2.

[33] Zur selben Stunde klopfte es im Kattendyk'schen Hause auf das allerheftigste an jene Thür, hinter welcher Treudchen Ley heute nur zwei Stunden hatte schlafen können.

Denn schon um sechs Uhr glaubte sie aufstehen zu müssen. Gut und gern hätte sie sich bei dem Befinden ihrer Herrschaft und der Freiheit ihrer Mitdienenden noch eine Stunde gönnen dürfen, um die durch ein Misverständniß verlorene Nachtruhe wenigstens um einen Traum mehr nachholen zu können.

Freilich war sie mit einem Traum erwacht, nach dem sie nie mehr wieder anders hätte träumen mögen.

Sie hatte geträumt leibhaftig ihre Mutter zu sehen … nicht etwa als Lebende, wie sonst, sondern als Todte, Erstandene, als seliger Geist und wirklich vom Jenseits her sie anredend und begrüßend …

Eben, wie sie der Thurmschlag der sechsten Stunde, wie sonst die Thurmuhr der alten braunen Stadtkirche[34] in Kocher am Fall weckte, sprach doch gerade die Mutter mit ihr wie aus einer sie verklärenden Wolke heraus, streckte förmlich ihr die Arme dar und lachte fast, unter Thränen und vor Wonne, sie nun gleich mit einer einzigen nur noch ein wenig weiter auszudehnenden Bewegung umfangen zu können …

Und sie selbst hatte das Wort: Mutter! wie einen Jubelton gerade auf den Lippen … wollte gerade in dem ganzen Ueberschwall des Herzens mit den Armen die geliebte, seltsamerweise nur im Oberkörper sichtbare Gestalt umfangen, den freundlichen, lebenswarmen Mund an ihre Lippen drücken, da gerade erwachte sie und sie erwachte auch vielleicht nicht … sie war vielleicht vorher schon wach und dieser Traum war die ganz wirkliche Erscheinung eines seligen Geistes gewesen.

Glücklich durch diese immer mehr sich befestigende Ueberzeugung, glaubte Treudchen nun, daß die Mutter in irgendeiner Form leben könnte und wach sein und ganz dicht um sie und über sie und ihre Geschwister, die im Waisenhause der Stadt waren, schweben … Die Pein des Fegfeuers mußte sie also glücklich und schnell überstanden haben, dank der gründlichen Versehung mit den letzten Heilsmitteln durch den geliebten Priester, der täglich und stündlich von ihr und ihrer hochverehrten Freundin und Beschützerin Lucinde Schwarz erwartet wurde. Nachdem sie sich eben aus ihrem Danae-Zustande – Danae muß blond gewesen sein, weil ihre Schönheit Jupitern auf den Gedanken brachte, sie gerade in ihrer eigenen Gestalt zu überraschen – in die erste nothwendigste Kleidung geworfen und ihr[35] auch Jupiter-Piter's Zudringlichkeit dabei nicht mit allzu grellem Schrecken eingefallen war, fuhr sie nur zusammen bei dem schnellen Ersteigen der Treppe draußen, das sie hörte, und bei dem Klopfen an ihre Thür.

Sie öffnete …

Es war das so liebe gute herzige Fräulein Lucinde! Sie kam in ihrer täglich jetzt an ihr gewohnten schwarzseidenen vornehmen Tracht, die ihr doch gerade stand als wollte und könnte sie alle Tage Aebtissin werden.

Kind! rief Lucinde, heute in einem ganz weltlichen Tone, den sie noch gar nicht an ihr vernommen hatte; das Aller-Allerneueste … ich komme schon aus der Frühmette …

Treudchen konnte nichts Schlimmes erwarten; denn Lucinde war zwar erglüht vor Aufregung, aber nicht gerade wie über einen Unglücksfall …

Die ganze Stadt ist in Bewegung – fuhr jedoch Lucinde, sich erst etwas erholend, fort; diese Nacht ist ja die Frau, Kind, bei der du dienen solltest, ermordet worden!

Nun stand sie freilich starr … Daß das ein ängstlicher Dienst gewesen wäre, wußte Treudchen schon von dem Stadtpfarrer Hunnius, der unbedingt auf Lucindens Verlangen die Aenderung des Schnuphase'schen Engagements getroffen hatte … Schnuphase hatte auf dem Lande ein anderes Opfer suchen müssen, ein Opfer, bei dem immer sozusagen zwei Fliegen, ja oft drei mit Einer Klappe getroffen wurden: Eine Magd für die gottselige[36] Testatorin, die Frau Hauptmännin von Buschbeck; eine Nähterin entweder für die Schwesterschaft zu den Nothhelfern oder für seine eigenen heiligen Gewand-Stickereien oder für einen mysteriösen Weißwäsch-Handel seiner Töchter; und zuletzt drittens, da alle diese Institute ohnehin schon über die Sprachgitter der Klöster hinausführten, manchmal auch noch eine der von Rom so dringend verlangten Bräute des Himmels für diese Klöster selbst … Aber die Freude, die Genugthuung, die Lucinde über dies traurige Ende zu empfinden schien, konnte sie ihr denn doch nicht nachfühlen.

Ich komme die Straße daher, erzählte Lucinde und raffte sich aus ihren wie jetzt ganz lebendig gewordenen und um sie her just wie in einem Krebskorb drängenden Kindheitserinnerungen, den Zwetschenkernen, den Tauben, den Mäusen auf; ich komme die Straße daher und will zur Kathedrale! Da hör' ich ja das lebhafte Reden der Menschen, das Rennen nach einer bestimmten Gegend hin, und an einem Platz, wo ich, seitdem ich hier bin, täglich zu den Fenstern habe aufschauen müssen, weil ich wußte, da wohnt der schlimme Drache, erfahr' ich, was ihm begegnet ist! Es hat sie einer umgebracht! Hinauf durft' ich nicht, aber ich höre, sie liegt – kalt in der Küche am Feuerherd …

Lucinde erzählte das mit sichtlichem Behagen. Aber jetzt bekam sie doch einen Schauer, als überliefe sie Eisesluft … Da, wo sie einst meinen Tauben den Hals umdrehte! rief ein ganzer Chor von schadenfrohen Dämonen in ihrer Brust und die schüttelten sie.[37]

Wer es gewesen ist, fuhr sie fort, weiß man noch nicht! Schildwache und Polizei stehen am Hause! Treudchen! Treudchen! Wenn du bei ihr gedient hättest!

All ihr Heiligen! So würd' es vielleicht nicht geschehen sein! sagte die Kleine und klagte sich nun gar selber an …

Was? Es hätte dich mittreffen können! berichtigte Lucinde und streichelte die Fülle des goldenen Haares, die Treudchen sich bei alledem ihr Anziehen nicht vergessend mit einer kühnen Schwenkung um den weißen Nacken warf.

Treudchen fand sich in die Auffassung ihrer Gönnerin.

Und was wirst du nun heute beginnen? Wie war die Nacht? Ist dein Nachbar fort, der junge Herr? fragte Lucinde in Eile und den Tod der Buschbeck gleichsam wie ein fertiges und bereits eingebundenes Buch in die Bibliothek ihres Lebens stellend.

Ich will sehen, daß ich meine Geschwister im Waisenhause besuchen kann –! erwiderte Treudchen, die über die Erwähnung der Nacht und des Nachbars über und über erröthete …

Lucinde bemerkte aus den hervorgestotterten Antworten nichts Besonderes und es drängte sie ja auch mit Macht, jetzt zu sagen:

Der Pfarrer von St.-Wolfgang ist angekommen!

Auf den freudigen Ausruf Treudchens fuhr sie fort:

Ich erfuhr es schon gestern Abend bei der Commerzienräthin … die Domherren sprachen davon … Wirst du hingehen, ihn zu begrüßen? … Ich dächte doch! … Thu' es ja![38]

Ich hoffe, Madame Delring läßt mich ein Stündchen ausgehen!

Indem klingelte es einige Zimmer weiter und sogar zweimal …

Lucinde war schon auf dem Sprunge zu gehen …

Aber Treudchen sagte:

Nein, das gilt dem Bedienten! Einmal geklingelt das bin ich! Dreimal ist unten die Kathrine, die Köchin! Die Herrschaft will jedoch von jetzt an allein zu Mittag speisen! Das Treppensteigen wird der Madame zu beschwerlich!

Lucinde schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Nein, das ist nicht der Grund! …

Sie hielt aber an sich und ließ dadurch Treudchen Zeit aufs neue zu dem Erlebniß mit der ermordeten alten Frau zurückzukommen. Ihrem größten Triumphe konnte Lucinde gar nicht einmal Worte geben; denn wem gönnte sie mehr diese Demüthigung als der Herrin der Dechanei zu Kocher am Fall, Petronella von Gülpen? Hätte sie nur die Verwandtschaft noch ein wenig bestimmter gewußt! Der Name »Fräulein von Gülpen« für die Hauptmännin von Buschbeck schien hier niemanden geläufig wie einst ihrem Stadtamtmann damals in der Stadt, wo sie bei ihr gedient hatte. Selbst Schnuphase, durch den doch die gewiß erst von der äußersten Noth und Verzweiflung abgerungenen frommen Spenden der Ermordeten gingen und den die Schwesterschaft zu den Nothhelfern in Bewegung setzte, um mitzuhelfen das ausgesetzte Legat zu erwerben, selbst Herr Maria hatte nichts gewußt von dieser ursprünglichen Herkunft und so nahen Verwandtschaft[39] seiner Schutzbefohlenen mit der hochverehrten Dame in der Dechanei.

Doch selbst wenn Lucinde über die Verwandtschaft ganz sicher gewesen wäre, hätte sie vielleicht ihren innern Jubel, der jede Leidenschaft natürlich, Liebe wie Liebe und Rache wie Rache nahm, gemäßigt. War doch ihr fester Vorsatz, in diesem Hause, das ohnehin so wirr und geräuschvoll auf sie einstürmte, und überhaupt in ihrem ganzen Benehmen sich auf ein Nichts zu stellen … Dein bischen Verstand willst du an die Kette legen! Das hatte sie sich schon gesagt, als ihr Schnuphase zur Seite saß und in seinem von ihm selbst gefahrenen Wägelchen genugsam ihre Satire herausforderte. Du willst nicht lachen über die Devotion des Mannes, nicht über seine Sprechweise, nicht über den Durst seines Gaules, der immer auch den seinigen involvirte, wenn er auf ihrer fast einen Tag dauernden Reise abstieg! Sie ließ ihn erzählen von den Bienen, von seinen Töchtern, von allen offenen und geheimen Schwester- und Brüderschaften, von Gespenstern und Geistern und Wundern, von Rückkehrenden aus dem Jenseits, die berichteten, welchen Vorzug dort oben die Rechtgläubigen genössen, von den Nonnen, die wieder die blutenden Male des Erlösers zu zeigen anfingen, von allem ließ sie ihn reden und staunen und hütete sich wohl ihrer Art so den Zügel schießen zu lassen, wie etwa an der Maximinuskapelle über die Heiligenbilder Napoleone Biancchi's oder die alten Münzen und die seltsame Production der Jahrhunderte beim Wirthe zum Weißen Roß. Sie glaubte alles, selbst an[40] die Frömmigkeit der Frau Hauptmännin und an die andächtigen Lieder, die diese zu ihrer Guitarre mit zwei Saiten abendlich singen sollte. Sie glaubte an das Glück aller der Mädchen und jungen Männer, die Herr Maria schon überredet hatte in die Klöster zu gehen. Sie glaubte an einen Krieg, den Oesterreich erklären würde, wenn dem Kirchenfürsten nur irgendein Härchen gekrümmt würde … Immer nur hörte sie und blinzelte mit den Augen und nahm sich vor, durch Denken, Urtheilen, Aufblicken niemanden in der Welt mehr aufzureizen. Auch im Hause der Kattendyks, vor der unruhigen, ewig agitirten Frau Commerzienräthin, vor der anspruchsvollen noch ledigen Tochter, vor der eiteln Frau Procurator Nück, vor den Hausfreunden blieb sie sich in dem System, ungefährlich zu erscheinen, gleich. Sie antwortete nur, wenn sie gefragt wurde. Und gewiß war das ein eigener Eindruck, die hoch aufgeschossene Gestalt mit dem so ausdrucksvollen schwarzäugigen Kopfe, der vorgeneigten Stirn, den behenden ebenmäßigen Gliedern, weltkundiger Art des Benehmens, doch in dem Hause so an den Wänden entlang schleichen zu sehen, jedem ausweichend, niemanden ansehend. Und diese Rolle war nicht einmal ganz Verstellung. Sie hatte wirklich in tiefster Ueberzeugung die Ansicht gewonnen, daß in ihr besonders für die Frauen etwas Herausforderndes und Verletzendes läge und daß sie es jetzt ganz gut, ganz klug treffen würde, wenn sie sich um jeden nur irgendwie auffallenden Effect lieber gleich selbst brächte.

Ihr Bangen dabei war Bonaventura's Ankunft und –[41] seine mögliche Begegnung mit dem Mönche Sebastus! … Diese Furcht mehrte nicht wenig die Angst und Sorge ihres in der That eingeschüchterten und bitter vergrämelten Gemüths.

Den Mönch hatte sie noch nicht entdecken können, aber täglich hörte sie von ihm reden und seine Flugschriften und die Aufsätze bewundern, die er in die Welt streute. Mit dem Wandeln, den Topf in der Hand, wie Beda Hunnius geschildert, mag es doch wol nicht so weit her sein! hatte sie sich schon spottend gesagt; aber kaum entdeckte sie, daß sie am Abendtisch der Commerzienräthin, vor dem silbernen Theeservice, bei einem solchen Einfall über des Mönches Heiligkeit die Miene verzog, unterdrückte sie auch schon den Zweifel und horchte und lauschte nur und schien überhaupt immer nur still vor sich hin zu beten … Die Gesellschaft der Commerzienräthin staunte über so viel Frömmigkeit. So oft von dem Domvicariate, das zu besetzen war (von Bonaventura's möglicher Designation schien man noch keine Ahnung zu haben), die Rede ging, ergoß sich über ihr ganzes Sein ein warmer Strom, in ihren Adern fing es an zu rinnen und merkte das denn doch z.B. der alte Ex-Schauspieler Pötzl, der eigentlich nur die Aufsicht über zwei Bologneserhündchen der Commerzienräthin zur einzigen Lebensaufgabe hatte, und sagte dergleichen, so war es nur ihre Theilnahme für den neuen Glauben gewesen. Ach, ihr neuer Glaube war: Hier in dieser großen Stadt erhört dich Bonaventura doch noch und nennt dich seine einzige und wahre Liebe! Als sie den Domherrn Taube und sogar zweifelnd berichten hörte, die Gräfin Paula von Dorste-Camphausen[42] zu Westerhof bei Witoborn hätte neuerdings wieder Visionen gehabt und verrichtete sozusagen Wunder und als im Gegentheil der Medicinalrath Goldfinger vom Standpunkte einer gotterleuchteten Naturwissenschaft an dieser Möglichkeit gar nicht im mindesten zweifelte und auch die Commerzienräthin schon die Hände faltete und alle Schäden ihres Leibes und ihrer Seele überlegte, die sie vielleicht der »Seherin von Westerhof«, wie man sogleich den Titel feststellte, zur Begutachtung und Heilung vortragen könnte (von Piter's Reise gerade dorthin auf Witoborn zu konnte nicht gesprochen werden, da Piter nicht mehr »der Mann« war über seine Schritte im Hause irgendjemanden Rechenschaft zu geben), da erwachte schon wieder die alte glühende Eifersucht in Lucinden und ihr, der Aufgeklärten, ihr, die z.B. zu Treudchen's Erzählung, sie hätte eben ihre Mutter gesehen und ordentlich mit ihr gesprochen, tief überzeugt entgegnen konnte: Kind, die Todten sind todt! stand fest, daß Paula bereits die Annäherung Bonaventura's in ihren Lebenskreis merkte und in Ekstase gerathe nur durch das von ihr geahnte Näherkommen dessen, mit dem sie im magnetischen Rapporte stand.

Auch Treudchen gegenüber blieb Lucinde bei den Schleiern, die sie über ihr ganzes Wesen deshalb ziehen zu müssen glaubte, um nicht neue Dolche in ein Herz gestoßen zu bekommen, das ihr für neue Täuschungen keine Kraft mehr zu haben schien.

Und als es nun unten im ersten Stocke lebendiger zu werden anfing und sie leise auf den Corridor hinaustrat, um lieber gleich über Piter's luftige Treppe auf[43] den Schauplatz ihres Wirkens zurückzukehren, sagte sie noch:

Kind! Die Commerzienräthin möchte gern manches wissen, was Madame Delring thut! In welchen Büchern sie läse? Ob sie betete? Ob sie lange mit ihrem Mann allein spräche? Die Frau will ihr Kind im Glauben ihres Mannes, der Protestant ist, taufen lassen! Das ist ein großer Kummer für die ganze Familie! Gib darauf Acht, was dir etwa ketzerisch erscheint! Sag' es immer erst mir, damit ich sehe, ob man es wieder berichten muß! Auch verlange fest und bestimmt, daß du alle drei Tage in die Messe gehen müßtest! Die Commerzienräthin will das! Sage nur, du wärst's einmal so gewohnt und hättest sonst keine Ruhe! Hörst du? Ich soll es dir sagen!

Treudchen, die diese Anleitung zur Rechtgläubigkeit ganz in der Ordnung fand, hätte gern auch einige Winke gehabt für ihr Verhältniß zu ihrer so nahen Nachbarschaft, zu Pitern und seinen Freunden, und sie hätte, wenn Lucinde ihre schüchterne Andeutung hätte nicht verstehen wollen, das Erlebte selbst erzählt; aber Lucinde huschte schon davon und flüsterte nur noch, indem sie Treudchen über das Geländer etwas Geld in die Hand steckte:

Da! Wenn du den Pfarrer besuchst, kauf' ihm Blumen! Hörst du? Am Dom stehen so wunderschöne! Ist er nicht zu Hause, so stelle sie selbst ins Zimmer! Hörst du? Nicht etwa durch die Damen Schnuphase – verlang' es, daß du es selbst thust! Sie gönnen dir's nicht und geben sie ihm nicht! Einen großen[44] vollen mächtigen Strauß kaufe und mit Orangenblüten – hörst du? Man verkauft sie so! Vergiß es nicht! Aber um Himmels willen, sprich nicht von mir!

Treudchen war nun schon allein und beeilte sich, die Windungen ihres Haares zu befestigen – ihr schwarzes Merinokleid hatte ihr schon vorher Lucinde hinten geschlossen – und die selbstgestickten Pantoffeln vertauschte sie mit Schuhen vom besten, freilich etwas derben kockerer Leder.

So beim Ueberbeugen zur Erde – was machte da nicht alles die Brust eines so jungen Lebens schon so schwer! Die gestrige Scene mit dem »jungen Herrn«! Nun der Mord der Frau, bei der sie hatte dienen sollen! Die Ankunft des Pfarrers und die Blumenspende! Die Aufsicht über die ketzerischen Gesinnungen ihrer Herrschaft! Ihre Geschwister unter den Waisen! … Wäre nicht der volle Nachhall der Erscheinung ihrer Mutter gewesen und es noch so in ihr lebendig, als hörte sie deutlich das Jubelwort: Treudchen! das die Mutter sprach, und ihr eigenes angstvoll seliges Mutter! sie würde jetzt nicht so ruhig hier am Spiegel haben stehen und ihren übergelegten Kragen ordnen können … In Lucindens Blumengruß an den Pfarrer konnte sie nichts Auffallendes finden. Gute katholische Seelen wissen es, daß sie nichts zu verabsäumen suchen sollen, was nur irgend dazu dienen kann, einem Geistlichen Freude zu machen. Sind die Geistlichen ausgeschlossen von den gewöhnlichen Freuden des Lebens, haben sie das zu entbehren, was andern Trost und Erhebung gewähren kann, eine Familie, Gattin, Kinder, Liebe und[45] Hingebung, so ist es Pflicht aller derer, für welche sie diesen heiligen Lebenswandel führen, ihnen eine stete Aufmerksamkeit zu widmen und ihnen den vollen Genuß alles dessen zu gewähren, was es außerhalb des Glücks der Hingebung, besonders eines weiblichen Herzens, sonst noch Wohlthuendes in der Welt geben kann. Dies Lieben mit der Seele, dies Umwerben und Umschmeicheln eines Geistlichen mit steter Huldigung soll, sagt man, zu den besondern Glückseligkeiten derselben gehören.

Und Treudchen war so aufgeregt, daß es ihr jetzt vorm Spiegel war, als spräche die Hasen-Jette hinter ihr: Nun, was ist, Treudchen! Bist alle halbe Jahre einmal hübscher geworden! Wirst auch jetzt um die Trauer nicht zurückgehen! Kinder von Metzgern, Treudchen, sind immer schön! … Eine Ansicht, die die Hasen-Jette am wenigsten um ihren David zurücknahm … Und auch Nachbar Grützmacher's Stimme hörte sie: Ei, potz Blitz! Hätt' ich nicht schon mein Bündel da – (er bekam dabei von diesem Bündel, seiner Ehehälfte, einen vertraulichen Schlag auf den breiten Rücken), so würdest du noch die Frau Wachtmeisterin werden können, Treudchen!

Treudchen wartete auf das einmalige Klingeln …

Es erfolgte nicht …

Sie trank ihren Kaffee … Er war so stark, daß ihre ganze Familie an der Verdünnung ein Sonntagsfrühstück gehabt hätte.

Die Mitmägde, die Bediente musterten sie … Es gibt zweierlei Blondinen … Solche, die wie eine Maiblume blühen und duften können, aber auch ebenso schnell[46] mit einem einzigen wunderholden Mai wieder verwelken; und solche gibt es, die man Kern- oder Dauerblondinen nennen sollte, weil sie noch als Greisinnen so anmuthig sind wie herbstlich geröthete Aepfel. Treudchen gehörte zu letztern. Wie schön stand ihr das schwarze Merinokleid zu der hellen Farbe ihrer Haut! Fast zu schmuck machte sich der Florbesatz in den goldgelben Windungen ihres Haares! Und nun lag gar zum Ausgehen schon da der von ihr selbst zum Begräbniß gefertigt gewesene schwarze Sammthut, in den sich ihr Kopf zurücklehnte, wie auf eine Folie, die den Glanz noch erhöht! Und die kostbare schwarzseidene Mantille, die ihr schon gestern gleich bei der Ankunft Madame Delring als eine »abgelegte« geschenkt hatte! Eine abgelegte und noch so neu und glanzvoll! … Madame Delring war eine eigene, vielleicht sehr reizbare, vielleicht höchst wunderliche Frau; sehr vornehm, sehr stolz … aber gegen Treudchen war sie weich und milde. Lucinde hatte das Treudchen gleich vorausgesagt. »Die Frau Delring wird dich in ihr Herz schließen!« Nach zehnjähriger kinderloser Ehe war Frau Delring plötzlich in die Hoffnung gekommen. Wenn Treudchen die Augen ihrer Herrin so eigenthümlich umflort sah, so wußte sie erst jetzt, daß vielleicht die ernste blasse Dame, die in Glück und Glanz zu leben schien, an die Kämpfe dachte, die mit dem theuern Keime ihres Herzens ihr würden mitgeboren werden. Es handelte sich schon seit Monden im täglichen Gespräche nicht nur ihres Hauses, sondern der ganzen Gesellschaft um die »Religion« des erwarteten Kindes …

Nun, da nicht geklingelt wurde, ging Treudchen von[47] selbst an ihre Aufgabe, die vordern Zimmer zu putzen und in ihnen aufzuräumen und abzustäuben.

Da gab es so viel des Kostbaren und Zerbrechlichen zu schonen, daß sie ihre Gedanken zusammennehmen mußte!

Inzwischen vermißte sie etwas … In dem kleinsten, fast wohnlichsten der reich ausgestatteten Gemächer hatte doch gestern Abend noch, wie sie flüchtig vorübergehend und sich doch dabei tief verneigend gesehen, mitten in einer kleinen Laube von Epheu ein kleiner Altar mit einer Mutter Gottes von Gold, Silber und Edelsteinen gestanden. Heute fand sie das Bild nicht an der Stelle, wo sie es suchte, um in aller Stille und noch von niemanden belauscht, zu ihm ein Gebet zu verrichten.

Sie suchte und suchte – das Bild war nicht zu finden. Vielleicht war es so kostbar, daß es des Nachts verschlossen wurde, dachte sie erst. Sie stand am Eingang der Laube, in der Hand den Staubwedel. Der kleine Altar mit einem Weihbecken, das aber völlig wasserleer und sogar ein Stecknadelbehälter geworden war, war derselbe, wie gestern; die Gottesmutter aber fehlte …

Nun sah sie sich darauf um im Gemach. Da stand ein schwellender Divan, mit grünem und in Streifen gesticktem Sammt bezogen, darüber her wie zu einem Throne erhob sich ein Baldachin von demselben kostbaren Stoffe mit schweren goldenen Fransen besetzt. Da standen kleine Fußschemel von demselben Aussehen. Auf einem Tische mit langer grüner golddurchwirkter Decke lagen Bücher und Musikalien, Näharbeiten, ein angefangenes kleines Kinderhemd mit köstlichen Spitzen besetzt …[48]

Sie sollte sich nach den Büchern erkundigen, hatte sie soeben von Lucinden vernommen … sie konnte aber nicht glauben, daß es ketzerische waren. Noch gestern Abend hatte ja Madame Delring hier mit ihrem Gatten so traulich, so lieb gesessen … er hatte ihr vorgelesen … sie horchte zu und nähte dabei … und darüber her gab ein bronzener Kronleuchter von drei gedämpften Flammen in Glasglocken ein so eigenthümlich schönes Licht … und in einem Winkel, mehr dem von Vorhängen ganz verdeckten einzigen Fenster des Zimmerchens zu, stand aufgeschlagen ein Pianino … noch lagen die Noten auf dem Pulte und seltsam genug erschien ihr schon gestern dies Instrument, das mit dem in der Dechanei keine Aehnlichkeit hatte, denn hier gingen die Saiten in die Höhe … und so klein das Instrument war, doch hatte Frau Delring, kurz vor dem daß sie zu Bette ging, gestern noch einige Minuten lang darauf so sanft, so zart, so volltönend gespielt … nirgends fand sie aber das Muttergottesbild.

Endlich – da entdeckte sie es beim Abstäuben – auf dem Fußboden! In einem Winkel stand es, das kostbare Heiligthum! Wie entthront und von seinem Altar gestürzt! Es stand in einem Winkel, an einer kleinen Etagère, die mit bunterlei Dingen besetzt war, kleinen Spinnrädchen von Elfenbein, kleinen Bauerhäuschen von Holz, kleinen goldenen Papagaien in Ringen und mit Edelsteinaugen, ja mit einem niedlichen ausgestopften bunten Vögelchen, das sie vollkommen für einen Kolibri erkannte … da stand die Mutter Gottes mit dem Kinde auf dem Teppich des Fußbodens! Gerade, als gehörte auch sie zu dem Spielzeug auf diesen Mahagonibretchen![49]

Letztern Gedanken faßte ihre bescheidene, von ihrer Herrschaft nur das Beste voraussetzende Seele gar nicht in voller Klarheit … Sie wußte nun aber doch nicht, sollte sie das Bild jetzt erheben und wieder auf den Altar setzen oder durfte sie das nicht … Es war ganz still um sie her … nur auf der Straße lärmten und rasselten die Wagen … Kirchenglocken läuteten … sie beugte sich still zu dem Bilde nieder, kniete und betete zu ihm.

So manche Anrufung kannte sie, so manche Umschreibung des Englischen Grußes … was sie aber auch leise jetzt so vor sich hinmurmelte, alles sollte Dank, Bitte, Hoffnung für sich und ihre kleinen Geschwister sein.

Wie sie einige Minuten so gelegen und geflüstert hatte, ganz unbekümmert die Hände sogar mit dem gar nicht fortgelegten Staubwischer faltend, da hörte sie ein leises Geräusch hinter sich …

Erschrocken wandte sie den Kopf und ließ vor Ueberraschung den Staubwischer fallen, als sie im Morgenkleide und großer spitzenreicher Haube mit fliegend hängenden Rosabändern Madame Delring hinter sich sahe.

Auf den Teppichen, die durch alle Zimmer gingen, war die Herrin eingetreten, während sie sich in ihrem Gebete verloren hatte.

Statt aber, daß sich Treudchen jetzt rasch erheben wollte, hielt sie Madame Delring nieder und bedeutete sie fortzufahren … Ja als Treudchen verlegen zögerte und dennoch aufstehen wollte, rückte Madame Delring mit dem Fuße selbst eines der kleinen Bänkchen näher, fuhr mit der Hand über ihre weiten und bauschigen schönen gestreiften Musselinkleider, die ehre Gestalt einhüllten, und[50] versuchte, sich nun auch selbst niederzulassen. Diese Bewegung war so schwer, so ängstlich, daß sich Treudchen nicht hielt, sondern aufsprang und ihre Herrin unterstützte …

Langsam ging es, aber doch ganz bequem. Madame Delring kniete auf dem niedrigen Fußschemel. Mit stummer, leidverklärter, durchgeistigter Miene bedeutete sie Treudchen, in ihre frühere Stellung zurückzukehren, neben ihr zu knieen und im Gebete fortzufahren.

Als dies Treudchen mit klopfendem Herzen und voll Verlegenheit nicht wagte, sagte ihre Herrschaft leise und fast unhörbar:

So bete doch!

Treudchen begann nun aufs neue den Englischen Gruß, aber für sich.

Laut! sprach Madame Delring sanft …

Treudchen betete lauter, aber noch mit zitternder Stimme.

Recht, recht laut! … sagte Madame Delring und hatte die Hände gefaltet und schien der Vorbetenden wörtlich zu folgen.

Als Treudchen zu Ende war und schwieg, sagte die tief in Gedanken Verlorene und wie von einem unendlichen Leid Gedrückte und als wenn sie noch wenig von all den Worten gehört hätte:

Bete!

Nun wandte sich Treudchen erstaunt und bemerkte, daß die Augen ihrer Herrin feucht waren. Eine große und schwere Thräne rollte eben von den Wangen der nicht schönen, aber höchst würdevollen und durch Haltung und Wuchs einnehmenden Frau.[51]

Da ergriff es denn Treudchen wie mit geisterhafter Ermuthigung. Alles, was ihr von ihrer Firmelung und ersten Beichte und ersten Communion her an wohlgefügten Sprüchen und Versen in Erinnerung geblieben war, sprach sie jetzt ungeordnet durcheinander und mit lauter Stimme. Sah sie sich um und fand, daß die Mitbetende ganz mit Entäußerung ihres Standes wie eine Schwester, wie eine Mutter ihr folgte, so begann sie aufs neue und betete inbrünstig den Himmel auf die Erde herab. Alle nur möglichen Sünden, Eitelkeit, Hoffart, Unglaube, Geiz, Falschheit, wurden, weil die einmal in den Gebeten so formulirt sind, von ihr auch bekannt. Auch die einzelnen Fürsprecher unter den Heiligen wurden namentlich aufgerufen, sodaß jeder auch gerade den Fehler dargebracht bekam, auf den er gleichsam das Vorrecht hatte, daß ihn Gott gerade nur durch seine Vermittelung vergab … der Gottesmutter dabei ganz zu geschweigen, die zuletzt wie mit ihrer Zauberhand Schloß und Riegel am Schatz der Gnaden sprengte und das Kind Jesu auf ihrem Arm nur immer so hineinlangen ließ und Juwelen und Blumen und alle himmlischen Freuden der Vergebung auf die vor ihnen Knieenden niederwerfen.

Erschöpft schwieg endlich Treudchen in ihrem sie wunderbar überkommenen Priesteramte, das sie vollzog, als hätte sie eine Ahnung von dem Streit der »gemischten Ehen« …

Madame Delring erhob sich, indem das junge Mädchen aufsprang und ihr dabei behülflich war.

Daß Treudchen das kostbare und schwere Metallbild[52] wieder auf den Altar unter die Epheulaube setzte, schien sich ihr jetzt von selbst zu verstehen. Es wurde auch von Madame Delring nichts dagegen eingewandt, als was die Schwere betraf … Treudchen brachte es vollkommen und wie triumphirend zu Stande.

Madame Delring sammelte sich jetzt von ihrer Aufregung. Sie verbarg ihr feuchtes Taschentuch von köstlich duftenden Spitzen. Sie sah sich um, klingelte zweimal und bestellte mit gelassener Stimme ihr Frühstück … Sie wußte, daß ihr Gatte schon unten im Comptoir war.

Mein Bruder ist ja verreist? fragte sie dann beklommen, sich auf den Divan zum Frühstück setzend …

Treudchen sprach ein verlegenes: Ja! Sie kehrte dabei zum Ordnen der Nebenzimmer in diese zurück … Die Thüren standen offen.

Du wirst zu deinen Geschwistern gehen wollen! sagte Madame Delring.

Ich wollte darum bitten …

Und in die Messe! Wie oft hörst du sie? Außer Sonntags!

Treudchen sollte sagen: Alle drei Tage! Aber sie konnte jetzt nicht, vielleicht niemals lügen … Nur Sonntags! sagte sie.

Immer, wenn du ausgehst, komm' erst zu mir und frage, ob ich Bestellungen habe!

Ja, gnädige Frau!

Was ist die Uhr?

Halb neun!

Um neun kannst du gehen! …[53]

Die Empfindungen Treudchens, als sie dann ging und bis neun in ihrem Zimmer allein blieb, ließen sich nur mit denen einer freudig sich dahingebenden und sieggekrönten Aufopferung vergleichen. Sie fühlte, wie man für jemanden sterben könnte, nur um ihn vom Uebel zu erlösen. Die Gottesmutter war die Siegerin geblieben! Es war ihr so leicht, so himmlisch beschwingt, daß sie dem ganzen Hause hätte zurufen mögen: Ich habe eine abtrünnige Seele gewonnen!

Um neun Uhr kehrte sie dann zurück, um sich, wie sie sollte, ihrer Herrschaft noch einmal vorzustellen …

Sie hatte nachgedacht, ob sie die so wieder in Gedanken verlorene und noch tief betrübt scheinende Frau nicht durch die Mittheilung des in der Nacht geschehenen Mordes unterhalten sollte und von dem Glück sprechen, daß sie nicht in diesem grauenhaften Hause, sondern hier bei ihr leben könnte; doch überlegte sie, und mit Zustimmung der andern Dienstboten, die Trepp auf Trepp ab liefen, daß Eröffnungen dieser Art bei dem Zustande der Gebieterin nur von ihrer Familie kommen müßten.

Wie Treudchen wieder in die vordern Zimmer eintrat, lag Madame Delring auf dem Kanapee ihres kleinen Boudoirs … von rechts und links waren noch die Thüren offen und brachten das Licht, das durch das noch immer verhangene Fenster nicht einfallen konnte …

Sie stützte träumerisch das Haupt und hatte in der andern Hand ihr kleines Kinderhemdchen …

Willst du ausgehen? sagte sie gelassen, als hätte sie das Besprochene schon vergessen …

Treudchen trat näher … sie hatte ihren schwarzen Hut[54] auf und fürchtete fast, nicht genug einem Dienstboten ähnlich zu sehen.

Freundlich aber zog Madame Delring sie näher …

Sie lobte den Hut, band ihn jedoch dem hocherröthenden Mädchen ab, weil sie meinte, er säße nicht genug im Nacken …

Nun deutete sie auf den Fußschemel von vorhin und ließ Treudchen vor ihr niederknieen, um ihr selbst den Hut aufzusetzen …

Dann begann sie noch an Treudchen's Haar zu ordnen …

Wie schön dein Haar ist! sagte sie sanft und löste einige der Flechten und hielt sie lange in der Hand, fast ihre Schwere wiegend und dann gegen das Licht haltend …

Wie Gold glänzt es! … fuhr sie fort.

Nun band sie die Flechten anders …

Halt nur still! sagte sie. Ich selbst darf mir ja nicht das Haar machen, – wenn du zurückkommst, ist es Zeit genug dafür – aber dir darf ich's schon … Geh' doch an den Dom! In das Gewölbe von Schnuphase! Ich lasse die Damen bitten – meine Aussteuer nicht zu vergessen … es währt eine Ewigkeit –

Treudchen wußte, daß die Aussteuer für das erwartete Kind gemeint war, und auch das wußte sie, daß sich ihre Mutter, als sie mit dem jüngsten ihrer Geschwister ging, sich beim Haarmachen und sonst vor allem Binden und Verknüpfen in Acht nahm –

Weißt du denn auch das Gewölbe? fragte Madame Delring.

Ich finde es schon … ich suche das Haus ohnehin, weil ich den Pfarrer von St.-Wolfgang, Herrn von Asselyn,[55] begrüßen will … er hat meine Mutter »versehen« und wohnt dort …

Möglich, Kind, fuhr Madame Delring fort, daß dich die Schnuphases in die Klostergasse schicken, wo die Schwesterschaft zu den Nothhelfern eine Nähanstalt hat! Sage da nicht, daß du so gut beten kannst! … Oder könntest du in ein Kloster gehen?

Treudchen warf ihre großen blauen Augen zu der seltsamen Fragerin empor und blieb die Antwort schuldig.

Madame Delring kam von ihrer Frage wieder ab, wie sie diese lichten, hellen, reinen Augen sah, die allerdings denen einer Heiligen glichen … Sie fuhr mit den Fingern über Treudchens nicht zu volle, etwas röthliche Augenbrauen und zeichnete sie gleichsam in ihrer Länge über die Stirne hinweg nach …

Dann kam sie auf die Schwestern zu den Nothhelfern zurück und sagte:

Es ist ein Verein, der junge Mädchen zum Nähen anhält und Gutes thun soll! Ich weiß nicht – manche von den Mädchen, die dort arbeiteten, gingen ins Kloster … Laß dich nur in keines verlocken, Kind! Sie wissen es so geschickt zu machen und so prächtig erst drin einzurichten, daß manche Novize anfangs glaubte, in Ewigkeit keinen Mann nöthig zu haben, und um alles in der Welt lieber den Schleier nahm – hernach aber … Besonders wissen die Damen da von der Gasse – wie heißt sie?

Doch schon unterbrach sich Madame Delring selbst und zog aus dem nächststehenden Tisch ein Kästchen hervor, das über und über mit Schmuckgegenständen gefüllt war, und nahm nach kurzem Suchen eine Rosette[56] von schwarzem Stein an einer goldenen Nadel hervor, um sie in Treudchens Haar zu stecken …

Wie Treudchen diese Freundlichkeit, die sie noch kaum für ein Geschenk halten konnte, bemerkte, wollte sie sie ablehnen; Madame Delring sagte aber:

Kind, da schenk' ich dir einen ganz werthlosen Stein! Es ist geschnittene Lava!

Aber die Nadel – sagte Treudchen hocherglüht …

Die ist gut! Laß aber nur – es steht dir ja! … So! … Jetzt – und sieh – du trägst Ohrringe –! Weißt du wol, daß man keine Ohrringe mehr trägt? Und doch hab' ich dafür auch noch die Löcher und weiß wie heute, wie mich's schmerzte, als sie gestochen wurden – ich war schon fünf Jahre – das sind jetzt fünfundzwanzig! … Eigentlich aber lieb' ich Ohrringe und mag sie leiden! Weißt du, warum? Man sagt, es sähe unnatürlich aus; lieber Himmel, was ist an unserer Tracht natürlich? Im Ohr ist noch lange nicht in der Nase, wie die Wilden die Ringe tragen …

Nun lachten beide Frauen ganz herzlich um die Wette …

Madame Delring nahm die kleinen allerdings echten, aber unscheinbar und dünn gewordenen Ringelchen aus Treudchen's Ohren und suchte, ob sie nicht zwei andere kleine, nicht zu auffallende und mit einem Stein geschmückte Berlocquen fände.

Die Frauen, sagte sie, wollen gar nicht mehr Sklavinnen sein, was diese Ohrringe bedeutet haben mögen! Aber ich denke mir das gerade schön, seinem Manne zu – dienen! Warum denn ihm ganz gleich sein wollen![57] Wenn man die Sorgen und Noth bedenkt, die die Männer haben! Wär' ich hübscher, ich würde mich ganz gern schmücken, um meinem Mann recht als seine Sklavin zu erscheinen! Die meisten Frauen haben genug Zeit, das Gefallen zu bedenken, das ihr Mann an ihnen haben sollte! Lieber Himmel, die Männer in der Türkei dürfen immer jung bleiben und sich so viel Frauen nehmen, wie sie wollen! Wir sagen freilich: Wir gehören dir auch mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele! Kind, wie oft thun wir's auch nicht!

Treudchen hätte von der Geduld sprechen mögen, die auch umgekehrt die Frau wieder mit dem Manne haben müsse; doch verlor sie die Besinnung über die Freundlichkeit ihrer Herrschaft, die jetzt in der That zwei kleine goldene Ringe gefunden hatte, die sie Treudchen einhängte. Sie gehörten zu einem größern alten Ohrschmuck, den sie als zu auffallend in zwei Theile zerlegte.

Deine alten Ringe, sagte sie dabei ganz gemüthlich, ei, die kann man noch angeben!

Treudchen's vornehmste Bekanntschaften waren bisjetzt Frau von Gülpen in der Dechanei und die Majorin Schulzendorf gewesen. Wenn diese Frauen je nur so mit ihr geredet hätten! Von den Geschenken zu schweigen, die nur von einer reichern Frau kommen konnten … Sie verstummte ganz vor Glückseligkeit und konnte nur der freundlichen, immer leidend gelassenen Frau die Hände küssen.

Diese wickelte die alten Ringe in ein zerrissenes Briefcouvert und sagte:

Auf der Mühlenstraße wohnt unser Juwelier – Modes heißt er – geh' bei ihm vor – oder besser,[58] ich lass' es sagen, er soll ein paar einfache Brochen schicken, da such' ich dir eine aus –

Gnäd'ge Frau! rief Treudchen und schlug die Hände wie ablehnend und bittend zusammen …

Nein, nein, sagte Madame Delring, wir geben ja deine alten Ohrringe an! Herr Modes gibt schon etwas dafür! Solche kleine Handelsgeschäfte müssen Frauen immer machen!

Sie griff nun nach dem kostbar gestickten Schellenzuge dicht neben ihr und zog zweimal.

Der Bediente kam und erhielt in Gegenwart des vor Erstaunen fast bewußtlosen Mädchens den Auftrag, der Juwelier Modes möchte eine Anzahl einfacher Brochen zur Auswahl schicken.

Der Diener ließ Morgenblätter und den heutigen Theaterzettel zurück und meldete schon einen Besuch:

Herr Medicinalrath Goldfinger!

Ich bin ganz wohl! sagte Madame Delring plötzlich streng …

Sie lehnte den Empfang des Arztes ab.

Während Treudchen sich erhoben und kaum den Muth hatte, in einen gerade dicht vor ihr hängenden viereckigen Spiegel mit goldenem Rahmen zu blicken und von Madame Delring gewinkt bekam, sie wollte ihr auch noch den Hut aufsetzen, sah die Herrin zugleich in den vor ihr aufgeschlagenen Theaterzettel und las halblaut und ganz nur wie mechanisch:

»Gastvorstellung von Madame Serlo-Leonhardi. ›Das letzte Mittel.‹ Madame Serlo-Leonhardi: Frau von Waldhüll. Im Zwischenacte Tanz: Cracovienne von Emmy und Flora Serlo« …[59]

Kinderballet! sagte sie. Ich mag die kleinen Affenkomödien nicht leiden …

Und dabei band sie die Schleife an Treudchen's Hut, strich ihr noch einmal die Wange, zog und drückte den Hut ihr recht in den Nacken und gab, als sie sich überzeugt hatte, daß die schwarzen Trauerhandschuhe Treudchen's noch ganz neue waren, ihr die Hand, die diese mit überströmender Innigkeit an ihr Herz drückte und wiederholt küßte.

Inzwischen kam der Bediente zurück und meldete:

Herr Pötzl!

Madame Delring schüttelte den Kopf und sagte:

Nein!

Herr Kanonikus Taube!

Finster blickend ließ sie für alle Erkundigungen danken.

Auch diesen Besuch nahm sie nicht an.

Wol aber war ihr, als hörte sie einige Secunden später die Stimme ihres Gatten –

Der war es denn auch. Herr Delring kam, weil der Medicinalrath und jetzt auch der Schauspieler und der Kanonikus nicht waren angenommen worden – alle drei hatten ihre Meldung von dem Zimmer der Mutter aus, wo er selbst den Morgengruß gebracht, nach oben ankündigen lassen –; er besorgte, daß seine Gattin vielleicht nicht wohl, nicht guter Laune wäre … Schon hörte man draußen seine Fragen nach dem Befinden seiner Gattin …

Da aber, ehe er noch dasein konnte, erhob sich Madame Delring plötzlich und fuhr auf wie aus einem Traume. Ihre weitgeöffneten Augen schauten ringsum. Ihr Blick suchte irgendetwas, was sie beängstigte … da – auf dem wieder hergerichteten Hausaltar unter der Epheulaube stand[60] die Störung. Schnell deutete sie auf einen in den Zweigen und Holzverzierungen der Laube hängenden Gegenstand und winkte Treudchen, diesen ihr zu reichen …

Treudchen, die so an den Mienen der freundlichen Herrin hing und sich in ihre Art schon gefunden hatte, daß sie jeden ihrer Winke verstand, reichte ihr das Bedeutete dar –

Es war ein durchsichtiger großer, langer Silberflor, wie man ihn über werthvolle Gegenstände zu breiten pflegt, um sie vorm Staube zu schützen …

Schnell! rief Madame Delring …

Diesen Silberflor ließ sie Treudchen jetzt anfassen und bedeckte rasch damit die Madonna auf dem Altare.

Inzwischen trat Herr Delring ein …

Er war, wie immer, schon in weißer Halsbinde und schwarzem Frack, gleichsam als Repräsentant des großen Hauses, der er früher auch gewesen war, ehe ihn Piter entthront hatte, – ein ernster, fast vornehmer Mann.

Nun die plötzlich ausbrechenden zärtlichen Grüße, den Kuß, die liebevollen Wechselreden der beiden Gatten hörte Treudchen nicht.

Sie eilte mit klopfendem Herzen von dannen.

Hinter ihr blieb ein Weib zurück, das ihren Himmel im Manne ihrer Liebe fand.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 33-61.
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