Erstes Capitel
Tempelheide

[3147] Des Herbstmorgens erste Frische war vorüber. Die Nebel, die der Sonne Aufsteigen umschleierten, sanken auf die große Ebene nieder, in deren breiter Ausdehnung die Hauptstadt hingegossen lag mit ihren Kirchthürmen, ihren Riesenschornsteinen, dem Dampf der Essen, dem aufgewirbelten Staub der Straßen und Plätze, einer Hülle, die den schärfsten Pfeilen des Sonnengottes Widerstand leistete und mit ewigem Grau, zu jeder Jahreszeit, selbst gegen die reinste Bläue des Himmels Einspruch that. Rings aber um die große Ebene und ihr Gewühl zog sich ein grüner Rand, unentweihter, je entlegener von der Berührung mit den Menschen des Trottoirs. Am westlichen Ende Solitüde mit seinem Park, seinen Niederungen, seinen Eichenhainen; am östlichen eine Aufdachung von Sand- und Kalksteinbergen, dicht bewaldet, von Straßen, von Eisenbahnenkerfen durchschnitten. Tempelheide dieses Aufganges Beginn. Wie eine Hüterin lag die alte Kirche mit ihren Linden oberhalb der Landstraße, die an Lebendigkeit gewonnen hatte, seit der allmächtige Fürst Egon von Hohenberg sich von den Mühen eines nun fast[3147] einjährigen Regimentes für einige Wochen auf seinem väterlichen Schlosse ausruhte. Wie ruhig liegt die Stadt da unten, die Egon gebändigt hatte! Nach Solitüde, wo jetzt die königlichen Herrschaften wohnten, sprengten nicht so viel Kuriere, Gendarmen, reitende Boten, wie hier an der alten Kirche mit dem Dreiblattkreuze, dem Gartenpavillon und dem Tannenparke des alten Obertribunalspräsidenten von Harder vorüber nach Hohenberg.

Doch da es hier bergauf ging und Alles langsamer fahren und mäßiger reiten mußte, so wurde der Friede der ländlichen Besitzung nicht zu sehr gestört. Anna von Harder war ohnehin keine krankhafte Einsiedlerin. Sie liebte den Zusammenhang mit der Welt, wenn sie auch nicht an die Welt verloren gehen mochte. Sie saß gern unter dem kleinen Schirmdache, von dem herab sie einst Siegbert Wildungen in der heißen Julihitze einen Becher Weins gespendet hatte. Sie erwiderte gern jeden Gruß, den man ihrer würdevollen hohen Gestalt mit den einfachen Trauerfarben ihrer schlichten Kleidung bot. Zuweilen stand, ein stolzes Rad schlagend, der von glänzenden Farben übersäete Pfau aus dem Hühnerhofe hinter ihr, wie neben der Juno; aber die edle Frau hatte nur die Haltung, nicht den Stolz der Beherrscherin des Olymps. Sie dachte auch von dem majestätischen indischen Vogel anders als die Kinderlehre. Sie gab dem gekrönten Thiere mit dem klugen schüchternen Auge freudig Körner aus ihrer Hand – im Schlitz des Kleides war eine nie leere Vorrathskammer für die Thierwelt ihres greisen Pfleglings –[3148]

und fand den stolzen, wiegenden Gang des schönen Thieres, während das emporgehaltene mit blaugrünen Augen eingefaßte Rad in der Sonne funkelte und wie ein Fächer schwankte, sich hob und sich senkte, eben so würdig wie lehrreich, und oft genug hatte sie die kleine Paulowna Wäsämskoi auf den Pfauengang aufmerksam gemacht, als eigentlich den Gang, der sich in Gesellschaften, Vorstellungen, bei Hofe und mit gesenktem Haupte auch in der Kirche zieme. Die gewöhnliche Thiermoral existirte nicht in Tempelheide. Hier vertrug sich Reh und Hund, Hund und Katze, ja hier war schon vorgekommen, daß eine Katze die Jungen eines Mäuschens aufgezogen hatte.

Für den Tannenhain, der die einfache Besitzung mit ihren grünen Rabatten, dem kleinen Gemüse- und Blumengarten, dem einem Jagdschlosse ähnlichen, gedrückten Hause und die großen Räumlichkeiten des Hofes rings umgab und sie von dem unmittelbar daran stoßenden großen Walde trennte, hätte man freilich lieber ein Gehölz von Buchen, von Linden und Eichen wünschen mögen. Anna selbst hätte diese rauschenden vollen Blätterwipfel sicher lieber über sich schwanken gehabt als diese ewig gleichen, ewig düstern Tannen, unter denen man oft, wenn die Nadeln reichlich gefallen waren, wie auf dem ihr so wenig mehr geläufigen glatten Parkett der Salons wandelte. Tannenzapfen, hölzerne, trockne, kleine Schuppenpyramiden waren ihre einzige Belohnung für die Liebe, mit der sie dennoch auch die Hut dieses Haines führte. Und der alten Excellenz war grade diese durchsichtige[3149] Baumwelt die genehmste. Wie durch einen Mastenwald im Seehafen sah er durch diese lichten, oben röthlich, unten grau schimmernden Stämme. Wie mit staubigen Kamaschen, wie aus der schmuzigsten Straße in die Stadt gekommen, seht ihr aus, ihr schlanken, hölzernen Grenadiere, sagte Anna wol, wenn sie mit dem Alten durch den Park schritt und er sich an ihrem Arme führte. Aber er lobte für seine Zwecke grade diese Durchsichtigkeit. Sein zahmes Reh konnte nicht die jungen Eichenblätter fressen, seine Hühner konnten sich hier nirgend verstecken, seine Katzen nicht auf lauernden Raub gehen, seine Hunde witterten und schnoberten hier nicht wie auf den Anschlag, und fremdes Gevögel, fremde Maulwürfe, Iltisse, Marder waren leicht beobachtet und aus dem offnen Bereich entfernt. An Singvögeln fehlte es auch in den Tannenwipfeln nicht. Die alte Excellenz liebte grade die Kreuzschnäbel und die Holzheher, die unter Tannen am liebsten weilen. Für das süße Rauschen und Flüstern der grünen unzähligen Blätterwelt hatt' er ja seiner guten, bei ihm so liebevoll ausharrenden Schwiegertochter am Ende des Parks auf einer künstlichen Erhöhung von Felssteinen, alten Baumrinden, durchbrochenem Mauerwerk, gleichsam wie in einem alten gothischen Thurmgemäuer – denn das Ganze war auch vom treuen Zeitenbegleitenden Epheu umrankt – harmonisch gestimmte Windharfen aufhängen lassen, die sie für das ewige Gekrächz, Gebelfer, Geschmetter, Gegurr und Gegacker im Vorderhause schadlos halten mußten.[3150]

An dieser melancholischen künstlichen Ruine, die den Blick zunächst auf einen grünen Wiesenplatz und dann in den dichten Tannen-, hier und da von weißen schimmernden Erlen unterbrochnen Wald streifen ließ, suchte eben Anna von Harder ein junges Mädchen auf, das auf einer Bank von ungeschälten Baumästen an einer Lehne von starken geflochtenen Weiden saß, ein Buch in der Hand und bald in die düstre Waldung, bald zum blauen Himmel, bald zu jenem Raben aufsehend, den wir schon als den treuen Begleiter des hier waltenden wunderlichen alten Philosophen kennen. Die Luft war so still, daß die in ihr aufgehängten Leiern nur zuweilen einen ganz leisen, aber auch dann unendlich wehmüthigen Ton erklingen ließen.

Wie blau ist der Himmel! rief Anna schon von unten herauf, die Hand auf die epheubewachsene Treppenlehne stützend. Hier weilst du und liest? Die Bücher über Italien, die aus den Bibliotheken nicht endigen wollen! Komm und zerstreue dich an dem Pavillon! Das ist ein Reiten, ein Fahren nach dem Schlosse Hohenberg! Die schöne Fürstin wird ihre Flitterwochen nicht in Ruhe genießen können.

Statt aller Antwort drückte das junge Mädchen Anna neben sich nieder, legte den Arm um ihre Schulter und preßte sie an ihr Herz.

Ein sanfter Akkord der Luftmusik begleitete den stummen Gruß ...

Sieh! Draußen steht unser Mentor und wartet, daß er folgen darf! sagte Anna lächelnd und zeigte die Ruine[3151] hinab an die erste Stufe der steinernen Treppe auf einen magern, grauen, stelzbeinigen Vogel mit gewundenem Hals und spitzem Schnabel, der hin und her sprang, bald auf das eine, bald auf das andre Bein sein Gewicht legte und sich wie ein Tanzender geberdete.

Als das junge Mädchen schwieg und nur Anna'n inniger die Hand drückte, sagte diese:

So froh solltest du sein wie unsre Thiere! Das springt heute und freuet sich des sommerlichen Tages! Biche und Alkmene jagen sich und spielen wie wilde Buben! Hektor hat Lust, seiner alten Dressur sich zu erinnern, die ihm doch Großpapa um jeden Preis austreiben will. Er zaust die Hühner fast über die Gebühr. Unser Jupiter kann nicht Räder genug schlagen und sich dem Vorüberfahrenden in seinem besten Staate zeigen. Und das Wetter wird sich halten. Die Laubfrösche sitzen auf der obersten Sprosse ihrer kleinen Leitern im Glase. Isis und Osiris putzen sich den Bart und selbst der gespenstische alte große Bafomet, vor dem du sonderbarerweise nicht die geringste Furcht hattest, als du zu uns kamst, selbst Der besinnt sich in seiner majestätischen Würde, daß er den Schöpfer loben muß und spinnt, spinnt, was er seit Jahren nicht gethan hat und was uns Glück bedeuten muß. Komm! Unser stelzfüßiger Lakai wartet draußen. Wollen wir Solitüde besuchen? Wollen wir anspannen lassen und einmal an die Terrasse fahren, die du so liebst? An den Teich, wo man Schwäne füttert, die wir leider nicht halten können, wär' es auch nur, um zu sehen, was wol an dem Schwanengesang[3152] vor'm Sterben Wahres ist! Ach, ich Abscheuliche! Ich wünsche doch immer auch noch Thieren den Tod, um Experimente zu machen! Wenn Das Großpapa hörte! Er hielte mir gleich eine Vorlesung über das Naturrecht! Komm! Komm! Wenn du gesprächig wirst, wie ich, die ich heute wie unsre Elstern plaudere, so erzähl' ich dir auch, was mir den heutigen Tag so ganz besonders lieb und werth macht.

Das junge Mädchen stand schweigend auf. Sie drückte der guten Anna, die so viel Worte seit Jahren nicht in einer einzigen Rede verbunden hatte, mit einer gewissen Feierlichkeit wieder die Hand und ging dann, an ihren Arm sich hängend, die steinernen Stufen hinab, begleitet von dem Nachruf eines Akkords aus den Lüften ...

Anna von Harder wandte sich und sah zu den Schallöffnungen, die den Wind zum Musiker machen, noch einmal stehenbleibend empor ...

Ja! Ja! Ich kenne den Zauber dieser stillen Warte, sagte sie zu dem jungen Mädchen. Wie gern hab' ich auch sonst stundenlang hier geweilt und beim Erwachen der Abendwinde, die meist mit dem Untergang der Sonne eine Weile lebendiger wehen, bis gleichsam die Sterne Kraft gewinnen und wieder Ruhe auf der Erde gebieten, wie oft hab' ich da den Tönen gelauscht, in denen die Luft hier zu uns spricht! Ich wußte freilich, es ist das Alles nur künstlich hervorgerufen, es kommt nicht von selbst, eine menschliche Vorrichtung eroberte sich diesen Gruß der Winde. Und doch ist der Ton als solcher so selbständig,[3153] als Gewordenes doch so ein Ureignes, so ein von Menschenhänden gar nicht zu schaffendes Geschaffenes. Wir können das Licht absperren, ab- und zulassen, anzünden, auslöschen, aber wir können das Licht selbst nicht machen. Kein Seifensieder, kein Kerzenzieher erschafft das Licht. Auch den Ton macht kein Instrumentenmacher. Man erobert ihn nur, man fängt ihn ein, man läßt ihn hinaus, man gewinnt ihn sich und Andern.

Das blasse junge Mädchen hörte und schwieg. Der Vogel, ein Kranich war's, sprang voraus mit seinen wunderlich tanzenden Sprüngen.

Ach, sagte Anna, des Mädchens träumerische Empfindungen unterbrechend, wie gut es unser armer Lakai meint! Der gute Vogel! Sein Tanzen ist keine angeborne Freude. Großpapa kaufte ihn von einem Vogelabrichter, der das arme Thier zum Tänzer für Jahrmärkte gezogen hatte. Auf einen Fußboden von heißen Blechplatten hatte er das Thierchen, als es jung war, eingesperrt. Entsetzt von der Hitze, die sein an Sümpfe und Moor gewöhnter Fuß nicht verträgt, fing es an zu hüpfen und hüpfte und hüpfte so lange, bis es nicht mehr gehen konnte. Armer Schelm, wie bin ich froh, wenn ich dich vor wirklicher Freude tanzen sehe und nicht an die glühenden Kohlen denken muß, die deinen Schmerz zu einer nur scheinbaren Freude machten!

In die ernsten, fast unbeweglich starren Züge des jungen Mädchens schlich sich bei diesen Worten jetzt ein außerordentlich feines, fast bittres Lächeln. Es war als[3154] wollte sie sagen: Das ist die Lustigkeit der Weltbildung, des Zwanges, der Convenienz! Das sind die Bewegungen des scheinbaren Tanzes, die nur von den brennenden Kohlen unter uns kommen!

Anna verstand dies Lächeln und seine Bedeutung sehr wohl. Sie wollte aber, daß Heiterkeit waltete ...

Nein, sagte sie, man soll nicht lügen! Man kann in der Freude und auch im Schmerze zu unwahr sein! Ich mache mir Vorwürfe, daß ich viel zu oft unter meinen Windharfen saß und mich zur Sklavin ihrer traurigen Töne machte! Dann und wann! Wenn die Seele nicht übervoll, sondern wenn sie leer ist! Wenn die Alltäglichkeit uns übermannt, das tiefste Leid, die heiligste Pflicht vergessen ist, dann ein solcher Akkord und gleich haben wir uns wieder gefunden! Ich würde nicht immer in den Büchern über Italien lesen, um mich in Italien heimisch zu fühlen. Ich würde vorziehen, der Gegenwart, der nächsten Umgebung anzugehören und dann und wann plötzlich einen Lichtstreifen, einen solchen goldnen, daß er gleich ganz Rom und alle Seen des Südens uns vorzaubert, über mich fallen lassen. An einen einzigen Lichtstrahl knüpft sich eine ganze Welt! Ich brauche nur einen gewissen Akkord zu hören und gleich weckt er mir eine ganz bestimmte Empfindung. Ich schlage auf dem Klavier einige Töne in A-Moll an und ich sehe gleich aus den Fluthen und Nebeln ein wunderbares Eiland steigen, das Land meiner Jugend, meines Glückes, meiner seligsten Hoffnungen. Fast glaub' ich, daß das Übermaß der in[3155] diesen Ton gesetzten Rhythmen das Bild verscheucht, den Zauber der Erinnerung abstumpft. Ich bin viel zufriedener mit mir, seit ich Pflichten der Gegenwart habe und meinem stillen Kultus der Trauer um die Vergangenheit nur manchmal lebe.

Das junge blasse Mädchen hörte ruhig dem bezüglichen Wort zu und erwiderte den Handdruck, den sie von Anna empfing, die ihren rechten Arm in ihrem linken trug. Sie lächelte ein wenig, als Anna beim Hinausschreiten aus dem Parke, sich umsehend, sagte:

Der grillenfängerische Rabe ist uns nicht gefolgt! Der Schelm trauert, daß man ihm seine Sucht zu stehlen abgewöhnte. Ihm ziemt es, unter den Tannen zu philosophiren. Unser Kranich aber hüpft zum Pavillon. Er weiß, daß wir dort mehr Zerstreuung finden. Sieh, sieh, er ist doch vergnügt der Schelm! Er wirft kleine Steine in die Luft und fängt sie auf! Der Herr Balletmeister amüsiren sich, obgleich Sie pensionirt sind! Ich habe dem Großpapa erst glauben mögen, daß die Thiere der Erziehung fähig sind, als ich sah, daß sie spielen. Gibt es einen redenderen Beweis für eine gewisse Freiheit auch innerhalb der sonst gebundenen Thierseele? Hunde und Kätzchen spielen, Hasen treiben die tollsten Possen, Goldfische mögen sich langweilen, wie alle Vornehmen, aber Forellen wahrlich nicht! Forellen tummeln sich. Und was spielen nicht die Vögel! Auch Pferde spielen und reiben sich mit den Köpfen, selbst wenn sie vor den Häusern der Reichen bis tief in die Nacht frieren müssen und eigentlich ungeduldig[3156] und zornig über uns sein sollten. Nein sieh, sieh, Olga! Sieh den Kranich! Jetzt wirft er ein Hölzchen empor und duckt sich unter ihm weg, daß es ihn im Fallen nicht trifft! Du närrischer Patron du!

Olga Wäsämskoi war es, die eben mit der so freundlich ihr zuredenden und wie wir wol bemerken werden, mit Absicht sie erheiternden Anna von Harder auf den kleinen Rasenhügel stieg, wo jenes Schirmdach stand, unter welchem man im heißen Sommer einigen Schutz vor den Sonnenstrahlen fand. Olga hatte sich zur vollkommnen Jungfrau entwickelt. Zwar nur klein waren alle ihre Formen geblieben, doch zeugten sie von vollendeter Reife; der Bau ihrer Schultern war kraftvoll, der Nacken sicher, das Antlitz von einer Bestimmtheit, die leider, um noch kindlich erscheinen zu können, zu sehr vom auffallendsten Ernste beherrscht war. Die Haut zart, von jenem braungelben Schimmer, wie das Inkarnat des Südens. Die Augen noch schwärzer beschattet als im vorigen Jahre. Die Hüften wölbten sich im schwarzen, sehr langen Atlaskleide, in der Sonne glänzend, von der nicht sehr engen Taille ab. Sie bot das Bild einer südlichen Schönheit, die von unsrer nordischen wespenartigen Grazie kein Merkmal hat. In dichten Flechten war das schwarze Haar im Nacken festgebunden ohne Gefallsucht. Ihr ganzes Wesen schien innerlich und nur zu sehr vergeistigt, nur zu sehr der Wirklichkeit entrückt, von der man nicht wußte, verachtete oder bemerkte sie sie nur nicht.

Das Wesen Olga's seit ihrer Rückkehr von Wien, bis[3157] wohin ihr Rudhard im Frühjahr entgegengereist war, hatte sich als das seltsamste von der Welt angekündigt. Ihren Briefen zufolge hätte man die lebhafteste Empfänglichkeit für alle ihre Umgebungen, ein gewisses Aufthauen aus ihrer früheren oft eisigen Lethargie, eine große Lust der Mittheilung erwarten sollen. Von dem Allen fand sich nichts. Olga war nicht nur ganz in ihre frühere träumerische Art zurückgesunken, sie war viel weiter zurückgegangen, sie zeigte einen apathischen Zustand, der an Starrheit grenzte. Sie war krank, nervenkrank. Sie litt an sich selbst, ohne sich in ihrem Schmerze äußern zu können. Sie bot einen erschreckenden Anblick. Schön, fesselnd, träumerisch, in jeder Beziehung ein weibliches Ideal, entsetzte an ihr eine tödtliche Kälte, die fast wie ein Krampf, wie eine Starrsucht zu nehmen war. Rudhard brachte sie so von Wien zurück. Sie hatte die abenteuerlichste Fahrt von Rom aus gehabt und Rudhard deutete an, daß ihr Zustand mit Erlebnissen zusammenhing, die er verschwieg. Er hätte von Siegbert die einzige günstige Einwirkung auf die in solchem Zustand Wiedergewonnene hoffen müssen. Aber Siegbert Wildungen war bald nach der Flucht seines Bruders durch geheime Warnungen, denen er Glauben schenken durfte, veranlaßt worden, sich von der Hauptstadt und ganz aus dem Lande zu entfernen. Er war erst mit Otto von Dystra nach dem Schlosse Buchau, an die im äußersten Westen Deutschlands liegende Tempelsteiner Ruine gereist, die in voller Wiederherstellung begriffen war. Dann hatte sich Siegbert[3158] zu Louis Armand nach Belgien begeben. Beide lebten in Antwerpen, wo sich Siegbert mit erneutem Eifer auf seine Kunst warf und zu gleicher Zeit für die Zwecke des Bundes so wirkte, wie ihm sein Bruder Dankmar die briefliche Anleitung gab. Als Dystra zurückkehrte, fand er zwar Olga, aber nicht mehr Rudhard. Dieser hatte sich, da die Fürstin Wäsämskoi nicht im Stande war, sich irgendwie mit ihrer Tochter zu verständigen, entschließen müssen, sie und die jüngeren Kinder gleichfalls nach Westen zu begleiten, zum großen Ärgerniß der Welt, die, wir wissen noch nicht, mit welchem Rechte, behauptete, Siegbert Wildungen wäre die Veranlassung dieser Reise. Aber Anna von Harder hatte den Einfluß, den ihr die Fürstin auf sich zugestand, selbst dahin benutzt, ihr diese Reise anzurathen, ihr sogar Paris als künftigen Aufenthaltsort umsomehr vorzuschlagen, als die Gräfin d'Azimont wieder aus Italien zurück war, in Paris lebte und es sich ihrem versöhnlichen Herzen als eine Möglichkeit einschmeichelte, diese Schwestern würden sich eher versöhnen, als es ihr mit der ihrigen, Paulinen, möglich war. Und Olga hatte sie für sich behalten. Jetzt vollends, wo Olga Liebe, Schonung, Pflege verlangte! Olga war von einer Reizbarkeit der Nerven, die die Mutter nimmermehr würde geschont haben. Adele war ergebener geworden, beruhigter durch Anna; sie hatte sich den jüngern Kindern angeschlossen, aber vom Herzen kam ihr der pflegende Muttertrieb nicht. Wie hätte sie Geduld gehabt mit Olga, die jetzt Geduld bedurfte! Im Laufe des[3159] Sommers kehrte Dystra, der in seiner Gewissenspflicht, Olga zur Gattin zu wählen, von dem sich beherrschenden Siegbert nicht gehindert wurde, vom Tempelstein, der im großartigsten Style hergestellt wurde, nach der Residenz zurück und sah nun Olga zuweilen. Er hatte von ihrem so plötzlich verwandelten Wesen gehört. Als er sie in Tempelheide zuerst begrüßte und von ihr mit der Geringschätzung, die er voraussetzen konnte, behandelt wurde, erschrak er, sie in einem Grade abstoßend zu finden, der ihn gleich zu der Bemerkung veranlaßte: Das hat sich gut getroffen! Ein Wesen dieser Art mußte in eine Anstalt kommen, wo man wilde Thiere bändigt! ... Er begriff nicht, wie von diesem Mädchen jene Briefe hatten herrühren können, die ihn so fesselten. Er hatte noch auf der Reise nach dem Tempelstein zu Siegbert gesagt: Wildungen, wir führen zusammen einen psychologischen Konflikt auf, an dem mir nur störend ist, daß er zu sehr an die Gefühlswelt des achtzehnten Jahrhunderts erinnert! Sie wissen, ich halt' es mit dem neunzehnten und erlebe auch noch die zeitgemäße Ummodelung, daß Sie von Olga vergessen werden oder daß Sie sie selbst vergessen! ... Nun aber Olga wirklich sehend, fand er es auch unmöglich, daß sie noch Siegberten fesseln würde. Er schrieb ihm nach Antwerpen, er wisse nicht, was er von diesem erstarrten Zustande denken sollte. Er hätte ein Leben voll Beweglichkeit, Geist, Phantasie, auch manche Thorheit erwartet und fände nun ein todtes, kaltes Marmorbild! Dystra konnte die Geduld, die Anna von[3160] Harder hier entfaltete, nicht genug rühmen. Und doch zeigte er dieselbe Geduld, ohne sein Verdienst zu wissen. Er fuhr alle drei, vier Tage nach Tempelheide, brachte immer etwas Anregendes, etwas Überraschendes mit und begnügte sich, nach Olga zu fragen. Sie selbst sah ihn nicht. Wie sie nur des kleinen, aber elegant sich haltenden, mit Grazie sich bewegenden Mannes ansichtig wurde, entfernte sie sich, was Dystra immer auf Rechnung seiner Mohren schrieb. War es Liebe, war es Pietät für seinen verstorbenen Freund, den Fürsten Wäsämskoi, war es der Reiz ein Räthsel zu lösen, er konnte sich der Hoffnung, in Olga wieder einen Lebensfunken geweckt zu sehen, nicht erwehren, so sehr er auch zugestehen mußte, daß eine Heirat mit einer so eigenthümlichen Organisation ein Opfer war, für das man nicht Dank, sondern Spott ernten mußte. Drommeldey, der vielgesuchte, Alles begutachtende Arzt der Mode, hatte gesagt: Bei dieser Krankheit heißt es: Ce n'est que le premier pas, qui coute! Dies Mädchen muß heirathen, dann wird sich das Übrige finden.

Starr wie jene Brunhild der Sage, die Jedem, der sie freien wollte, einen Ringkampf anbot und die Männer an dem Gürtel aufhenkte, den sie ihr lösen wollten, saß Olga neben der zutraulichen, durch sie ganz aus ihrer bisherigen Gewohnheit gekommenen Anna, die von dem Mädchen, trotz des Scheines ihres liebevollsten Antheils für sie, nicht einmal die Frage abgewinnen konnte: Was wolltest du mir von der Wichtigkeit des heutigen Tages für[3161] dich sagen? Sich aufdrängen mit einem innersten Herzensinteresse war Anna's Art nicht. Sie nahm das Körbchen mit Handarbeiten, das sie hier oben zurückgelassen und begann Spitzenbesätze zu nähen, während Olga ihren Worten ruhig zuhörte und nur die Zwirnrolle zuweilen ergriff und mit ihr ein gedankenloses Spiel trieb ...

Daß hier die Stelle war, wo Siegbert Wildungen einst Anna von Harder zuerst gesehen, wußte Olga. Sie kannte aus dem Skizzenbuche ihres Freundes diese Kirche, den Friedhof mit der unregelmäßigen, zerfallenen Mauer und den schon längst wieder abgeblühten weißen Fliederhecken. Sie kannte die Stelle, wo in der Skizze Hackert im Korn liegend angedeutet war. Es waren ihr das Alles heilige Plätze, schon lange, lange geweiht; denn Siegbert besaß eine Gemüthlichkeit guter Herzen, die von ihren angenehmen Erinnerungen erzählen und Jeden, den sie lieb haben, gern in den ganzen Zusammenhang ihres Lebens versetzen. Er hatte längst schon im vorigen Jahre Olga auf diesen Punkt aufmerksam gemacht, wo man die gewaltige Ausdehnung der Stadt am reichsten übersehen und ihr inneres Leben gleichsam wie einen fernen unsichtbaren Wasserfall rauschen hören konnte. Ob sie jenen Erinnerungen nachhing? Sie verrieth nicht eine Spur von Dem, was in ihrem Herzen lebte.

Anna hatte grade heute wieder eine ihrer musikalischen Akademieen. Dann wurde ausnahmsweise um zwei Uhr gegessen, um drei Uhr kamen die Mitglieder des Gesangvereins, der bis fünf, sechs Uhr dauerte, weil es[3162] mit der Regelmäßigkeit des Kommens sehr schlimm aussah. Jene gelüfteten Fenster des Parterre gehörten zu dem Musikzimmer, das Anna schon geordnet hatte. Da waren die Tische und Stühle schon aufgestellt, schon mit den Noten belegt, die heute gesungen werden sollten. Sie sprach davon, wie sie immer in bangsüßer Erwartung einer solchen Übung, in Freude und Furcht zugleich, entgegenharre und beklagte, daß Olga weder Freude an diesen Musiken empfand, noch selbst an ihnen Theil zu nehmen versuchte.

Du erinnerst mich darin, sagte sie noch heute wieder, an die schöne Melanie, die jetzige Fürstin von Hohenberg! Diese von vielen Frauen verabscheute, aber nicht so schlimme gefeierte Schönheit war ohne Stimme, ohne musikalisches Gefühl, aber sie nahm Antheil an unsern Übungen und nützte durch ihr vortreffliches Pausiren. Sie, die ein Recht hatte, die Zerstreuteste von Allen zu sein, zählte am besten.

Olga hätte nun Gelegenheit gehabt, lebendig zu werden. Jene Melanie wurde erwähnt, die sie selbst in ihren Briefen als letzte Zuflucht jenes von ihr in so grellen Farben geschilderten Egon bezeichnet hatte. Sie hätte doch ausrufen müssen: Also wirklich ist Melanie die Fürstin von Hohenberg? Wie kam Das? Wie war Das möglich? Um Melanie diese Bewegung hier auf der Landstraße? Um sie diese trappelnden Pferde, diese rollenden Reisewägen, dies Detachement Dragoner, das sich auf der Straße bis Hohenberg vereinzelt zu postiren scheint?[3163]

Um Melanie dieser Staub, der glücklicherweise uns hier unter dem Pavillon nicht erreicht? Nichts von alle Dem. Sie hörte nur, wickelte an der Zwirnrolle, las eine Weile im Buche, hörte den Verhandlungen Anna's mit der zuweilen Raths erholenden Dienerschaft zu, folgte alle Dem, was sie da vernehmen konnte, aber selbst schwieg sie. Sie schwieg zur lauten Erörterung manches Billets, das von der Stadt kam. Frau von Dahlen entschuldigte ihr Ausbleiben bei der Akademie. Frau Gräfin Mäuseburg im Gegentheil versprach nächstens eine junge Diakonissin, die eben erst vom Rheine gekommen war, mitzubringen und sie für die Akademie vorzuschlagen. Aktien, Loose, Unterschriften wurden angeboten oder von Anna gewünscht, wie Das im Leben eines mildthätigen Wesens den ganzen Tag nicht abreißt. Schriftchen wurden geschickt von Geistlichen, von Vereinen, sogar zwanzig-, dreißigfach kleine Traktätchen, die Anna befördern, verbreiten sollte. Eine Gesindebelohnungsanstalt schickte Rechnungsabschlüsse. Und dann das Klingeln am großen Hofthor, wenn der Aktenwagen vom Obertribunal kam und für die greise, in der Stadt befindliche Excellenz die Akten repositorienhoch hereinfuhr und diese Ballen abgeladen wurden in der großen Aktensammlung rechter Hand beim Eintritt in das zweistöckige Wohnhaus! Und wieviel kleine Miethswägen fuhren nicht vor und brachten nichts, als von jungen angehenden Rechtspraktikanten, neubeförderten Unter- und Hülfsarbeitern, jungen beim Obertribunal zugelassenen Advokaten Visitenkarten,[3164] um sich dem Chef der Landesjustiz zu empfehlen! Dazu dann der ewig bewegte Verkehr mit dem lebendigen Hofe, seinen Ställen und kleinen Käfigen! Auch heute mußte Anna lachen, wie sie schon von der Straße her einen Mann mit einem Tragkorbe auf dem Rücken erkannte, einen Thüringischen Vogelhändler, der regelmäßig des Jahres einmal bei ihnen vorsprach und dem alten Herrn seine neuesten Gesangskünstler aus dem Harze vorführte. Der Mann schwang schon in der Ferne die Mütze und grüßte mit seinem Vogelgesichte. Er hatte selbst die Physiognomie seiner Vögel angenommen, war zum Thiere herabgestiegen, während bei ihm die Thiere emporstiegen. Dem altbekannten Papageno aus Thüringen ging Anna selbst entgegen, empfing ihn im Vorhofe, hob die Decke von seinem Vogelkasten, in dem es hin- und her zwitscherte und lustig auf- und niederhüpfte, ließ ihm von dem ältesten Bedienten, der in jungen Jahren selbst ein gelernter Jäger war und über diesen Gruß aus dem Walde seine innigste Freude hatte, – war er doch die rechte Hand des Präsidenten bei seinen Lieblingsexperimenten – ein vollständiges Frühstück vorsetzen und vertröstete ihn, seinen vieljährigen Gönner, der ihm immer abkaufte und noch lieber sich mit ihm unterhielt und von seinen Beobachtungen in der Vogelwelt sich erzählen ließ, nach zwei Uhr sprechen zu dürfen ...

Der Vogelhändler stellte seinen Kasten in die Hausflur, dicht neben ein großes Drahtgitter, hinter dem es unten von Kaninchen, im zweiten Stockwerke von Dohlen und[3165] Raben, im dritten von kleinen Singvögeln lustig genug wimmelte. Biche und Alkmene, zwei hohe wie die schönsten englischen Misses schlanke Windspiele, umhüpften den Wohlbekannten freudig. Die drei Hauskatzen, Isis, Osiris und der große augenfunkelnde Bafomet, ein Kater, wie ihn die Egyptier mochten verehrt haben, schlugen mit ihren langen Schweifen hoch auf voll Gelüst und Erregung über die appetitliche gefiederte Zufuhr des Käfigs. Aber sie bezähmten sich, da der alte Diener Sorge trug, ihnen grade im erwachenden Gelüst ihre Mittagsration vorzusetzen. Der Vogelhändler bekam auf einem Tisch in der steingepflasterten Hausflur seinen Imbiß ...

Es schlug eben ein Uhr; eben wollte Anna die Begleitung der Musikstücke, die heute in diesem wilden Bereich, fast wie Amphion that vor den Thieren, die er durch die Leier zähmte, aufgeführt werden sollten, noch einmal durchspielen, eben trieb der alte Diener eine kleine Schildkröte, die seit Jahr und Tag im Hause frei herumlief und von Musik wie die Spinnen nahe gelockt wurde, zum Saale hinaus – die Akademie hatte die Bedingung jeder Sicherheit vor etwaigen thierischen Überfällen in der Luft oder wol gar vor kriechendem Auditorium auf der Erde – als zwei rasch daher fahrende Wägen Anna's Aufmerksamkeit fesselten, sie sich erheben und dem Sanitätsrath Drommeldey und Otto von Dystra, die eben zusammen durch das von den beiden herabgesprungenen Mohren schon geöffnete Hofthor eintraten, entgegen gehen mußte.[3166]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 3147-3167.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Ritter vom Geiste
Die Ritter Vom Geiste (5-6); Roman in Neun Buchern
Die Ritter Vom Geiste: Roman in Neun B Chern
Die Ritter Vom Geiste: Roman in 9 B Chern, Volume 1
Die Ritter Vom Geiste: Roman in Neun Büchern, Volume 2 (German Edition)
Die Ritter Vom Geiste: Roman in Neun Büchern, Volume 6 (German Edition)

Buchempfehlung

Holz, Arno

Papa Hamlet

Papa Hamlet

1889 erscheint unter dem Pseudonym Bjarne F. Holmsen diese erste gemeinsame Arbeit der beiden Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf, die 1888 gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Der Titelerzählung sind die kürzeren Texte »Der erste Schultag«, der den Schrecken eines Schulanfängers vor seinem gewalttätigen Lehrer beschreibt, und »Ein Tod«, der die letze Nacht eines Duellanten schildert, vorangestellt. »Papa Hamlet«, die mit Abstand wirkungsmächtigste Erzählung, beschreibt das Schiksal eines tobsüchtigen Schmierenschauspielers, der sein Kind tötet während er volltrunken in Hamletzitaten seine Jämmerlichkeit beklagt. Die Erzählung gilt als bahnbrechendes Paradebeispiel naturalistischer Dichtung.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon