Augen, der Vielgeprüfte, der Wettergebräunte, der Flüchtling auf dem Oceane! … Und dennoch, dennoch sucht das Auge das Antlitz der Dame … Es ist ihr abgewandt … Da stehen die weißschimmernden Birken auf der Insel … Wird der Kahn vorübergleiten, wird er landen? … Er hält … er will zur Insel … landet … es ist nur die Mutter … und jetzt, jetzt ist ihr's doch, als zög' es sie in den Strom hinunter … die weißen Birken werden zu den Locken der Mutter … ein ganzes Leben geht ihr auf, beschienen wie vom Mondlicht … alles, was sie je nur unter den Trauerweiden und Birken vom Menschen- und vom Frauenloose geahnt, scheint sich ihr plötzlich zu erfüllen,[377] lebendig zu werden, zahllose Gestalten ziehen dahin und wie unter den Klängen einer ganz außerweltlichen Musik …

Schon entführte der Strom die schwache Schifferin … Sie konnte den Nachen nicht mehr regieren.

Er bringt sie aber ans Ufer … Weit, weit von dem Punkte, auf den sie mit aller nur möglichen Anstrengung ihrer Arme zugesteuert hatte, landet sie. Sie geräth in ein Gestrüpp von Weiden und Schilf, an dem sich bequem und sicher aussteigen läßt.

Jetzt gedenkt sie des Nächsten, Kommenden … Was soll sie beginnen? Wohin sich wenden? Ohnehin mit ihrem überschweren Bündel!

Die Thürme hatten schon von da und dort die neunte Stunde geschlagen. War auch die Welt hier noch wacher als auf der Insel drüben, wem sollte sie sich anvertrauen! Wie weit war nicht der Weg zu einer Post, die erst im nächsten Städtchen am Fuße des Geierfelsen lag! Ihre Baarschaft betrug einige Groschen über einen Thaler.

Den Kahn mußte sie dem Zufall überlassen … Ein Moment der Besinnung … Sie wagt den Sprung ins Uferröhricht, nachdem sie ihr schweres Bündel schon vorausgeworfen … Es gelingt alles.

Angelika's Anzeige und eine Verfolgung befürchtend, suchte sie nur zuerst eine Gelegenheit, weiter zu kommen.

Nirgends Menschen; aber Lichter auftauchend da und dort … Sie läßt ihr Bündel im Schilfe liegen und läuft nach Drusenheim hinüber. Den Wirth vom Palmbaum kannte sie ja und er sie … Was sie sagen wollte, wußte sie noch nicht. Sie wollte nur in die Berge hinüber,[378] vielleicht in ihre Heimat nach Westerhof, in ihr Stift, zum Heiligenkreuz, zu Paula, die ihr plötzlich in der fieberhaften Angst und Verwirrung ihrer Phantasie erschien, als wenn sie am Altar mit dem Grafen Hugo stünde, mit dem schönen Reiterobersten im weißen Waffenrock mit blinkendem Harnisch, und als fehlte nur sie noch, nur sie, sie, um der Freundin die Myrtenkrone aufzusetzen … So zitterte sie vor Eile … Sie wußte doch jetzt, was sie den Leuten im Palmbaum sagen, wie sie die gewünschte Hülfe in unverfänglicher Weise anschaulich machen konnte … Wagen! Pferde! Das wurde ihr Wunsch.

Athemlos flog sie Drusenheim zu, nicht achtend, daß sie oft bis zum Knöchel versank. An jedes Kreuz am Wege, an jedes Bild des Brückengottes, der auf einem Bachstege stand, richtete sie im schnellsten Vorüber eine Bitte um Beistand.

Endlich hatte sie die ersten Hütten erreicht, endlich ist sie in Drusenheim selbst.

Horch! Vom Palmbaum herüber … tönen da nicht plötzlich melodische Klänge?

Ist nicht Gesellschaft dort oben?

Kaum hat Armgart im schönen Fernhall das Lied vernommen, das von den obern erleuchteten Fenstern des Palmbaums und vom kleinen Balcon desselben herunter wie wallend und wogend in die stille Nacht erscholl:


»Vier Elemente, innig gesellt –«


erblickte sie einen Wagen vor der Thür.

Sind das doch nicht die Freunde von Nanny's Bruder Gebhard Schmitz? Sind das doch nicht die dennoch Gekommenen, wenn auch verspätet? Ist Thiebold de[379] Jonge unter ihnen, über den ich soviel lachen muß, weil er so verliebt ist, wie ein Windspiel? Gehört dieser Wagen hier wol gar den Sängern oben? Dann – Wie sollt' ich nicht hoffen, sofort ihn mein zu nennen, einzusteigen und hinauszufliegen in die weite, weite, weite Welt!

Wem gehört der Wagen? fragte sie rundweg einen Knecht, der eben die Pferde aus dem Stalle führte und einschirrte, während der Kutscher sich noch drinnen gütlich that.

Lustig sagte der Befragte:

Der Wagen? Der gehört da oben fünf Herren! Die haben heute Nacht 'ne Wallfahrt beschlossen in fünf Stationen! Auf jeder trinken sie eine andere Sorte Punsch! Fünf Meilen haben sie schon gemacht und in jedem Wirthshaus untersucht, ob die Weinkarte in Ordnung ist!

Vor Trunkenen überfällt jedes weibliche Herz Schrecken und Zagen … Schon vor dem Hausknecht bebte Armgart zurück … Oben aber erscholl der Gesang so schön, so melodisch und eben löste sich Schiller's Punschlied in Lachen und Jubel auf. Einer der Sänger – es war Joseph Moppes, der süßeste aller »vaterstädtischen« Tenore – trat auf den Balcon, das Glas in der Hand und einen andern, wirklich den Thiebold de Jonge, mit dem linken Arm umschlingend, singt er aus einem andern Liede, wieder von Schiller, dem Allwaltenden in Freud und Leid der Menschen:


»Bis die Liebliche sich zeigte,

Bis das theure Bild –«


Da schon hatte Armgart, nicht wissend, daß sie selbst die Gemeinte, hinaufgerufen:[380]

Herr de Jonge!

Hier hängt er! ruft Moppes …

Gehört der Wagen Ihnen, Herr de Jonge?

Wie? Was? spricht Thiebold, jetzt erst die Zartheit der herauftönenden Stimme erkennend …

Wie so? fragt Moppes, zugleich über den Balcon sich beugend.

Wem? Wie so? wiederholt Thiebold …

Woso? parodirt Schmitz, der Dialektkünstler …

Nun stürmt der Rest des Sextetts in des Staunens vollste Blüte … Clemens Timpe sogar noch mit einem aus voller Kehle geschmetterten:


»Preßt der Citrone saftigen Kern!« …


Und alle schwingen dabei die Hüte wie zur Abfahrt und Mäntel werfen zwei, der kühne Weigenand Maus und der stille Caricaturenstifter Aloys Effingh, geradezu vom Balcon hinunter auf den Wagen obenauf und nun ist es allen in Sicht, daß ja eine Dame mit ihnen parlamentirt …

Wie erstaunten sie, als sie auf Joseph Moppes' energischstes Ruhe Pause zählten und ein junges Mädchen mit Thiebold Verwunderung und Orientiren und Namen und Fracht und Verklarung des Schiffes austauschte, nach schnellstem Erkennen Gebhard Schmitzens die heute Vielbesungene selbst …

Thiebold war bereits unten …

Die von einer der melodischsten Sopranstimmen vorgetragenen Worte hörten sie:

Herr de Jonge! Ich habe aufs dringendste diesen[381] Wagen nöthig! Sie werden mir die Gefälligkeit erweisen, nicht wahr, ihn mir auf einige Tage zu leihen!

Mein Gott, Fräulein! Sind Sie's – denn wirklich –

Ruhig! hieß es oben …

Einzig! Auf Taille! flüsterte Gebhard Schmitz.

Verwundern Sie sich nicht zu lange, Herr de Jonge! fuhr Armgart fort. Ich bitte! Befehlen Sie dem Kutscher! Ich steige ein! Ich habe die größte Eile!

Wirst mir wol einer meinen Hut herunter?

Das war alles, wozu sich Thiebold zeit- und ortsgemäß sammeln konnte.

Fahren Sie mich ans Ufer zurück, da, wo die Weiden stehen!

Da, wo die Weiden stehen!

In diesen von allen jetzt mehr gesuchten als gefundenen Weiden blieben sechs verdutzte Blicke hängen …

Armgart saß schon im Wagen und Thiebold hatte auch schon seinen Hut auf dem Kopf. Clemens Timpe hatte versucht ihn just so zu werfen, daß er ihm auf seine blonden hochaufgerichteten Haare fiel (Thiebold's äußerste Unruhe ließ sich am fortwährenden Streicheln seiner Frisur erkennen); der Hut fiel indessen zwischen die Hufe der Pferde und vor die Räder und bekam, da die Pferde schon anzogen, eine starke Prüfung seiner »Garantie«.

Das ist das Loos des Schönen auf der Erde! rief Schmitz …

Thiebold aber, impertinent, wie auch nur er sein konnte, (Nur Selbstkritik, nicht etwa Verleumdung von uns), schwang sich hinten auf den bequemen Bedientensitz, verlor fast im[382] Abfahren seinen nun wieder hinterrücks fallenden Castor – »weiß auf blond!« hatte noch kürzlich Benno über diesen in gewisser Hinsicht »jetzt gelieferten« Hut und über Thiebold's Ansprüche auf Geschmack geäußert – und schon schwenkte der Wagen dem Strome und der bezeichneten Stelle zu, verfolgt von einem fast kosackischen Hurrah der Freunde Piter's, die in diesem Augenblicke sogar vergaßen, daß sie auf ihrer gleichfalls zu Wasser und darüber schon zu viel, viel Rüdesheimer und Punsch gewordenen Partie die Retourgelegenheit verloren hatten …

Der Wagen war jener vortreffliche Landau mit jenen in Kocher am Fall beinahe verdorbenen englischen Patentachsen und die englischen Pferde gehörten gleichfalls Herrn de Jonge senior, der es für zweckmäßig zu halten schien, wenn sie durch de Jonge junior in entsprechenden häufigsten Gebrauch kamen …

Armgart schlug in dem prächtigen Wagen die Hände zusammen und hielt sie hoch gen Himmel empor, aus tiefster Seele dankend allen seinen Heiligen.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 358-383.
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