Fünfte Szene.

[18] DER GENDARM steht plötzlich vor der Schwelle, indem er die Tür aufstößt. Nun ... was wird denn hier? ... was geht hier vor?

DIE ALTE RASCHKE. Ach, lieber Herr Wachtmeister ... der alte Mann hat den ganzen Tag nichts gegessen ... und der Hunger macht den alten Bocksbart ... oh Jemersch ... Jemersch ... der alte Mann ist fünfundsiebenzig Jahre ... und ich bin auch ein lahmes, elendes Weib ... und wir haben gehungert und gehungert ... und haben nicht gedacht, daß wir einmal würden Krähenbraten verschlingen müssen, um unser Elend stille zu machen ...


Der alte Raschke hat sich neu auf den Arbeitsstuhl gesetzt, seine Handwerkszeuge ergriffen und bindet weiter Besen, dem Gendarmen nur dann und wann gehässige Blicke zuwerfend.


DER GENDARM. So ... Krähenbraten ... das sieht sehr verlockend aus ... ich will gar nicht untersuchen, ob es nicht etwa gestohlene Tauben sind ... es sind ganz andere Dinge gestohlen worden ... es sind ganz andere Sachen vorgefallen ... nun ... Raschke ... wie ist es denn damit? ... gesteht es nur lieber gleich ...

DIE JUNGE RASCHKE. Ihr seid wohl der heilige Gottseibeiuns ... Ihr wollt wohl die Unschuldigen versuchen?[19]

DIE ALTE RASCHKE. Oh Jemersch ... Jemersch ... der alte Mann ist fünfundsiebenzig Jahre alt geworden in diesem elenden Jammertale ... und ich bin Ihnen auch schon so alt und schwach, Herr Wachtmeister ...

DER ALTE RASCHKE. Rede nicht in den Mann ein ... der Mann beleidigt uns ... der geht uns nichts an ...

DER GENDARM. Hört mich einmal an, Raschke ... ein alter, gehässiger Schurke seid Ihr ... da kennen wir uns doch ... blickt nur einmal zurück auf Euer Leben ...

DER ALTE RASCHKE. Wer zurückblickt, wird zur Salzsäule ... lassen Sie mich in Frieden mit den Geschichten, die die Zeit längst eingeschluckt ... und der Mensch vergessen hat ...

DER GENDARM. Raschke ... Ihr habt doch noch eine Enkeltochter?

DER ALTE RASCHKE. Ein Staatsmädel ... ja ... du gibst ihm keine Antwort, Sohnesweib ... der Pastor hat sie zum Konfirmationstage bekleidet ... der Lehrer hat sie immer zum Aufwaschen der Schulstube mit zugelassen ... so brauchbar und gewissenhaft wie die war ... heute verdient sie sich ehrlich und mühsam ihr bissel Gelumpe unten in der Holzfabrik ...[20] nun möcht' ich nur wissen, wen das was angeht, ob ich eine Enkeltochter hab' oder nicht?

DER GENDARM. Wo ist denn Euer Sohn?

DIE ALTE RASCHKE ängstlich. Ja ... wo ist denn der Hermann?

DIE JUNGE RASCHKE. Mag er sein, wo er will ... hier ist er nicht ...

DER GENDARM. Wißt Ihr es auch nicht, Raschke?

DER ALTE RASCHKE. Was geht mich der Sohn an?

DER GENDARM. Wo war er denn gestern abend?

DIE ALTE RASCHKE. Lieber himmlischer Vater ... war er denn gestern abend irgendwo?

DER GENDARM. Jaja ... sicherlich war er irgendwo ...

DIE JUNGE RASCHKE frech. Nun freilich wird er irgendwo gewesen sein ...[21] nein, Mutter ... laß dich nur nicht mit dem Manne ein ...

DER GENDARM weil der alte Raschke seine Hantierung unterbrochen hat und mit der Axt in der Hand gespannt dasitzt. Raschke ... nun werde ich Ihnen was sagen ... nun legen Sie einmal erst Ihre Axt aus den Händen ... aber rasch ... ohne viel Flausen ... und legen Sie auch Ihr Schnitzmesser aus den Händen ... immer attent ... Sie kennen mich doch ... und nun setzen Sie sich einmal dort hinter die Tischecke ... nämlich ... wenn Sie auch nur die geringsten Sprünge machen ... Sie kennen doch das Ende Ihrer gehässigen Wut ... bringen Sie sich nicht erst noch ins Zuchthaus, wo Sie das Gefängnis schon gut kennen ... ich fackle nicht lange ... hier liegen die Fesseln ...

DIE ALTE RASCHKE wie der Besenbinder zögert. Ach, Vater ... nein ... mach' nur ... widersetz' dich nur ja nicht ...

DIE JUNGE RASCHKE. Ich möchte nur wissen, was Sie von uns wollen? ... eine Kunst, den Alten einzuschüchtern ... wenn man einen großmächtigen Säbel an der Seite hängen hat ... und mit Ketten rasselt, die einen Bullen feste machen könnten ...


Der alte Raschke hat seinen Sitz hinter der Tischecke widerwillig eingenommen.
[22]

DER GENDARM. Nun ... rasch die Kasten auf ...

DIE ALTE RASCHKE. Du meine Himmelsgüte ... lieber Herr Wachtmeister ...

DIE JUNGE RASCHKE am Kasten kniend und alles mögliche herauswerfend. Hier ... hier ... Lumpen ... Lumpen ... noch was ... Lumpen ... immer nur Lumpen ... ein Bild ... man sieht nicht mehr was drauf ist ... weil wir in einer Räucherkammer leben, wo Mensch und Sache schwarz anlauft ... hier, eine Zigarrenkiste ... aber nur ein paar Pfefferkuchenbildel vom Tallsakmarkt drinne ... die Pfeffermänner haben wir schon verschlungen ... Lumpen ... immer Lumpen ... ein Schlüssel ...

DER GENDARM. Wozu ... das ist doch ein Schlüssel zu einem großen Tore oder so?

DIE JUNGE RASCHKE. Ein Schlüssel zum Himmelreich, Herr Wachtmeister ... denn sonst wüßt' ich im Augenblicke selber nicht ...

DER GENDARM. Schon gut ... schon gut ... ich sehe schon ...


Er blickt sich unschlüssig um.


Ihr habt doch oben noch eine Kammer?[23]

DIE JUNGE RASCHKE. Ach du himmlischer Vater ... in der Hundehütte die Kammern ... die stehen offen wie die Kalklöcher ... daß wenigstens der Schnee und der Regen 'rein kann, wenn die Leute drinne nichts zu fressen haben ...

DER GENDARM. Kommt ... zeigt mir Eure Kammer ... nämlich ... es ist wieder einmal ein großer Einbruchsdiebstahl verübt worden ... der Keller vom Gasthause ist die vergangene Nacht ausgeraubt worden ...

DIE JUNGE RASCHKE indem sie mit dem Gendarme verschwindet. Lachend. In einem solchen harten Winter ... ich glaub's ...

DER ALTE RASCHKE. Das kann man gerne glauben ...

DIE JUNGE RASCHKE im Verschwinden lachend. Da möchten uns die großen Schinken und Leberwürste auch schmecken ... ich kann's den Leuten, die dazu Mut haben, nicht verdenken ... Ab.


Man hört den Gendarm und die junge Raschke über die knarrende Treppe hinauf auf den Boden trappen.


Quelle:
Carl Hauptmann: Die armseligen Besenbinder. Leipzig 1913, S. 18-24.
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