Viertes Capitel
Der Ullagrund

[2391] Es war Louis Armand ein eignes Gefühl, sich zu denken, daß dies niedere Haus die Wohnung jenes Guido Stromer war, dem er, ohne ihn genauer zu kennen, doch hier und da schon beim Fürsten oder seit einigen Wochen in der Zeitung »Das Jahrhundert« begegnet war. Er wußte von ihm, daß er vom Fürsten auf ein Jahr Urlaub erhalten hatte, um dem Triebe seines Genius zu folgen, wie Egon einmal von ihm gesagt hatte. Er wußte, daß sein Weib, die Kinder daheim geblieben waren und daß statt Stromer's die Pflichten seines Amtes ein Vikar verrichtete, dessen Name ihn an seine eigne Herkunft erinnerte.

Louis warf über das Fußleder hinweg einen Blick in das Pfarrhaus. Er sah an den kleinen Fenstern Kinder, die neugierig auf den Wagen schauten. Irrte er sich nicht, so stand auch eine Frau lauschend hinter der Gardine. Die Rouleaux waren halb niedergelassen. Blumentöpfe standen inwendig auf den Fensterbretern. Die Linden, die das Haus im Sommer beschatteten, waren entlaubt. Der ganze Eindruck war der der Einsamkeit, der öden verlassenen Traurigkeit, die in einem wehmüthigen Widerspruche[2391] stand zu dem Vater dieser Kinder, dem Gatten dieses Weibes, der jetzt vielleicht noch, von den Anstrengungen einer vornehmen Abendgesellschaft ermüdet, im Bette lag oder für die große Welt wirkte in der rauschenden Hauptstadt!

Die Thür des Hauses ging auf und ein langer, schlankaufgeschossener junger Mann trat heraus, in einem grauen verschlissenen Mantel, eine Brille vor den Augen, einen alten rothen Regenschirm in der Hand. Einige Bücher steckte er eben in die Brusttasche des Mantels, als er rasch von den zwei Stufen, die vor der Hausthüre die Schwelle bildeten, mehr herabstolperte als schritt, um unter dem Regen hinweg bald in den Wagen zu kommen. Der Knecht öffnete das Deckleder, Louis rückte zur Rechten und grüßte mit der Entschuldigung, daß er sich dieses Wagens mit ihm zugleich bediene, um zu Herrn Ackermann zu fahren.

Herr Oleander mußte sich sehr bücken, um unter dem Schirmdach der kleinen Halbchaise Platz zu finden. Erröthend sagte er einen guten Morgen und bemerkte lächelnd, daß er schon erfahren, mit wem er die Ehre hätte.

Damit brach er sogleich ab und murmelte nur noch einige unverständliche Worte über das schlimme Wetter. Der Knecht gab dem Pferde die Peitsche und weiter ging es langsam durch den Plessener Koth an der Schmiede vorüber, in welcher es heute still war. Diese Werkstatt mit Dem, was Louis gestern Abend Alles erfahren hatte,[2392] in Verbindung zu bringen, machte auf ihn einen eigenen Eindruck. Auch gedachte er des Försterhauses, des einsamen Fränzchen's, der alten Ursula. Am Abend hoffte er bei Heunisch vorzusprechen ... Einstweilen beschäftigte ihn der Dialekt des Herrn Oleander, der wirklich an die etwas breite Art der deutschen Aussprache erinnerte, die in seinem großelterlichen Hause geherrscht hatte.

War Louis ein leicht eingeschüchterter junger Mann, der nicht gern mit seinen Empfindungen und Meinungen von selbst hervortrat, so war dies Herr Oleander noch in weit höherem Grade. Dieser Begleiter blieb immer höflich, wenn es sich einmal um den bessern Sitz, um das Ablaufen des Regens, um das Losgehen des Fußleders handelte, aber sonst kam auch keine Sylbe aus seinem Munde, die nur irgendwie auf das Bestreben gedeutet hätte, seinen Nebenmann zu unterhalten, seine nähere Bekanntschaft zu machen, nach dem wahren Zweck seiner Anwesenheit in dieser unfreundlichen Jahreszeit zu fragen.

Auch Louis mochte nicht der Erste sein, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder gar nach seiner Herkunft zu fragen. Er dachte an seinen Stand, an den Unterschied seiner Bildung, an die Bildung eines Gelehrten. Er wagte nicht, irgendwie zu verrathen, daß er, ein Tischler, von manchen höheren Dingen Kunde besaß. Da Oleander nichts sprach, sondern in sich versunken dasaß und in die öden Felder blickte oder den Krähen nachsah, die träge auf- und abschwebten, so folgte er dem Beispiel[2393] seines Nebenmannes und versank vorläufig wie er in Träumerei. Es gestaltete sich ihm in Hinblick auf die öde Natur ein französisches Gedicht, das ihm später so von Siegbert übertragen wurde:


Du grauer Nebel, spinnst du Leichentücher?

Singst, heis'rer Vogel, du ein Todtenlied?

Erschrickt das Auge, das im Buch der Bücher

Die letzten Blätter aufgeschlagen sieht?

Sie fallen nieder, die Natur haucht leise

Ihr letzt' Geheimniß aus und will sich ruh'n;

Da hebt sich schüchtern unter'm Wintereise

Der grüne Halm der Frage: Was kommt nun?


Kommt wieder Lenz und prangen alle Blüten

Auf Feldern nur, im grünen Gartenhag?

Begrüßen wir mit den geschwung'nen Hüten

Nicht endlich auch der Freiheit Frühlingstag?

Bleibt Alles so im alten Weh' und Kummer,

Sowie die Sterne geh'n am Himmelszelt?

Derselbe Tag? Derselbe nächt'ge Schlummer?

Nicht endlich, endlich auch die neue Welt?


Was will ich denn? Nur dann und wann ein Lächeln

Auch in den Seelen wie des Maien Luft!

Ein Zephyr Menschenliebe! Nur ein Fächeln

Der Hoffnung in die kranke Menschenbrust!

O muntrer Quell, du frohe Wiesenblume,

Zieht frohe Augen zu Euch niederwärts!

Zum Blütenast, zum Sternenheiligthume

Blick' ängstend und entsagend nicht das Herz!
[2394]

Wie müßt' es schön auf dieser Erde werden,

Umfing' einst die Natur zu gleicher Zeit

Auch dieses Lebens nackteste Beschwerden

Mit ihrer Liebe buntem Feierkleid!

O Zauberland, wo auch die Herzen sprossen,

Das Leben selbst in solchen Farben lacht,

Die wie ein Regenbogen ausgegossen ...

Bleibst du der Traum nur einer Winternacht?


Die Dohle krächzt – die Nebel hüllen Alles

In der Verzweiflung graues Einerlei.

Die Todtenglocke läutet dumpfen Schalles

Und ruft den Hoffenden: Vorbei! Vorbei!

Der Stein bleibt Stein – Nie wird die Welle fließen

Zum Berg hinan – Was kann im Eise ruh'n?

Gott läßt uns wol die alten Blumen sprießen,

Doch seine Wunder soll'n wir selber thun!


Herr Oleander war durchaus bei all' seiner Schweigsamkeit nicht unfreundlich. Er blieb in seiner wohlwollenden Miene während der ganzen Fahrt. Oft rückte er zur Seite, als wenn er möglicherweise seinen Begleiter störte oder ihm unbequem säße. Dann starrte er wieder auf die kahlen Felder hinaus und schien eine innere Geistesarbeit zu verrichten, wie Louis. Dichtete er vielleicht auch wie dieser? Auffallend genug, daß er zu den wenigen Worten, die er auf der Fahrt sprach, die Veranlassung von der Natur hernahm und immer etwas Eigenthümliches zu verfolgen schien oder beobachtete. So sprach er von den Dohlen, die sich noch die vergessenen Körner aus den[2395] durchweichten Äckern suchten, von der unschönen Form der entblätterten Weiden, die wie abgehauene Stumpfe, oben dicker als unten, an einem Graben standen, von der immer grünen Tannenwand der Berge, von der er sagte, daß sie den Kindern zu Liebe für die Weihnachtszeit grün bliebe. Wie Louis von dieser Äußerung Veranlassung nehmen wollte, nach den Kindern des Pfarrers zu fragen, für den er vicarirte, gab Oleander eine flüchtige Antwort und sah wieder hinaus in die graue Weite.

Endlich kam das kleine Gefährt dem Ullagrunde näher, an dessen Einfahrt Ackermann ein Haus bewohnte, das der reiche Bauer Sandrart in einem Anfall von Prachtliebe für sich erbaut hatte, aber immer noch nicht bewohnen mochte, weil er sich schwer von seinem gewohnten Giebeldache trennte. Das Bauerhaus war einige hundert Schritte weiter und tiefer schon hinein in die Schlucht gelegen, die von einem kleinen durch sie hinrieselnden Flüßchen der Ullagrund genannt wurde. Das stattliche zweistöckige, massive Haus, das Sandrart an den neuen Pächter des Fürsten vermiethet hatte, lag noch mehr der Ebene zu und höher. Es war umgeben mit Wirthschaftsgebäuden, einem großen Hofe und eingefriedigten Obstgärten. Überall sah man noch die Spuren einer neuen Anlage, die indessen einen sehr geeigneten Platz getroffen hatte.

Ackermann's Wohnhaus lag vom Wege zurückgebaut und wurde erst erreicht, wenn man einen gewaltigen Hof mit Ställen und Scheunen hinter sich hatte. Trotz des[2396] Regens, trotz der dem Ackerbau keinerlei Beschäftigung darbietenden Jahreszeit, war es in diesen Räumen nicht still. Man hörte dreschen, hämmern, sägen. Ackermann hatte sich schon jetzt auf seinem Pachthof die Menschen gemiethet, die er erst mit dem Frühjahre in eine neue großartige Thätigkeit einführen wollte. Er prüfte schon jetzt Den, den er brauchen konnte und gewöhnte diese Menschen, jede Jahreszeit auf nützliche Weise zu verwenden. Am untern Ende des ganzen Hofes, wo die Ulla floß, wurde trotz des Regens sogar gebaut. Ein ganz neues Haus stand dort fast bis zum Dache aufgerichtet. Drinnen hörte man das Hämmern und Sägen von Zimmerleuten ...

Dies wird die amerikanische Mühle! sagte Oleander, der Louis' neugieriges Hinausblicken nach diesem Baue bemerkte.

Auf Louis' Fragen, wann sie begonnen wurde, wann sie beendigt sein würde, wie ein solches Werk eingerichtet wäre, gab Oleander den kurzen aber artigen Bescheid:

Sie müssen sie sich ansehen.

Es schien, als wenn eine amerikanische Mühle nicht zu den Begriffen gehörte, von denen Herr Oleander ein vollständiges Bild lange mit sich herumtragen konnte.

Das Wohnhaus, noch nicht mit Kalk überworfen, stand etwas höher als der Vorhof. Es war zweistöckig und bot in seinen Fenstern einen freundlichen Anblick. Links und rechts war es von Bäumen eingeschlossen, die jetzt kahl, doch seine Wirkung lebendiger hervorgehoben. Der Eingang[2397] war von der Seite, an einem ganz von Gebüschen umgebenen Brunnen vorüber. Schon stand von weißen, neugezimmerten Latten ein Dach um die steinernen Stufen, die in die Hausthür führten. Dieser Eingang sollte also künftig von einer Laube überschattet werden.

Louis war ausgestiegen und unter dem schützenden großen rothen Regenschirm der Frau Pfarrerin von Plessen neben Oleander über den gekieselten Boden hingeschritten. Erst jetzt besann er sich auf Das, was er Ackermann zu sagen hatte. Er beschloß, sich so einzuführen, als wollte er eine zufällige Anwesenheit auf dem Schlosse Hohenberg zugleich benutzen, um dem Fürsten von seinem neuen Pächter einen Gruß und manches nützliche Versprechen für die Zukunft zu überbringen. Um ein weiteres Erforschen der Absichten des Pächters war er unbesorgt. Schon der erste Blick auf diese wachsende Niederlassung zeigte ihm ja, wie ernst Ackermann seinen Beruf ergriffen hatte.

Eine hinzugesprungene Magd nahm mit freundlichem: Guten Morgen, Herr Candidat! Oleander's rothen, durchnäßten Regenschirm in Empfang und spannte ihn, mit neugierigem Blick den zweiten Ankömmling musternd, in der großen reinlichen Küche aus, die sich gleich zur Linken, dicht am Eingang befand.

Herr Ackermann zu sprechen? fragte Louis.

Indem öffnete sich im Gange eine hintere Thür und ein junges Mädchen huschte, Oleander grüßend, rasch in eine entgegengesetzte hinüber.[2398]

Louis bemerkte, daß Oleander, der seinen Mantel auszog, erröthete.

Es gibt auch wenig Eindrücke, die so lieblich sind, als ein junges Mädchen in einer Toilette, die für das Zimmer berechnet ist, rasch durch ein Haus oder einige Sprünge über die Straße hüpfen zu sehen ...

Louis zweifelte nicht, daß dies Selma gewesen war.

Er erinnerte sich wohl des Knaben, den Ackermann damals, als er ihm die Pachtung zugestand, bei sich hatte.

Oleander, ohne sich um seinen überbescheidenen Begleiter weiter zu kümmern, ging mit einigen Büchern, die er aus dem Mantel genommen, in das Zimmer, in welches eben jenes junge Mädchen hinübergeschlüpft war. Louis aber wurde von der Magd in das entgegengesetzte Zimmer gewiesen.

Er klopfte an.

Beim Eintreten in die warme behagliche Stube fand er Ackermann auf dem Sopha liegend, eine Cigarre im Munde, eine Zeitung in der Hand, vor sich deren noch eine größere Anzahl und eine Menge Bücher.

Kaum hatte noch Louis ein Wort gesprochen, als ihn Ackermann schon erkannte und vom Sopha sich erhebend ihm die Hand zum Gruße bot.

Seien Sie uns willkommen, Herr Louis Armand! sagte er. Was führt Sie in dieser traurigen Jahreszeit zu uns Einsiedlern? Gewiß schickt Sie der Prinz, dem meine Briefe zu kurz und oberflächlich sind?

Kennen Sie mich noch? fragte Louis.[2399]

Ich vergesse kein Antlitz, das ich mir einmal einprägte, so leicht. Und wie sollt' ich das Ihrige vergessen, der mir die Botschaft brachte, wie ich für das Wohl und Wehe des Fürsten sorgen darf!

Louis wollte von Zufälligkeiten, die ihn herführten, reden, aber Ackermann unterbrach ihn mit der aufrichtigen Erklärung, daß er es ganz in der Ordnung fände, wenn man einmal bei ihm Visitation halte.

Verstehen Sie sich auf die Landwirthschaft? fragte er.

Louis verneinte.

Aber Das begreifen Sie doch, sagte Ackermann, daß die Intelligenz auf diesen Fluren und Triften noch nicht gewaltet hat. Hier gab es Schwierigkeiten und Vorurtheile genug zu überwinden. Die Lehre von der Vermehrung der Bodenkraft kennt man hier nur aus den oberflächlichsten Anwendungen der Dungtheorie. Die, die hier wirthschaften wollten, waren noch nicht einmal über die Sicherheit der hier erzielbaren Früchte einig. Und wie ließ man den Unarten der Natur freien Spielraum! Was standen sich die Unkräuter so gut im Fürstenthum Hohenberg! Nein, es kommt jetzt darauf an, durch passenden Fruchtwechsel dem Boden die nöthige Ruhe zu gewähren, Stroh und hauptsächlich Futterkräuter auch als Dungmittel zu gewinnen, damit durch das Medium der Thierernährung dem Boden wieder Kraft zugeführt wird. Man experimentirte hier fortwährend mit der Agrikulturchemie, mit mineralischem Dünger, dem ich seine Kraft gar nicht abspreche; aber ist einmal der Viehstand[2400] eine unerläßliche, eigentlich drückende Nothwendigkeit der Landwirthschaft, so muß man daraus auch seine Vortheile zu ziehen und ihn der Landwirthschaft wieder ergiebig zu machen wissen. Es kommt nur auf gute Race der Zucht an, die ich mir denn auch aus Kent, aus Durham in England verschrieben habe. Über die neuen Schaafe und kurzgehörnten Rinder sollen unsre Bauern erstaunen. Ein paar Exemplare, die schon da sind, sehen sie an wie Abgesandte der Hölle. Aber ich will auch deutsche Rosse aus Jütland, Zugochsen aus dem sächsischen Voigtlande kommen lassen, denen sich meine Nachbarn, Herr Sandrart an der Spitze, schon verwandter fühlen werden. Freilich geht es mit einer solchen Besserung des Viehstandes langsam. Da lass' ich mir denn die gute Gottesgabe der peruanischen Vögel oder den Guano einstweilen als Ersatz zur Düngung kommen. Haben Sie nicht, wenn der Nebel nicht hinderte, Leute im Felde arbeiten sehen? Die sind mit der Drainage beschäftigt. Sie legen thönerne Röhren im Erdreich, um der Entwässerung Kanäle zu bahnen, die ihr hier fehlten. Alle Hohenbergischen Wiesen waren sauer, d.h. sumpfig, ohne Abzugskanäle der Überfeuchtigkeit, ohne Einlaß der Luft, die den Wurzeln Kräftigung gibt. Die Engländer wissen, was entsumpfen ist! O mein junger Freund, Sie sind ein geborner Franzose, das deutsche Volk steckt geistig und physisch so noch in seinen Sümpfen, wie damals, als die alten Germanen die Herrschaft über ihr Vaterland erst den Auerochsen streitig machen mußten. Aber auch die Sümpfe sind hier nicht[2401] zu etwas Anderem benutzt als noch zum Tummelplatz der Irrwische und der Teufelsfurcht auf ihnen. Sind die Sümpfe nun einmal doch trotz gesunder Luft unausrottbar, so versuche man's mit dem Feuer! Man steche sie als Torf ab und wenn ich erst von der Willing'schen Fabrik meinen Brosofsky'schen Torfstecher habe, so sollen Sie sehen, daß wir einen schönen Handel mit der Hauptstadt eröffnen werden. Ist hier der Lehmboden benutzt? Findet sich hier wol nur der Versuch einer Ziegelei? Dieses Haus hier ist mit Mühe und Kosten aus fernher entbotenem Material erbaut. Wozu Das? Wir brennen die Ziegel selbst und verkaufen, was wir an Überfluß haben. Allein damit noch nicht genug. Wir Ökonomen werden die Hand auch Euch Industriellen zum gemeinsamen Wirken reichen müssen. Landwirthschaftliche Gewerbe dürfen nicht fehlen; denn wo nicht Alles Hand in Hand geht, wo nicht jeder Anbau seine mehrfache Nutzung, auch die Menschenkraft, auch die sich oft ergebende Muße und die Ruhezeit benutzt wird, bleibt ein Capital todt liegen. Gegen Kartoffelbrennerei sträub' ich mich, obgleich der Mehrbedarf von Kartoffeln sich dadurch so lebhaft aufdrängt, daß sie als Hackfrüchte dem Boden eine gute Ausrodung garantiren. Aber ich denke doch die Rübe vorzuziehen und werde Zucker fabriziren. Die Methode ist vereinfacht worden, der Apparat nicht mehr allzu kostspielig. Und welches Futtermaterial gewinn' ich nicht! Wie kann ich den Arbeiter im Winter so behaglich beschäftigen! Sehen die Leute hier, was Maschinen so[2402] treu verrichten helfen, die Abneigung gegen sie wird sich legen, sie werden mir dann jene Unterstützung gewähren, die ich leider jetzt noch nicht allzubereitwillig antreffe.

Angenehm unterhalten von dieser offenen, sachkundigen Auseinandersetzung sagte Louis:

Ich finde auch eine amerikanische Mühle im Bau begriffen.

Zum Entsetzen aller Müller der Umgegend, fuhr Ackermann wohlwollend und in seinem schönen Organe fort. Das ist nun nicht anders. Feindschaft des Zunftwesens folgt überall den Fortschritten des menschlichen Geistes. Es thut mir leid um die Herren in ihren blaugrauen Mehlröcken ... glücklicherweise sind alle Müller der Gegend reich. Nun mögen sie von ihren Zinsen leben oder die Preise, die meine Mühle stellt, auch an ihr schwarzes Preiscourantbret schreiben. Bis zum Frühjahr sind wir mit dem Mühlenbau fertig. Sie sollen diese erfindungsreiche Construction sehen, wo derselbe Umschwung der Räder das Getreide sichtet, es aufschüttet, zermalmt, das Mehl siebt und von der Kleie scheidet. Man wird das Brot hier künftig wohlfeiler essen und man braucht diese Erleichterung, denn die Ortschaften ringsum sind arm, alle Handthierung ist heruntergekommen und je tiefer hinein Sie in die Berge gehen, je elender fristen die Einzler in baufälligen Hütten ihr Dasein, das doch ohne Brot nicht sein kann.

Der Prinz wird eine Freude haben, von allen den[2403] Dingen zu hören, sagte Louis mit aufrichtigem Herzen, Egon darin wohl kennend.

Umsomehr wird er es, fiel Ackermann ein, als ich aus den Zeitungen hier sehe, daß er ja ganz auf die hohe See der Politik hinaussegelt. Er ist Minister geworden. Glauben Sie, daß ihm dieser Wirkungskreis Freude machen wird?

Egon gehört zu den Naturen, die in der Arbeit ihren Genuß finden, antwortete Louis.

Ackermann hörte diese Bemerkung mit sichtlichem Wohlgefallen.

Erzählen Sie mir von Ihrem Gönner, sagte er, rückte Louis einen Stuhl zurecht und öffnete den Deckel einer Havanakiste, um ihm Cigarren anzubieten.

Louis nahm zögernd.

Eine chemische Zündmaschine, deren Hahn Ackermann nur drehte, gab im Nu Feuer und ohne sich von der fremdartigen, neuen Umgebung nun noch beengen zu lassen, theilte Louis so viel von seinen persönlichen Beziehungen zu Egon mit, als er nur irgend glaubte davon erzählen zu dürfen. Die Beziehungen zu seiner Schwester und zu Helenen verschwieg er.

Ackermann hörte sehr aufmerksam zu und bestätigte das Ergebniß dieser Mittheilungen mit den Worten:

Ja! Ja! Der Fürst ist keine gewöhnliche Natur! Wie hätt' ich sonst mich entschließen können, in seinen zerrütteten Vermögenszustand meine Hand zu stecken! Er machte mir einen bedeutenden, und ich kann wohl sagen,[2404] wohlthuenden Eindruck, so spröde ich mich auch anfangs gegen ihn erwies.

Sie kennen ihn genauer? fragte Louis, erstaunt, daß ihm Egon niemals davon gesprochen hatte ...

Wohl, sagte Ackermann, von jenem Incognito her, das er im Sommer beobachtete, um sich hier den Zustand seiner Güter anzusehen.

Louis fand in dieser Äußerung nichts, was ihn bestimmen konnte, irgendwie zu ahnen, wie Ackermann den Prinzen mit Dankmar verwechselte. Egon war in Hohenberg gewesen, Egon hatte Ackermann selbst in seiner Gegenwart gerühmt, ohne sich auf den Ursprung seiner Bekanntschaft mit ihm weiter einzulassen.

Ich bin durch diese für seine Jugend überraschende Laufbahn als Staatsmann umsomehr befriedigt, sagte Ackermann, als ich die Gefahren zu kennen glaube, in die ein hochgestellter junger Adliger nur zu leicht geräth, wenn seinem Geiste nicht die rechte Nahrung geboten wird. Ich fand ihn nahe daran, der Spielball koketter Frauen zu werden. Ein Portefeuille rettet gewiß aus jedem Strickknäuel und wenn es verwickelt wäre, wie der gordische Knoten.

Louis erröthete fast. Er gedachte Helenen's ...

Wohl muß ich sagen, fuhr Ackermann fort, daß ich selten ein schöneres Frauenbild gesehen habe, als Melanie Schlurck. Welche hohe Vollendung der Formen! Man glaubt jene Statue lebendig zu sehen, um die Pygmalion so unglücklich wurde, als sie nur von Marmor war! Ja[2405] noch richtiger möcht' ich dies Mädchen jener Armida vergleichen, die die ernsthaftesten Menschen bezauberte und Weise gezwungen hat, sich in ihrer Gegenwart für dumm zu erklären. Dauert dieser Roman noch?

Leider konnte Louis nicht sagen: Nein! Es war ihm nur zu bekannt, daß Melanie Schlurck einen großen Einfluß auf Egon seit seiner ihm und aller Welt räthselhaften Verbindung mit Paulinen von Harder gewonnen hatte. Schon seit Wochen war Egon ja gegen ihn der Alte nicht mehr. Seine Aufrichtigkeit hatte zu stocken angefangen. Dennoch wußte er, daß er bei Paulinen wie von seinen Erschöpfungen sich ausruhte, bei ihr sich in seiner natürlichen Art heiter und unbefangen gehen ließ und von Melanie's immer gleicher Laune und ihrer kleinen liebenswürdigen Gefallsucht höchst angenehm unterhalten wurde. Daß Ackermann von einem älteren Verhältnisse sprach, Louis nur von einem jüngern wußte, kam in dem Druck der Thatsache selbst, die schwer genug auf Louis lastete, nicht zur Sprache. Auch die folgende Bemerkung Ackermann's, daß es dem Prinzen unter diesen Umständen viel Selbstüberwindung gekostet haben müsse, die Verwaltung seiner Güter ganz von dem Vater des schönen Mädchens zu trennen, kam nicht zu genauerer Erörterung; denn Louis wußte, wie weit der Terrorismus gehen konnte, mit dem sich Egon selber zügelte und sich bis zum Herzlosen auch darin bändigen konnte, daß er Melanien liebte und ihrem Vater dennoch darum nicht den geringsten Vortheil bot ... Das war ganz in Egon's Art.[2406]

Ackermann konnte sich von den Nachforschungen über Egon nicht so bald trennen. Der Gedanke an den jungen Prinzen, den er so genau zu kennen glaubte, schien ihm von solchem Werthe, daß er Louis nach allen Umständen seines jetzigen Lebens fast ausforschte.

Als Louis seine Neugier befriedigt und ihm besonders von Egon's politischer Entwickelung erzählt hatte, ergriff Ackermann die Zeitung, die er bei Louis' Eintreten gelesen und sagte:

Nach Dem, was ich von Ihnen und von ihm selbst weiß, überfällt mich da oft ein sonderbarer Zweifel, wenn ich seine Äußerungen in der Kammer lese. Ich finde ihn außerordentlich schroff.

Er ist von seinen Überzeugungen erwärmt ...

Er; aber diese Überzeugungen sind für Andere von einer, ich möchte sagen puritanischen Kälte. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß es in Frankreich eine politische Partei gab, die der Doctrinäre ...

Ihre Politik compromittirte das Königthum.

Egon ist nicht viel besser ...

Er haßte jedoch immer die Politik der Professoren ...

Es ist gar nicht gesagt, daß die Doctrinäre Professoren sein müssen; auch Kaufleute und Advokaten können es sein, wenn sie an bestimmten Doctrinen zu fest kleben und sie um jeden Preis geltend machen wollen. Die Politik der jetzigen Übergangszustände unserer Staaten ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Wer dem Geiste der Massen mit einer Lehre und sei es welche es wolle,[2407] entgegentritt, findet Widerspruch von allen Seiten. Ich fürchte sehr, daß sich Egon außer seinen politischen Gegnern, die an und für sich schon durch die Parteien und deren Interessen gegeben sind, auch noch die Theoretiker auf den Hals ladet. Kennen Sie diese Rede? Ich finde sie bereits zu excentrisch für ein so junges Ministerium.

Ackermann zeigte auf eine Stelle der Zeitung, die er Louis hinhielt. Es war wieder das »Jahrhundert.« Man sah, daß diese Zeitung hier überall auf bestimmte Veranlassung gehalten wurde.

Louis las den Tag der Sitzung. Es war einige Tage nach seiner Abreise, daß Egon die folgenden Worte, die Louis laut vorlas, gesprochen hatte:

»Denn, meine Herren, woran leidet unsere Zeit? An dem Mangel einer sichern und festen Lehre über den Staat? Glauben Sie Das nicht! Sie leidet unter dem Mangel an Geduld und Prüfung. Sie leidet unter dem Mangel der Unterordnung und des bescheidenen Bewußtseins seiner nächsten Pflichten. Wo Sie hinblicken, werden Sie arbeitende Köpfe und feiernde Hände finden. Ein Jeder bildet sich ein, wenn nur die theoretische Formel, das mathematische Gesetz unserer Existenz gefunden wäre, würde diese sich sogleich darnach ändern ohne unser Dazuthun. Die Gesellschaft ist, sagt man, krank, meine Herren. Sie ist es, ich läugne es nicht. Aber die Heilung liegt in uns, nicht in den Geheimmitteln der bisher gerufenen Ärzte. Woran fehlt es überall? An der wahren Diät der Geister. Enthaltsam, nüchtern, streng gegen sich[2408] selbst zu sein, wem fällt Das noch ein? Luxus ist die Vorstellung des Reichen und des Armen. Die Phantasie gaukelt sich in den kühnsten Idealen von Erdenglück und suchen will Niemand das Erdenglück, nur finden wollen es Alle. O, meine Herren, diese Welt kommt mir vor wie das Spiel der Kinder, wo Alle Feldherren, keiner Soldat sein will. Vergeben Sie mir, daß ich mich an Sie selbst wende, an Sie, die hier versammelten Gesetzgeber eines großen Staates. Ich ehre das Recht des Volkes, sich die Bevollmächtigten seiner Wünsche zu wählen. Aber gestehen Sie, auf jeden von Ihnen kommt, ehe er gewählt wurde, eine solche Fülle der Aufregung, an Jeden knüpfen sich so viel Leidenschaften des Ehrgeizes und der Streitsucht, daß man ernstlich für eine Gesellschaft fürchten muß, die so durchwühlt wird vom Unbestimmtesten, so in fieberhafter Hast auf Ihre Entscheidungen wartet, so nur vielleicht wartet, bis ein Jeder von Ihnen sich als Persönlichkeit und Träger des ihm geschenkten Vertrauens würdig zeigt. Ich ehre Ihr Recht der Prüfung, aber fragen Sie Ihr innerstes Herz, ob Sie hier Alle auf diesen Sesseln sitzen in dem Bestreben, das Staatsleben zu vereinfachen und nur die Thatsachen geltend machen zu wollen, die ... (Murren. Unterbrechung.)«

Lesen Sie nur weiter! sagte Ackermann.

Louis las, indem sich seine Züge verdüsterten.

»Eine Stimme. Sie sprechen für den Absolutismus.

Der Ministerpräsident. Ich nehme das Wort auf, das Sie mir zurufen. Was nennen Sie Absolutismus? Glauben[2409] Sie, daß ich eine der Freiheiten verkümmern will, die diese Zeiten dem Volke gegeben? (Neue Unterbrechung.)

Eine Stimme. Das dürfte nicht wohl möglich sein.

Der Ministerpräsident. Ich verachte den Absolutismus früherer Zeiten, den diese Tage niedergeworfen haben. Es ist ein gefälltes Ungethüm, das vom Schwerte des Zeitgeistes St.-Georg getroffen zu Boden liegt. Der Absolutismus der Polizeigewalt und der patriarchalischen Despotie wird nie wieder sein Haupt erheben dürfen. Aber ich frage Sie auf Ihr Gewissen, ob Sie den Staat, wie ihn einmal die Geschichte nicht als Zufallsprodukt der Privilegien, sondern als Naturprodukt der Gesellschaft, der Existenz, des Lebenmüssens, meine Herren, des Lebenmüssens überliefert hat, ob Sie, sag' ich, diesen Staat jemals für etwas nur Relatives halten können?

Eine Stimme. Sophistik!

Der Ministerpräsident. Sophistik? Sagen Sie Logik, mein Herr! Wer ist ehrlich mit dem Wohle der Menschheit meint, kann keinen Staat und wär' es den kleinsten, zufälligsten, für etwas Relatives halten, für ein zufälliges Ergebniß ewig schwankender Bestimmungen. Das Absolute im Staate ist die Gesellschaft! Das Absolute ist der gegebene Mensch! Dieser Absolutismus soll das Ruder aller Politik sein oder die Politiker werden Verräther am allgemeinen Wohle, Friedensbrecher, Rebellen nicht gegen den Fürsten und die Krone allein. Nein, Rebellen gegen den Armen, der leben soll und nicht leben kann, Rebellen gegen das große Räthsel unsers Daseins, das[2410] man zu lösen haben wird nicht in den Lehrstuben der Doktrin, nicht in den Bureaux der Beamtenwelt, nicht in den Palästen, sondern in den Hütten, in den Werkstätten, in den Kranken- und Siechhäusern, ja auf den Friedhöfen, meine Herren, unter den Gräbern. Denn der Tod ist das gelöste Räthsel dieses Lebens! (Rauschender Beifall von allen Seiten des Hauses.)«

Da sehen Sie nun, unterbrach Ackermann den erschütterten Louis, da sehen Sie nun, wie die Phrase die Menschen regiert!

Ah, unterbrach Louis, hier ist mehr als Phrase.

Nennen Sie es lieber, antwortete Ackermann lächelnd, ein Einlenken auf die übliche Heerstraße der Rhetorik! Ich gestehe, in Allem, was ich von dem Fürsten in diesen Berichten nun seit acht Tagen gelesen habe, bewundern zu müssen, wie er es versteht, die Schlagworte der Zeit in Augenblicken der Gefahr zu Hülfe zu rufen. Aber ich sehe doch, er eskamotirt sie.

Wie verstehen Sie das? fragte Louis besorgt.

Er ficht mit den Waffen seiner Gegner. Er entwindet ihnen die Rappiere, die sie gegen ihn brauchen wollten und schlägt vortreffliche Paraden. Noch bin ich nicht klar, ob er wirklich ein Taschenspieler der Begriffe ist. Nur ehrlich sein! Nur aufrichtig, Prinz! Er soll sagen, ich bin ein Absolutist! Ich bin beauftragt von der Monarchie, ihre schwankende Sache zu führen! Was windet er sich so durch die Doctrin von Arbeit und Thätigkeit und Existenz ...[2411]

O mein Herr, unterbrach Louis den skeptischen Agronomen, der in diesem Augenblicke an die hohe Stellung seines Patrons nicht dachte, diese Doctrin ist sehr heilig und für den Fürsten unendlich wichtiger als die Spitzfindigkeiten der Advokaten.

Die lieb' ich nun erst gar nicht, die veracht' ich wie unser lieber Fürst! Aber Sie sehen aus dieser kleinen Probe seiner schwierigen Stellung – Sie werden die Sitzungen mit Aufmerksamkeit verfolgen – Mein Exemplar steht Ihnen immer zu Diensten – lesen Sie und Sie werden bald merken, daß sich Egon mit dieser Theorie von der Entsagung und der Pflichterfüllung der Menschen in eine Sackgasse verliert, in der ich für ihn sehr viel Unglück erblicke. Es ist von Genf her etwas Calvinistisches in ihm stecken geblieben, er ist trotz der schönen Melanie ein Puritaner und ich wollte, ich dürfte ihm einmal recht den Text lesen ...

Ackermann fiel in einen so warmen, vertrauten, doch liebevollen Ton über Egon, daß Louis nicht umhin konnte, ihn zu fragen, was er ihm dann wohl sagen würde?

O, sagte Ackermann, Sie sind sein Freund, er hat Ursache, Sie zu lieben; denn durch das wunderbare Labyrinth seiner Jugend haben Sie ihn treu geführt. Lehnen Sie dies Lob nicht ab! Egon ist eine merkwürdige Erscheinung. Ja, ja! So jung! So reif! So weltklar! Ich sah es gleich an seinen Augen, daß in denen ein Geheimniß schlummert. Wenn Sie ihn von mir grüßen und ihm Versicherungen geben wollen über Das, was ich Ihnen Alles[2412] noch von der Praxis meiner Pläne zeigen werde, so sagen Sie nur, in der Politik verirre er sich! Ihm, das säh' ich schon, wären Kammerauflösungen, Verfolgungen, Einkerkerungen ein Leichtes! Er wird bald alle Mittel verschossen haben, um auf friedliche Art zur Herrschaft seiner Theorieen zu kommen! Er soll sich, sagen Sie es ihm, er solle sich vor den gewaltsamen Mitteln in Acht nehmen; die sind zweischneidig, treffen ihn selbst. Und unsre Zeit will keine Lehre, keine Doctrin, wenigstens sieht die seine so aschgrau aus, wie da die ganze Flur draußen. Sehen Sie hinaus, wie der Regen tröpfelt! Der ganze Himmel ein großes Sackleinen! Langweilige Raben fliegen mit matten Flügeln träge über die entlaubten Bäume hin! Sagen Sie doch Egon, ob er vergessen hätte, daß das Alles grün werden muß und daß es im Walde, wo er mit Selma einst wandelte, viel fröhlicher aussieht! Es ist gar nicht möglich, in unsrer Zeit das Evangelium der Pflichten zu predigen. Es ist grausam sogar, den Menschen allein auf die Arbeit zu verweisen. Wer arbeitete denn nicht gern? Nur die Belohnung fehlt, nur der Genuß fehlt. Und von dem soll er nur machen, daß er sich in den Grenzen hält! Ich sage, man schlage der Menschheit das Capitel von der ächten Freude auf, das doch irgendwo in unsern Herzen geschrieben stehen wird. Egon wäre sehr gut, eine Quäkerkolonie zu gründen. Da mag er sein Evangelium der Pflichten, seine Theorie der Arbeit lehren. Der Adel und die Beamten werden so viel, als sie von seiner Lehre brauchen können, auspressen und ihn dann[2413] als einen politischen närrischen Ascetiker bei Seite werfen. Er bläst zu rauh, dieser Boreas! Er soll sich den Sonnenschein zu Hülfe nehmen! Er soll Freude verbreiten, erlaubte, unschuldige Freude. Besäß' ich seine Gabe der Rede, durch Scherz entwaffnete ich meine Gegner und machte alle möglichen Gesichter, nur nicht die eines Schulmeisters.

Louis lächelte über die gute Laune des Generalpächters, den er ersichtlich durch seinen Besuch erfreut hatte. Er begriff wohl, wie man hier in so einsamer Welt aus den innersten Geistes- und Gemüthsquellen schöpfen müsse, um sich wach und froh zu erhalten. Er fühlte auch bald heraus, daß Ackermann eine sehr feine, gebildete Intelligenz war und auf einem höhern Standpunkte, als dem eines exclusiven Landwirthes stand. Dabei erwärmte ihn seine Hingebung an Egon, von dem er so menschlich, so treu und theilnehmend sprach, ganz so, wie es Egon einst liebte – einst! sagte er sich und verfiel in trübes Sinnen, warum das Alles im Grunde doch so viel anders war, als es Ackermann bekannt sein konnte.

Ackermann sagte nun noch:

Es versteht sich von selbst, lieber Herr Armand, daß Sie über Mittag unser Gast sind. Wir essen schon um zwölf Uhr. Bis dahin zeig' ich Ihnen meine kleinen Vorbereitungen, die erst in Gang kommen werden, wenn zu Weihnachten und Neujahr meine Maschinen eintreffen ...

Ich soll Ihnen, unterbrach ihn Louis, von Herrn Leidenfrost viel Grüße sagen ...[2414]

Dem wackren Techniker!

Ihre Maschinen sind in Arbeit und werden zur bestimmten Zeit fertig werden.

Für diese Nachricht dank' ich Ihnen! Hoffentlich wird man nicht erst die Dreschmaschinen und dann die Säemaschinen machen, wie es einem Bekannten von mir in Amerika ging, der zum Frühjahr Alles bekam, was er im Herbste brauchte und im Herbst, was er im Frühjahr hätte haben müssen.

Louis lachte über eine Bemerkung, die Ackermann mit den Worten ergänzte:

Glücklicherweise traf diese Nachlässigkeit einen Mann, der gewohnt ist, die Pferde manchmal hinter den Wagen zu spannen, den Baron Otto von Dystra, von dem ich gestern mit der angenehmsten Überraschung gelesen habe, daß er seinen Plan, einmal Europa wieder zu besuchen, bald nach mir ausgeführt hat.

Louis hatte vom Baron Otto von Dystra noch nichts gehört und nahm keine Veranlassung, länger bei Erwähnung dieses Namens zu verweilen. Er kehrte auf Leidenfrost zurück und sprach voll Theilnahme über das umfangreiche Streben dieses vielseitigen jungen Mannes.

O, sagte Ackermann, Das ist eine der Naturen, die mir am verwandtesten sind. Reger Geist, fern von jeder Grübelei, fern von jedem sentimentalen Despotismus. Denn Das sag' ich Ihnen, lieber Freund, Niemand ist despotischer als die blos Gefühlvollen und kein Mensch ist meist herzlicher als der, der für einen Verstandesmenschen gilt.[2415]

Der Verstandesmensch ist gleich bei der Hand, wo Hülfe noththut. Der Gefühlvolle betet, wünscht uns das Beste hienieden und im Jenseits und geht, abscheulicher als der Pharisäer, an dem von Mörderhand getroffenen Wandrer vorüber, über den er nachher eine Elegie schreibt. Das rechte Herz, glauben Sie mir, ist nur da, wo der Verstand klar ist. So ein Gefühlvoller der sinkt gleich in Ohnmacht und ruft um Hülfe. Hat er sich einmal aufrecht erhalten, ist er einmal rasch herbeigesprungen und hat Jemanden aufgehoben, o welch' ein Aufhebens weiß er dann auch zu machen! Wie spiegelt er sich in der Glorie seiner That! Wie bescheiden lächelt er auf seine stillen und nun doch plötzlich ans Tageslicht gekommenen Verdienste herab! Ich halte es mit den Verständigen, die auch darin Verstand zeigen, daß sie weit weniger sprechen, als ich heute thue. Kommen Sie! Kommen Sie! Sie sollen jetzt etwas von meiner Niederlassung sehen.

Mit dieser lakonischen Wendung hatte Ackermann ein leichtes Käppchen ergriffen und forderte Louis auf, ihm in den Hof zu folgen. Die Magd brachte draußen einen Schirm und erhielt im Vorübergehen die Weisung, daß sie sich doch wol schon auf ein Couvert mehr eingerichtet hätte? Die Magd nickte resolut, als wollte sie sagen: Was denken Sie, Herr Ackermann! Alles besorgt! Sie sagte aber:

So politisch werd' ich doch sein!

Diese Äußerung muß uns auffallen; denn sie war gerade jene unpolitische Liese, dieselbe Magd, die beim Heidekrüger[2416] Justus unter den Weltstudien ihres Herrn so viel gelitten hatte und jetzt in diesen neuen Dienst getreten war, während Justus in der Residenz eine große politische Rolle spielte und den Chef einer »Fraction« machte.

Rasch eilten die Männer über den Kieselboden und das nasse Hofpflaster hin.

Louis überzeugte sich jetzt erst, wie jugendlich das Aussehen des Generalpächters war, wie hoch und schlank sein Wuchs, wie fein sein ganzes Wesen! Er mußte sich sagen, daß Ackermann sicher einst eine der schönsten männlichen Erscheinungen war. Sein Auge hatte etwas Durchdringendes, seine Stirn glänzte edel und hell, die Nase und der Mund waren von großer Feinheit. Sein ganzes Wesen hatte etwas unendlich Harmonisches. Oft erinnerte er ihn an Personen, die ihm im Leben schon werth geworden waren. Rudhard kannte er zu wenig, aber doch fühlte er heraus, daß Ackermann ihm zwar an Verstand gleich kam, aber mehr Poesie um sich verbreitete. Auch an Murray, dessen Name ihm oft auf die Zunge kam, ohne daß er wagen konnte, ihn auszusprechen, erinnerte er ihn. Ihre Ansichten hatten zuweilen etwas sehr Ähnliches. Doch war Murray von Melancholie umdüstert und erweckte nicht die klare, erwärmende Behaglichkeit, die Ackermann ausströmte. Man sah diesem Manne an, daß er viel erlebt, viel gerungen hatte. Trotz seiner Freundlichkeit gegen Louis, die fast eine herablassende war, thronte ein hoher Ernst auf seiner Stirn. Nur milderte er ihn durch seine Gefälligkeit und den biedern Ton.[2417]

Wie unermüdet zeigte er sich, seinen Besuch von Allem zu unterrichten, was, wenn nicht diesen, doch den Fürsten interessiren konnte! Er knüpfte an jeden Raum, den er ihm in den Wirthschaftsgebäuden öffnete, lehrreiche Auseinandersetzungen. Schon erblickte Louis im Geiste die rührigen Hände, die einst hier wirken und arbeiten sollten. Die Maschinen sah er schon in voller Thätigkeit. Auch in die Mühle führte ihn Ackermann. Hier wurde von Zimmerleuten rege gearbeitet, auch den Schlag des Hammers auf Eisen hörte er und nicht wenig war er erstaunt, als er den blinden Zeck erblickte, der mit seinem Sohne gemeinschaftlich auf einem kleinen in den Boden eingerammten glühenden Heerde die Klammern und Haken noch nachträglich erweichte, die in diesen oder jenen Balken getrieben werden sollten.

Ackermann zeigte auf das arbeitende Paar und sagte:

Es ist eine merkwürdige Sicherheit, mit der der Blinde bei den schwersten Aufgaben verfährt. Wie ich hierherkam, hatt' ich ihm von einem in Amerika verstorbenen Verwandten, über den ich eigentlich nach seinem Wunsche schweigen sollte, eine kleine Erbschaft zu bringen. Diese Leute macht ein kleiner Besitz gleich wunderlich! Wie ich mich hier niederließ, bot er mir das Geld an, um sich an meinen Unternehmungen zu betheiligen. Er verhieß mir sogar noch das, was ich einer in der Nähe wohnenden Schwester ausgezahlt hatte ...

Ursula Marzahn – sagte Louis.

Sie kennen die Frau?[2418]

Sie wohnt im Forsthause ...

Ganz recht. Ich habe sie einmal in meinem Leben gesehen und muß leider gestehen, daß sie zu den Menschen gehört, von denen man sagt, sie hätten den bösen Blick. Aus der Art, wie sie das Geld in Empfang nahm, erkannt' ich, daß sie geisteskrank ist und bewunderte die Geduld des Jägers, der eine beschränkte gutmüthige Natur zu sein scheint und eine solche Person nun schon so viele Jahre um sich duldet –

Seine Nichte ist jetzt aus der Stadt zu ihm gezogen –

Viel Aufopferung Das! Ich gestehe, daß es mir unheimlich wurde in dem baufälligen, einsamen Hause. Sehen Sie nur, wie sicher der Alte arbeitet! Ich begreife diese Augen nicht! Sie sind klar wie sehende und doch umhüllt sie undurchdringliche Nacht. Er hat etwas von der Geschicklichkeit seines Verwandten, der ein großer Künstler war –

Louis wagte nicht zu forschen. Er sah, daß Ackermann im Begriff war, über Murray zu sprechen. Um seine Unruhe nicht zu verrathen, wandte er sich zu einigen Zimmerleuten, die eine gewaltige Holzschraube von der Höhe eines ganzen Stockwerkes probirten. Ackermann ging zu den beiden Zeck's hinüber, die ihn ehrerbietig grüßten. Es drängte Louis näher zu treten und zu hören, wie sich Murray's Bruder, den er nur zu Bestellung der Stimmschraube ganz flüchtig gesprochen, äußern würde.

Ich sehe, sagte Ackermann, Ihr seid Beide hier. Habt Ihr denn Leute gefunden, die in der Schmiede arbeiten?

Zwei, Herr, sagte Zeck und hielt ein glühendes Eisen[2419] seinem Sohne hin, das dieser mit der Zange nahm und an dem Balken, wohin es gehörte, behutsam einsetzte, während der Blinde folgte und mit dem Hammer zuschlug, richtig die Stelle treffend, wo die Kraft seines Armes nöthig war ...

Zwei, Herr! wiederholte er. Im Frühjahr haben wir ihrer noch mehr.

Nur gewandte Arbeiter, sagte Ackermann, mit denen Ihr Ehre einlegt! Wir haben viel zu schaffen. Unsre Wägen machen wir uns selbst. Es soll schon rüstig bei uns hergehen.

Der Alte verzog die Miene zu einem sonderbaren Lachen, das aber ein offenbares Wohlgefallen an der Arbeit und sicher auch die Hoffnung auf Gewinn ausdrückte. Zugleich lag Neugier in dieser Miene. Denn Zeck hatte wohl gehört, daß Ackermann nicht allein kam.

Dies ist der Besuch vom Schlosse, sagte Ackermann, nach dem herangetretenen Louis hinsprechend, er freut sich, wie wacker es Euch von der Hand geht.

Zeck riß die Augen auf und nickte nach der Seite hin, wo er sich Louis dachte, dem der Anblick dieses Blinden in einem für sein Gefühl erschütternden Zusammenhang mit den ihm bekannten Thatsachen stand.

Wir kennen uns, sagte Louis und um nur über die mögliche Erwähnung seines im Schlosse gebliebenen Begleiters rasch hinwegzukommen, bemerkte er:

Drum fand ich es in Eurer Schmiede nicht zu lebhaft ...

So, Herr? sagte Zeck; ja, es sind zwei Arbeiter eingetreten.[2420]

Der Eine versteht sich auf feine Sachen und kann als Klempner arbeiten. Aber sie sind faul. Die Schraube an dem Klavier können Sie uns schon anvertrauen.

Sind Sie musikalisch? fragte Ackermann.

Louis war es im Gesang, aber nicht auf dem Klavier. Er konnte die Wahrheit nicht umgehen und mußte einräumen, daß ihn noch ein Freund begleitet hätte, der kränklich wäre, zurückgezogen auf seinem Zimmer lebe und sich mit Musik unterhalte.

Zeck horchte gespannt und bemerkte zu Louis' Erstaunen, daß der Blinde in seiner neugierigen, dreinlachenden Weise sagte:

Die Brigitte sagt, daß der Herr ja auch etwas vom Fach ist: Er hat's mit Kupfer, wie wir mit Eisen.

Mit Kupfer? fragte Ackermann sorglos.

Louis, der Murray's Einfall, ihm eine Visitenkarte zu stechen, ebenso sehr verwünschte, wie die Plauderhaftigkeit ihrer Bedienung, bemerkte, daß sein Begleiter chemische Experimente mache und zuweilen auf Kupferplatten ätze.

Als Ackermann sich zum Gehen wandte, bemerkte er:

Ein Verwandter dieses Blinden nannte sich schon in England Morton und war ein Kupferstecher. Wie er dazu kam, hat mir Keiner von ihnen klar machen wollen. Es sind versteckte unheimliche Menschen.

Auch Morton? frug Louis, ohne an dem Namen Morton statt Murray Anstoß zu nehmen.[2421]

Morton war ein Sonderling, sagte Ackermann. Ich lernte ihn auf eigene Art kennen. Er reiste einmal mit einem nicht minder eigenthümlichen Manne, dem Diplomaten Otto von Dystra, durch die Vereinigten Staaten, fast immer zu Fuß, viel rüstiger, als ich ihn in nicht gar langer Zeit darauf in Newyork wieder antraf. Die beiden Wanderer kamen an den Missouri, wo ich meine Niederlassung unter Engländern hatte. Sie hörten meine verstorbene Frau in der Farm ein deutsches Lied singen. Sie hatte eine helle zum Herzen dringende Stimme. So klopften sie an mein Thor und blieben lange genug, um die Sängerin schätzen zu lernen. Otto von Dystra wohnte als russischer Consul in Newyork. Er war ein Tourist von Profession, hatte die halbe Welt gesehen und war der eigenthümlichste Bequemlichkeitsphilosoph, der mir jemals vorgekommen.

Bequemlichkeitsphilosoph? unterbrach Louis die freundliche Mittheilung. Verstehen Sie darunter einen Epikuräer?

Ja! Einen Epikuräer des Geistes, sagte Ackermann. Es gibt Epikuräer der Sinne. Ein solcher soll z.B. der Justizrath Schlurck sein, der früher hier schaltete. Es gibt aber auch Epikuräer des Geistes. Unter ihnen versteh' ich Menschen, die auf Alles nach Wohlgefallen dilettiren, die jede Wahrheit zu schätzen wissen, ohne sich für eine zu erklären, Männer des Studiums und eines unermüdlichen Wissenstriebes, Reisende, denen es nirgends Ruhe läßt, Verschönerer der Natur, mit einem Worte[2422] Menschen, die glücklicherweise so reich sein müssen wie Otto von Dystra, um sich so durch die Welt tummeln zu können, wie er es liebt.

Und ein solcher Komet paßt in die russischen Bahnen? fragte Louis erstaunt.

Für Petersburg schwerlich, sagte Ackermann. Aber Rußland hat die weise Art, seine Diplomatie nach den Ländern einzurichten, in denen sie wirken soll. Die deutschen Gesandten des Zaren sind oft halbe Gelehrte, seine italiänischen Gesandten sind Kunstliebhaber, die französischen sind Liebhaber der Intrigue, die englischen sind Wettrenner und Dandies. In Nordamerika läßt sich der Zar durch halbe Republikaner vertreten, die in den Ton und die Denkweise jener Länder wenigstens einzugehen verstehen. Dem reichen Kurländer Otto von Dystra hat man vergebens große Summen geboten, die eigentliche Botschafterstelle in Washington anzunehmen. Er begnügte sich mit dem Consulat in Newyork, weil es ihm Gelegenheit zu Menschenstudien bot, die ihm die liebsten sind. Daß er jetzt in Europa, in unsrer Nähe ist, überrascht mich. Ich versäumte von ihm Abschied zu nehmen. In Europa kann der Zar diese Persönlichkeit zu keinem seiner Zwecke mehr brauchen, umsoweniger, als er abschreckend häßlich ist.

Wie wurde wol Murray mit diesem Manne bekannt? fragte Louis.

Murray? sagte Ackermann und verbesserte: Morton![2423]

Morton! wiederholte Louis.

Morton war ein Kupferstecher und hatte für Otto von Dystra Karten gestochen. Dies wurde die Veranlassung gemeinschaftlicher Reisen. Zwei wunderliche Gegensätze! Otto von Dystra, klein, verwachsen, ganz Epikuräer, Morton ganz Stoiker. Von seinem frühern Leben hab' ich aus diesem alten Zeck nicht viel herausbringen können. Er war tiefsinnig, religiös, hypochondrisch. Ich glaube, daß ihn die Sekte der Shakers, deren Religionsübungen er zuweilen beiwohnte, verwirrt gemacht hat. Dystra nahm Morton so wie er sich gab und ließ ihn als eine Curiosität gelten. Einige Male, daß ich in Neuyork war, entdeckt' ich sogar, daß Morton wohlhabend genannt werden konnte. Er hatte ein ausgebreitetes Geschäft auch mit Metallbuchstaben, die er neu bei uns einführte. Ich erinnere mich noch der schönen Überraschung, die er mir durch eine Kiste Metallbuchstaben machte, als meine Frau starb. Da haben Sie, schrieb er, in vierfacher Anzahl das deutsche Alphabet! Setzen Sie daraus ein Wort der Erinnerung an Ihr gutes Weib zusammen! Die Buchstaben, die in dem Worte: »Dulderin« vorkommen, schick' ich Ihnen doppelt. Sie werden sie brauchen können in Ihrer Inschrift, die Sie an dem metallenen Kreuze mit kleinen Schrauben, die ich gleichfalls beilege, befestigen müssen.

Ackermann schwieg eine Weile. Auch Louis war durch einen Zug, der seinem neuen Freunde und Vertrauten so ähnlich sah, gerührt ...[2424]

Morton, schloß Ackermann, schrieb mir, als ich ihm auf diese Sendung dankte und anzeigte, ich würde nun nach Europa, wenn nicht für immer, doch für einige Zeit zurückkehren, ich möchte mich einigen Aufträgen für Deutschland unterziehen. Er wies mir die kleinen Summen an, die ich seinen Verwandten bringen sollte und empfahl sich, mit einem sonderbaren Ausdruck, meinem Andenken und meiner Gerechtigkeit. Als ich in Newyork nach ihm suchte, hieß es, er wäre spurlos verschwunden. Sein Besitzthum hatte er verkauft und wahrscheinlich einer milden Stiftung übermacht. Ihn selbst suchte man überall vergebens. Die Entdeckung von Kleidern, die ihm gehörten, an einer Uferstelle des Hudson läßt fast vermuthen, daß er in einem Anfalle von Hypochondrie sich das Leben genommen hat.

Ackermann und Louis waren während dieser Mittheilungen wieder zu dem Wohnhause zurückgekehrt. Louis, vertieft in die Möglichkeit, daß sich Ackermann und Morton begegneten. Er merkte kaum, daß ihnen ein Kind entgegengesprungen war und gerufen hatte:

Selma's Stunde ist aus! Zum Essen, Onkel!

Ackermann bemerkte, daß diese Kleine dem Pfarrer von Plessen Herrn Guido Stromer gehörte und von ihm und Selma auf längere Zeit in den Ullagrund genommen wurde. Wäre sie lange genug da, so käme ein andres von den Kindern an die Reihe und Alle müßten ihn Onkel nennen, damit die armen Kleinen, die einen Vater hätten und doch auch wieder keinen, an Menschenliebe nicht[2425] irre würden. Von Oleander bemerkte Ackermann, daß er seiner Tochter täglich Stunden gäbe und ihn als einen sinnigen, vielleicht zu bescheidenen und träumerischen Menschen schätzen müsse.

Die kleine Hedwig, so hieß Stromer's zweite Tochter, die gerade jetzt an der Reihe war, im Ullagrunde weilen zu dürfen, zog den Onkel in das Haus und in die Thür, die neben der zu Ackermann's Zimmer führenden lag. Geöffnet bot sie den Anblick eines zwar niedrigen, aber traulichen Wohnzimmers. Alle Möbel, von Kirschbaumholz, waren neu und stachen mit ihrem blassen Glanze gegen die dunkle Färbung der Wände angenehm ab. Ein großer Flügel stand aufgeschlagen. In der Mitte des Zimmers war ein runder Tisch gefällig gedeckt. Im Ofen prasselte ein belebendes Feuer. Am Fenster stand ein Nähtischchen für Selma. Über ihm hing ein Bücherbord mit zwei Reihen englischer und deutschen Classiker. Im Eck stand ein Fachwerk mit bronzenen und gläsernen Nippsachen. Es schienen langgesammelte Andenken. Manches war ohne Zweifel vom Transport zerbrochen, stand aber doch wie eine heilige Reliquie, wohlgeordnet, unter allerhand kleinen scherzhaften Spielereien.

Oleander, der am Bücherborde in einem Goldschnittbändchen blätterte, grüßte die Ankommenden.

Da steht ja schon die Suppe! sagte Ackermann. Wo ist Selma?

Sie zieht ein schön'res Kleid an! verrieth Hedwig Stromer.[2426]

In dem Augenblick öffnete sich das Nebenzimmer und Selma, hocherröthet, sich gegen Louis leicht verneigend und um Entschuldigung bittend ob der Verzögerung, trat herein und gab, sogleich einen Stuhl ergreifend, das Zeichen, daß man sich zu Tische setzte.[2427]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 2391-2428.
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