Fünfte Szene

[250] DER DOMORGANIST kommt. Verbohrt. Stumm. Hastig. Innerlich. Nimmt Notenblätter vor. Spricht stoßweise. Alles ... alles ... muß im Blute angreifen ... nicht an den Händen ... alles ... muß in der eigensten Höhle angreifen ... nicht bloß draußen ... unter den Fenstern ... Starrt auf das vorbereitete Notenblatt. ja doch ... Geduld, Blut ... ich komme ... ich bin schon da ... laß es Aufruhr sein ... laß die Monde an zehn Himmeln zerspringen ... einstürzen ... alles, was draußen lebt ... die Sterne einstürzen ... toll durcheinander ... wie satanischer Spielkram ... durch Urfinsternisse ... laß ganze Horden und Schwärme sich jagen ... Urnacht ist immer ... Chaos ist immer ... jedes einsame, einzelne Ding und Wesen ... muß hindurch ... oh du Jammergeburt ... heraus aus dem Chaos ... hoch ... im scharlachnen Glanzkleid ... du König »Mensch« ... Geißeln und Schwerter peitschen genug ... da ... Er schreibt beständig. sausen und gellen genug ... juchheet nur ... mindestens zwanzig Celli im Untergrunde, wenn Posaunen und Trompeten juchheen und zetern ... Lacht. die Flöten quieken wie eine Herde vom Teufel[250] besessener, schwarzer Schweine ... Geigen ... nur Geigen heran ... nur Geigen heran ... Ganz leise. leise Stimmen ... aus den Gegenden, wo im Weltall Gott seine Zuflucht im Licht hat ... jaaa ... Urnacht ist immer ... Er schreibt leidenschaftlich. Chaos ... ungeheuerliche Verfinsterungen ... wer kann die Furchtbarkeit dieser Finsternisse von Plagen durchdringen ... diese eklen Mücken- und Fliegenschwärme ... Wanzen ... Läuse ... wer kann es ... aufwärts ... aufwärts ... ungeheuerliche Verfinsterungen ... was bin ich ... doch nur ein Domorganist ... Hetzend. habe nur Tasten ... Posaunen und Schreie ... Lacht. wie soll ich die Herde Säue zum Tanzen bringen ... wie soll ich die wiebelnden Haufen beschwören ... bin einzeln ... und wund ... und geschlagen ... man klappert vor Frost ... Er hält inne und besieht das Geschriebene. Leise. staune ... Lacht. der Tag der Buße ist wieder verglommen ...


Georginel enthüllt sich langsam. Gespannt horchend. Völlig bestürzt.


DER DOMORGANIST völlig in sich. Singt und murrt während des Schreibens. Schlägt den Rhythmus mit Fuß oder Faust. Urnacht ... achhei ... Urnacht ... juchheet nur ... Dämone ... im Blute ... neieiein ... ich versinke noch nicht ... Er schreibt wieder hastig. kann nicht hindurch ... kann nicht zu Gott ... kann nicht aufwärts ... die Aufgabe ist ja riesenmäßig ... Jahrtausende ringt der Mensch ... ich muß ... ich muß ... dennoch ... dennoch ... ein Lichtstreif ... ganz ferne ... juchheet nur ... wiehert nur ... pfeift nur ... ich muß ... ich muß ... es gelingt jetzt ... die Urnacht wird dünner ... Wehelaute ... rasende, heulende Wehelaute ... ich muß ... ich muß ... Geigen ... immer mehr feine Geigen ... immer mehr feine Geigen ... träufelnde Harfentöne ... immer mehr hell träufelnde Harfentöne ... von weither ... aus den Gegenden, wo im Weltall Gott seine Zuflucht im Licht hat ... wo der Hirte der Goldwolken auf einsamem Felsen im Lichte über den Räumen ragt ... in den Weltgrund hinein träumt ... Herden von Goldwolken weiden ... oooh ... wo ist das Land ... Schalmeien ... Schalmeien ... Morgenstimmen ... leiser Jubel der Morgenstimmen ... oooh ... wie begreif ich das Lied ... wenn die Urnacht schwindet ... schwindet ... sie[251] schwindet ... verhallt ... Urnacht verhallt ... alle Plagen der Erde vergrollen ... die Pauken verdröhnen ... gewaltig ... wie dumpfe Mörser ... die Posaunen zerbrechen ... die Trommeln murren nur noch ... die Hoboen versummen ... wie Hummeln im Sommerwinde ... in Düften von Klee ... Kindlein ... am Wiesenrain säuseln und kichern ...

GEORGINEL hat sich immer höher erhoben. Immer glückseliger starrend. Leise für sich. Jetzt singt auch mein Blut ...

DER DOMORGANIST noch völlig im Schaffensfieber. Ganz leise. Das Geschriebene betrachtend. Und strömst du nicht doch aus meinen vergänglichen Freveln und Schanden ... da ... eine singende Menschenstimme ... oooh ... oooh ... oooh ... du ... einzelne ... einsame ... singende Menschenstimme ... du ... Menschenfrühling ... glückselige Zärtlichkeit ... der Unschuld Gelächter ... du süße Lockung ... dein Name ist Weib ... ewig zum Opfer geschmückt ... du Wächterin über Fieberschlummer ... du trotziges Vertrauen auf das Vergängliche ... du Löwenmut in Todesgefahr ... jetzt ... jetzt ... halle dein Trostlied ... Starr plötzlich in die Schrift hinein sinnend. das wird jetzt ... von allen Tönen der Wehmut umkränzt und durchsilbert ... ja ... Wieder schreibend. aus dem stinkenden Dungreiche meines Ackers steigt jetzt ein neues Werk auf ... aus allen Martern ... aus allen Sehnsüchten meiner Seele entkreißt neues Werk ... ruft ... jauchzt ... jetzt wird göttliche Durchsichtigkeit ... heller ... noch heller ... jetzt aufblüht schier unmögliche Güte ... Sonne ... Sonne ... Sonne ... steigt ... steigt ... Wölfe ... Antilopen ... Kamele ... Hyänen ... Schafe ... die Völkerhorden ... die Kreaturen ... grüßen schreiend zur Sonne hin ... Bedächtig. die Löwen brüllen wie die Glocken der Münster ... ha ... das ist der Schlußchor ... jaaa ... jaaa ... jaaa ... ha ... wenn zum ersten Male die neuen Gewalten ertönen ... Immer hastiger. ich schwitze über und über ... die Glieder schlagen mir förmlich vor Angst ... ich muß das Unmögliche greifen ... oooh ... daß ich diese Gewalten nur einmal halte ... für ewig ... dieses Einmal ... dieses Einmal ... Er lacht wieder. nur einmal ist jeder Mensch geboren ... ein andermal wird man 's nit zulassen ... Er wirft Blätter beiseite.[252] Ein Blatt fällt zu Boden. entflattere ... in die Mühsal der Welt ... Er lacht wieder. eine ganze Götterpracht potentatischer Töne soll jetzt aus meinem Blute entflattern ... lösen die Mühsal der Welt ... tönen ... tönen ... lösen die Mühsal der Welt ... jubilieren ... jubilieren ... das ist der Schlußchor ... ha ... ha ... ha ... jaaaa ... jaaaa ... jaaaa ... jaaaa ... jaaaa ... Er schreibt wie irrsinnig. Dann leise. Amen ... Amen ... Sich immer steigernd. Amen ... Er starrt auf das Geschriebene. basta ... basta ... Er schleudert die Feder auf den Boden. basta ... Er ist ganz in sich. Starrt tief in das Geschriebene. Will sich aufrecken. Blickt wieder zurück. Tut vor sich hinlachend einen Schritt. Setzt sich an den Flügel. Legt die Hände auf die Klaviatur. Lacht stumm. Sinkt in sich. Blickt gen Himmel. Ganz leise. vor über ... vorüber ... Ruhe ... komme, Ruhe ... das Blut flattert und zuckt noch ... Pause. Plötzlich zärtlich rufend. Mutter ... Vor sich hin. hundertmal hat mir die Mutter vergeben ... hunderttausendmal wird mir die Mutter vergeben ... fort die Zerrüttung ... irdisches Dasein ... irdische Nacht ... irdische Einsamkeit ... irdische Enge ...

GEORGINEL sich behutsam zuneigend, gleichsam um besser zu hören. Ohne sich im übrigen zu rühren. Mit weiten Augen lachend. Dazu brennt der Liebe Goldlicht ...

DER DOMORGANIST vor sich gebeugt. Ohne Acht. Ooooh ... Gorginel ... Menschenfrühling ... ewig zum Opfer geschmückt ... Heimat der Wärme ...


Georginel hat sich während seiner Worte, von innerem Vergnügen erfüllt, wie frierend vor Freude, die Arme ineinander pressend, das Tuch fest um die Schultern gezogen.

Plötzlich tritt Tiefdunkel ein.

Wenn das Dunkel schwindet, hört man wie ferne Sturmstimmen heulen und brausen. In Wolken ragend hebt sich eine goldene Riesenorgel, etwas zur Linken, von Sonne beleuchtet, aus dem Dunkel heraus.

Der Domorganist davor sitzend. Starr und vertieft in sich. Auf den Notenhalter gebeugt. Die Hände

ganz ruhig auf den Tasten. In sich horchend.

Unterdessen die Orgel geisterhaft und fern immer reicher in die Sturmstimmen hineintönt. Köpfe im Dunkelraume vorbeijagen. Einzeln und in Scharen. Mensch, Tier, Chimären, Fratzen, Teufel.
[253]

EINE STIMME im Raum eindringlich rufend. Josua ...

ANDERE STIMME. Meister ...

ANDERE STIMME. Jubiliere ... jubiliere ...

EINE DUNKLE STIMME. Frage nach keiner Erdenstimme ...

ANDERE STIMMEN durcheinander. Jubiliere ... jubiliere ...

DIE DUNKLE STIMME. Die Abgründe sind weit aufgetan ...

DIE HELLEREN STIMMEN. Jubiliere ... jubiliere ...


Der Domorganist stöhnt auf.


EINE SCHAR JÜNGLINGSKÖPFE vorbeiziehend. Kühn sei ... kühn sei ...

ANDERE JÜNGLINGSKÖPFE. Wenn der Weltwind aus den Abgründen bläst ...

ANDERE JÜNGLINGSKÖPFE. Kühn sei ... kühn sei ...

HELLERE STIMMEN. Jubiliere ... jubiliere ...

DER DOMORGANIST. Oooh ... wär ich berufen ...

EINE SCHAR KINDERKÖPFE vorüberjauchzend. Hell. Der Abgründe Harfe zu schlagen ...

ANDERE STIMMEN. Zu blasen des großen Morgens helle Posaunen ...

DUNKLE STIMMEN. Musiker du ... Magier du ...[254]

DER DOMORGANIST plötzlich die Augen erhebend. Leidenschaftlich. Gib ... gib ... gib ...

EINE ANDERE SCHAR KINDERKÖPFE. Jauchzendes Blut in verdorrtes Gebein ...

ANDERE STIMMEN. Tönen ... schütte blühendes Tönen aus deinen Händen ...

ANDERE STIMMEN. Gib Gewißheit ...

ANDERE STIMMEN. Gib Gewißheit ...

ANDERE STIMMEN. Gib Lobgesänge ...

VERHALLENDE STIMMEN. Gib Lobgesänge ... gib Lobgesänge ...


Die Erscheinungen versinken dabei immer mehr ins Dunkel. Noch der Domorganist sichtbar. Dann nur die goldene Riesenorgel. Deren Ton immer ferner und ferner einsinkt.


EINE KINDERSTIMME ruft aus den jagenden Dunkelwolken ganz hell und freudig. Und ob du gleich wanderst im finsteren Tal ...

Der Vorhang fällt.


Quelle:
Carl Hauptmann: Die goldnen Straßen. Leipzig 1918, S. 250-255.
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