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[518] Nicht die unglückliche Liebe ihres Bruders allein war es, was in den folgenden Tagen die schönen Töchter des Landschaftskonsulenten Lanbek ängstigte; nein, es war das sonderbare und drückende Verhältnis, das zwischen Vater und Sohn zu herrschen schien, was die vier schönen blauen Augen im stillen so manche Träne kostete. Man konnte nicht sagen, daß sie sich finster angeblickt, mürrisch gefragt oder kalt geantwortet hätten; aber dennoch sah man ihnen beiden an, daß Gram und Sorgen sie beschäftigten, und die Mädchen wurden immer wieder in ihren Vermutungen über den Grund dieses Grämens irregeleitet, wenn sie zuweilen den alten Mann und seinen Sohn in einer Fensternische beisammenstehen und zutraulicher, aber auch ernster als je zusammen flüstern sahen. Endlich wurden sie sogar für drei Abende in der Woche förmlich aus dem großen Familienzimmer, das winters allen zum Aufenthalt diente, verwiesen, und, was ihres Wissens nie geschehen war, Papas kleines Bibliothekzimmer wurde ihnen für solche Abende besonders geheizt, und ihnen die Erlaubnis gegeben, sich an den trefflichen Juristen und Philosophen zu amüsieren.

Freilich bedachten bei solchem Exil weder Vater noch Sohn, daß man von der Bibliothek im obern Stock in das Studierzimmer, von diesem in das Gastzimmer und von dem Gastzimmer in die sogenannte Rumpelkammer kommen könne, von welcher eine viereckige Öffnung, mit einem kleinen Deckel versehen, in das Wohnzimmer hinabging, um Luft oder Wärme in dieses Gemach zu leiten; sie bedachten auch nicht, daß weibliche Neugierde wohl noch stärkere Schranken durchbrochen haben würde, als diese, die zwischen jener Kammer und der Bibliothek lagen. Einige Abende hatte übrigens doch ein noch mächtigeres Gefühl als Neugierde die Mädchen in der Bibliothek zurückgehalten, nämlich Furcht. Hedwig behauptete, schon öfters oben in jener Kammer Fußtritte und ein schreckliches Stöhnen gehört zu haben, und dem schönen Käthchen graute dort hinzugehen, weil jenes Gemach nur eine dünne Wand aus Holz und Backsteinen von den Zimmern des gefürchteten Juden Süß trennte.

Eines Abends jedoch, als man die Mädchen schon längst weggeschickt hatte, sah Käthchen, die sich bis auf die Mitte der Treppe hinabgeschlichen hatte, drei Männer bei ihrem Vater eintreten, die ihre Neugierde aufs Höchste trieben. Der erste, der[518] sich langsam und schnaubend die untere Treppe heraufschob und auf der Hausflur einige Minuten stehenblieb, um Atem zu sammeln, war niemand Geringeres als der lutherische Prälat Klinger. Seine schneeweiße Perücke, seine Prälatenkette, die gerade auf dem Magen ruhte, und seine alten, verwitterten Züge flößten dem Mädchen ungemeine Ehrfurcht ein; ihm folgte hastigen Schrittes der Obrist und Stallmeister von Röder, ein Mann, den man für sehr klug und tapfer, aber zugleich auch in seinen Sitten für sehr unheilig hielt, und über den dritten hätte sie beinahe laut aufgelacht, es war der fröhliche Kapitän Reelzingen, der so drollige Geschichten und Schnurren zu erzählen wußte, und sie schon auf manchem Ball beinahe zum Lachen gebracht hatte. Heute hatte er sein Gesicht in ganz ehrbare Falten gelegt und sah gerade aus wie damals, als er ihr auf parole d'honneur schwur, daß er sie vraiment liebe. Sie sah ihm lächelnd nach, bis sein ungeheurer Degen in der Türe verschwunden war, und eilte dann in das Bibliothekzimmer, wo sie die blonde Hedwig traf, welche die Augen fest zugeschlossen hatte, um nicht über ein Gespenst zu erschrecken, wenn etwa zufällig eines in der Bibliothek auf und ab wandelte. »Heute müssen wir hinuntergucken!« erklärte Käthchen, »und komm nur jetzt gleich mit; denke dir, die Leute kommen hier zusammen wie beim Karneval. Hast du je sonst den Prälaten Klinger und den Kapitän Reelzingen in einem Zimmer gesehen, und dazu den Obrist Röder und –« setzte sie hinzu, als die Schwester zauderte – »ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht, als die Türe einmal aufging, auch Blankenberg gesehen hätte.«

Dieser letzte Name entschied; Käthchen nahm das Licht und ging mit pochendem Herzen voran, Hedwig folgte ihr, so nahe als möglich an die mutigere Schwester gedrängt, und als jene die verhängnisvolle Kammertüre aufschloß, hielt sie sich fest an ihrem Kleide. Die Öffnung war gerade über dem Ofen des Wohnzimmers, das einen Stock tiefer lag, angebracht, und Käthchen konnte, als sie die Klappe aufzog, selbst wenn sie sich auf die Kniee legte und den Kopf tief herabbeugte, doch nicht mehr als vier oder fünf der versammelten Männer sehen; auch Hedwig beugte sich jetzt herab und versuchte es, noch tiefer zu blicken als ihre Schwester, aber verdrießlich stand sie wieder auf und sagte: »Nichts als den breiten Rücken des Prälaten, einige Perücken und die Uniform des Obristen kann ich sehen; weißt du denn gewiß, daß Blankenberg zugegen ist?«[519]

»Sicher!« erwiderte Käthchen, schalkhaft lächelnd. »Doch laß uns horchen was sie sprechen, vielleicht kennst du deinen Liebhaber an der Stimme.«

Sie setzten sich auf den Fußboden neben der Öffnung und lauschten; die angenehme Wärme, die von dem Ofen heraufdrang und ihre Neugierde ließen sie eine Zeitlang die empfindliche Kälte der Märznacht vergessen; endlich richtete sich Hedwig unmutig auf. »Meinst du, wir werden klug werden aus diesem Geplauder, wovon man nur die Hälfte versteht? Sie schwatzen wieder, wie immer, vom Wohl des Landes, vom Herzog, von Süß, von allem; was geht das uns an! Komm! es ist gar schaurig hier und kalt. Mädchen, so steh doch auf!«

Aber Käthchen winkte ihr zu schweigen; man hörte jetzt eben den Obrist Röder mit bestimmter und vernehmlicher Stimme etwas vorlesen, die tiefe Stille umher unterbrach nur zuweilen ein schnell verrauschendes Murmeln des Unwillens. Jetzt sprach der alte Lanbek; Käthchens fröhliche Züge gingen nach und nach in Staunen und Angst über, endlich, als die Männer unten wieder laut, aber beifällig zusammen sprachen und die Gläser anstießen, flog eine hohe Röte über das schöne Gesicht des Mädchens, ihre Augen leuchteten, als sie vorsichtig die Klappe schloß, die Lampe ergriff und mit ihrer Schwester den Rückweg einschlug.

»Hast du was verstanden?« fragte Hedwig; »du schienst auf einmal so aufmerksam; was haben sie denn Besonderes gesprochen?«

»Ich weiß nicht alles, ich kann nicht alles sagen«, erwiderte Käthchen nachdenkend; »mir ist's, als hätte mir alles geträumt. Höre – aber schweig! es könnte uns alle unglücklich machen. Das sind gefährliche Menschen in Vaters Zimmer unten. Mir graut, wenn ich daran denke, was daraus entstehen kann.«

»So sprich doch, einfältiges Kind! ich bin zwei Jahre älter als du, und du sollst keine Geheimnisse vor mir haben.«

»Denke dir«, fuhr Käthchen mit leiser Stimme fort, »der Süß will uns katholisch machen und die Landschaft umstürzen; da verlöre der Vater und alle andern verlören ihre Stellen!«

»Katholisch!« rief Hedwig mit Entsetzen, »da müßten wir ja Nonnen werden, wenn wir ledig blieben? nein, das ist abscheulich!«

»Ach, warum nicht gar«, erwiderte Käthchen, lächelnd über den Jammer ihrer Schwester, »da müßte es viele Nonnen geben, wenn alle, die keine Männer bekommen, ins Kloster gingen; aber[520] sei ruhig, es kommt nicht so weit. In drei Tagen, sagte Röder, werde der Herzog verreisen, und während er in Philippsburg ist, wollen die Männer da unten den Juden und alle seine Gehülfen im Namen der Landschaft gefangennehmen, und dann dem Herzog beweisen, wie schlecht seine Minister waren.«

»Ach Gott, ach Gott! das geht nicht gut«, sagte Hedwig weinend; »alles werden sie verlieren, denn der Herzog traut allen eher als denen von der Landschaft; ich weiß ja, was mir einmal die Obristjägermeisterin über den Vater sagte. Du wirst sehen, es geht unglücklich!«

»Und wenn auch«, antwortete Käthchen, »so sind wir die Töchter eines Mannes, der, was er tut, zum Besten seines Vaterlandes tut. Das kann uns trösten.« Das mutige Mädchen holte aus dem Schranke eine mit vielen schönen Kupfern geschmückte Bibel. Sie gab der weinenden Schwester das Neue Testament, um sich an den Kupfern und Reimsprüchen zu zerstreuen. Sie selbst schlug sich das Alte Testament auf. Sie verbarg ihre eigene Besorgnis um ihren Vater unter einem Liedchen, das sie leise vor sich hinsang, während ihre schönen Finger emsig die vergelbten Blätter von einem Bilde zum andern durcheilten.

Quelle:
Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 2, München 1970, S. 518-521.
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