Erster Vorgang

[175] Ein reich ausgestattetes, weites Atelier des Meister Tibaldi. Diener sind geschäftig, die Staffeleien und mancherlei Malwerk beiseite zu bergen. Einige sehr helle Entwürfe von phantastischen Aufzügen stehen an der Wand. In der Tiefe sind weite Flügeltüren geöffnet, wodurch man in eine Flucht festlich dekorierter, vornehmer Räume hindurchblickt. Auch da sieht man einige Bedienstete geschäftig. Zur Rechten und zur Linken je eine Tür. Alle Türen sind mit schweren Vorhängen versehen. Liegesofa und schwere Stühle stehen herum auf allerlei Pelzwerk. Innerhalb des weiten Raumes etwas tiefer links führt eine Rundtreppe mit Schnitzwerk in ein oberes Gelass.

Ein kleiner, buckliger Diener, Namens.


HUNGER schreitet selbstbewusst besichtigend aus den tieferen Räumen heran. Er hat einen leinenen Kittel an und eine blaue Arbeitsschürze vorgebunden. Er ist bis ins Atelier gekommen. Macht nur bloss, dass Ihr hier im Atelier, fertig werdet. Der Meister kommt schon die Treppen herauf.


Zwei Diener sind gerade im Begriff eine grosse Tafel in einen Wandschrank zu schieben.


HUNGER steht unruhig dabei. Herr Jesus, da macht doch nur! Meinetwegen[175] könnt Ihr das übrige noch vollends in Ordnung bringen, wenn sich der Herr für den Fasching anzieht ... rasch! ... nur rasch! ... na ja!

MEISTER TIBALDI ist von rechts hereingetreten. Er ist ganz achtlos. Er hat eine, beschäftigte, verhärmte Miene, sein bartloses Gesicht ist bleich. In die Diener ist sofort eine Verwandlung zu stummer Devotion gekommen. Sie versuchen auf Zehen zu gehen. Hunger treibt sie verstohlen an.

MEISTER TIBALDI der in Pelz, Zylinder und mit Schirm und Galoschen eingetreten ist, geht lässigen Schrittes bis zum Tisch wo er unschlüssig dasteht. Er spricht leise. Schicke die Leute hinaus! Dass wenigstens hier noch Ruhe bleibt ... dass mir wenigstens der Faschingswahnsinn noch diese eine Zuflucht lässt!


Er studiert gleichgültig einige Zettel auf dem Tisch und wirft sie dann beiseite; Die Arbeiter verschwinden in den Nebenraum.


MEISTER TIBALDI. Zum Teufel ... die Vorhänge zu ... nein nein, zuerst die Tür zu.


Er beginnt mit Kreide auf einen Karton eine Frauensperson zu reissen.


Das sanfte, erstaunte Gesicht mit dem kühlen[176] Blick ... und die schlanke Nase ... und der weite Schleierhut ... der Schleier in grosser Schleife gebunden unter dem Kindskopf.


Er hält es Hunger hin.


Da ... wer ist das?

HUNGER lacht. Nun ... das werd ich doch wohl erkennen ... Herr Professor.

MEISTER TIBALDI zeichnet wieder. Und die Hand raffte das Falbelkleid genau, wie es meine Tochter tut ... ganz genau so ...


Nun meditierend.


Aber es war doch kein Kind mehr. Es war, doch offenbar eine ganz erwachsene Person ... ja ...


Er zeichnet wieder.


Und dieser Mensch, der gerade um die Ecke verschwand ... diese vornehme Kreatur im dicken Sackmantel ... Wer? ... Wie käme denn nur um Gotteswillen Ranke ...? ... Ist meine Tochter zu Hause? Ist Ranke zu Hause?[177]

HUNGER in arglosem Erstaunen. Das kann doch gar nicht anders ... glaube doch natürlich ganz sicher ...

MEISTER TIBALDI. Ist meine Tochter zu Hause? ...War meine Tochter zu Hause?

HUNGER will eilig die Treppe hinauf laufen.

MEISTER TIBALDI dumpf und hart. Gott bewahre ... bleibe hier!


Er hat Hut und Schirm hingehalten, und Hunger hilft ihm gleich danach den Pelz abtun. Er ist in Frack mit Ordensband, tritt an den Tisch heran, und durchblickt einige Karten und Zettel.


Du wirst doch nicht das arme, unschuldige Ding stören mit meinem verfluchten Misstraun!


Er schüttelt sich, als ob er fröstelte, geht hin und her.


Na also ...


Er versinnt sich wieder. Dann plötzlich.


Ah! – fort damit! Blödsinn –! Es ist ja doch der reinste Wahnsinn, den es mir jetzt immer vormacht!


Einiges auf dem Tisch nebenbei betrachtend.


Wie ist es? Wer kommt alles?[178]

HUNGER selbstgefällig. Wer sollte denn nicht kommen, gnädiger Herr, wenn bei uns der Fasching ist?

MEISTER TIBALDI. Kommen die ledigen. Weiber?

HUNGER. Nun die, erst recht, gnädiger Herr.

MEISTER TIBALDI sinnt wieder einen Augenblick auf die hingeworfene Skizze. Ja mein Gott ... Hast du Tantchen ... hast du dem alten gnädigen Fräulein ausdrücklich ...?

HUNGER sehr vertraulich. Dem alten, gnädigen Fräulein liegt viel zu sehr selber daran, unser junges Fräulein Tochter in seinen Schutz zu nehmen, wenn bei uns dieser grosse Ball ist. Die alte, fromme Dame hat ja doch einen zu grossen Widerwillen wider den ganzen Fasching ... weil es zu Choralmusik und Kirchgange nicht stimmen kann, solches Maskengetümmel ... sagte das alte, gnädige Fräulein ... und auch überhaupt, weil[179] sehr viele Gefahren dabei wären für einen reinen, keuschen Menschen ...

MEISTER TIBALDI hat sich verdrossen in einen Lehnstuhl geworfen, ohne zu hören und besieht wieder den Karton. Für sich redend. Die Hand raffte das Falbelkleid genau wie es meine Tochter tut ...


Er ist plötzlich in grosser Unruhe aufgesprungen und geht erregt hin und her.


Es könnte mich völlig in Raserei versetzen, wenn ich es erleben müsste, dass so irgendeine freche Lebensgier nach dem jungen, geheiligten Leben meiner Tochter Ranke ... heimlich ...

RANKE ruft von oben, indes die sechzehnjährige sanfte Tochter Tibaldis langsam die Treppe herabkommt. Ach, Vater! bist du schon da?

MEISTER TIBALDI ist wie umgewandelt in Freudigkeit und staunt sie an, wie sie Schritt für Schritt die Stufen etwas ängstlich niedersteigt. Hunger, bepackt mit dem Pelz und Hut des Herrn, geht geräuschlos rückwärts mit dem deutlichen Ausdruck in seiner Haltung, dass er jetzt nicht stören dürfe.

RANKE geht auf Tibaldi zu und küsst ihn kühl, während er in seinem beglückten Erstaunen verharrt. Kommst du vom König, Vater?[180]

MEISTER TIBALDI hat des Mädchens Kopf jetzt plötzlich in seine Hände genommen und sagt leidenschaftlich. Meine ... blühende ... reine Ranke!..; mein Kind! ... meine Seligkeit!

RANKE. Gefallen dem König die Bilder?

MEISTER TIBALDI. Welche Bilder, Liebchen?

RANKE. Ist das eine Frage, Vater! Wo du jetzt monatelang nicht Ruhe gefunden! ... Und immer nur ...

MEISTER TIBALDI ihr ins Wort fallend. Ja ja ja ... zwischen diesem bunten Farbenkram dich herum getrieben hast! ... Gott, du geliebtes, reines Kindsgemüt! ... Wie glücklich ich bin, dass ich dich leibhaftig vor mir habe, nicht bloss gemalt! ... Findest du es nicht furchtbar lächerlich, dass man als Mann von Geist nichts Besseres tun kann ... immer,[181] nur zwischen solchem Flitterwerk leidenschaftlich hin und her hantiert, das nur Schein und nicht Wesen ist? ... Nicht einmal so wirklich, wie Blumen, die man hier abreisst und dort hinwirft! ... Natürlich gefällt solche Flitterware dem König. Er muss ja auch immer so gleichsam im Fasching leben, wie ich. Es sind überall nur Schatten ohne Leib ... lockende Gebärden ohne Ton und Stimme ... wer es tiefer suchte, der wäre ein Narr ... Ranke ... das Leben, das mehr ist ... das auf Tod und Leben gelebt ist ... das sich lohnt ... das mit dem letzten Herzblut gelebt ist ... das mit der letzten Sehnsucht gelebt ist, davon man noch träumen möchte, wenn man im Grabe endlich ausruht ... ach ... in solche ewige Gaukelbilder kriecht nichts davon hinein ... solche tolle Phantasielust hat eine schwache, zerrissene Seele, wie der Harlekin. Das Letzte, das Heimliche, das Stillende dringt nicht hinein in solchen ewigen, leeren Fasching.


Während dieser Worte hat Ranke nur wie nebenbei zugehört und auf dem Tische etwas neugierig betrachtet.


Nicht doch! Ich will nicht, dass du mir hier herumkramst.[182]

RANKE. Warum soll ich mir nur nie ansehn, was du dir ansiehst?

MEISTER TIBALDI geht unruhig hin und her.

RANKE. Du willst ja doch ausdrücklich, dass ich immer um dich bin ... und schiltst mich, wenn ich einmal eine Minute länger fortbleibe und mich nicht immer gleich um dich kümmere. Wie du da nur böse sein kannst! ... Na, ich dächte! ... Ich hätte nur jetzt nicht Eier sein sollen ... das hätte doch wieder richtig einen Krach gegeben ... mit Hunger und mit allen Menschen ... Nicht, Vater ...

MEISTER TIBALDI immer noch in Gedanken hin und her gehend.

RANKE. Ach Gott, Vater! ... Was hast du nur wieder? ... Warum quälst du mich' gleich wieder, sobald du herein bist? ... Oh Gott, Gott! ... natürlich, wenn Mama noch lebte ...[183]

MEISTER TIBALDI. Mama? .... Sprich mir nicht von Mama! ... Dazu bist du noch viel zu unreif ... Du weisst, das dulde ich nicht ... Deine Mutter war ... eine Heilige ... jung wie eine Blüte war sie ... an Mama kannst du still denken ... an Mama will ich und du mit stiller Ehrfurcht denken ... an Mama können wir beide emporblicken


Emphatisch.


Wenn deine Mutter, gelebt hätte, wie sie nicht gelebt hat, dann wäre weiss Gott manches anders geworden in unser beider Leben ... Oh ja ... unbegreiflich schön war sie ... eine Hüterin wäre sie gewesen ... eine sanfte, sichere Hüterin des Schatzes wäre sie wahrhaftig immer gewesen ...

RANKE ablehnend. Ich weiss nur zu gut, dass ich mich mit Mamas Schönheit nicht messen kann.

MEISTER TIBALDI. Nein, das kannst du auch ganz und gar nicht. Es kann sich niemand messen mit Mama.[184] Keusch wie eine Blüte war sie. Sie war damals wie eine stille Schönheit in meine ärmlichen Räume eingezogen ... damals, als ich nichts war ... gar nichts war ... ein junger, flammender Mensch einfach, den es nach dem Höchsten drängte ... oh, eine Hoheit lebte in ihrer Jungfräulichkeit ... eine wunderbare, zitternde Stille ... nach nichts Aeusserem fragte die ... ach, eine Zärtlichkeit der, Liebe ohne Mass ... eine Seele wie ein kristallner Stein, so heimlich funkelnd von ihrer einzigen Hingabe


Mit Emphase.


In ihr lebte das Unverbrüchliche, das nur einmal lebt und nie. abirrt.

RANKE hat ein paar Schritte der Treppe zu gezögert. Ich will jetzt gehen, Vater.

MEISTER TIBALDI zärtlichen, verwandelten Tones. Bist du mir böse, Ranke?

RANKE. Ach ... nein worüber sollte ich böse sein, Vater?[185]

MEISTER TIBALDI Dass ich nur immer deine Mutter preise, die du gar nicht gekannt hast! ... die dich gebar und dann hinstarb!

RANKE kühl lachend. Ach ... ja.. Neues weiter ... nun ... das ist ja doch nichts

MEISTER TIBALDI. Ranke! Wenn sie jetzt herein treten könnte, deine Mutter ...


Er hat Ranke in seine Arme genommen und redet das Folgende im Ueberschwang in ihre Augen hinein.


Liebchen! ... Meine einzige Tochter! ... Mein Kind! ... Meine Jugend! ... Meine Reinheit! ... Meine göttliche Stimme! ... Was würde nur Mütterchen sagen? ... Uns beide in ihre jungen Arme schliessen ... Denn sie würde natürlich fast so jung kommen, wie du bist! ...


Er lacht heiter.


Und würde es wohl sehen ... mit ihren stillen, tiefen, unentrinnbaren Augen würde sie es wohl einsaugen, dass du Blut von ihrem Blute und Seele von ihrer Seele bist ... dass du mein Himmel geworden bist ... meine Huld ...[186] mein einziger Frieden ... die einzige, wahre Gabe meines Lebens. Denk bloss, unser Mutterchen, die in voller Jugend käme ... wie eine Heilige ... in unverwelklicher Reinheit und Keuschheit, wie sie immer gewesen ...


Leicht widerstrebend hat sich Ranke aus ihres Vaters Armen sanft gelöst.


MEISTER TIBALDI. Warum errötest du, Kind?

RANKE. Ich ...? ... Vater?

MEISTER TIBALDI. Bis unter deine blonden Haarwurzeln an der Stirn errötest du.

RANKE. Weil du mich drückst, wie ein toller, Liebhaber ... und mir fast wehe tust damit und mit deinen inbrünstigen Geständnissen ...


Es hat an der rechten Tür leicht geklopft.


MEISTER TIBALDI. Ja ja ... nur herein![187]

TANTE CHRISTINE ein graugescheiteltes, leicht gebücktes, sorgfältig und fromm gekleidetes, altes Fräulein, mit sanftem, ehrwürdigem Gesicht, ist etwas asthmatisch eingetreten.

MEISTER TIBALDI. Ach ... guten Abend, liebe Christine!

RANKE für sich. Da kommt natürlich sehr, zur rechten Zeit diese alte, fromme Huzel.

TANTE CHRISTINE. Elf ... zwölf ... dreizehn ... vierzehn ...! Wieviel Stufen sind es bis zu euch herauf ...? ... die mir immer, sauer genug werden ... auch diese schönen, flachen ....vornehmen Stufen durch euer herrliches Treppenhaus. Guten Abend, Tibaldi, guten Abend, Ranke!

RANKE steht unschlüssig, ohne jedes Entgegenkommen.

MEISTER TIBALDI. Nun? ... Willst du nicht Tantchen begrüssen ... Ranke, wie es sich gebührt?[188]

RANKE. Warum kommt sie eigentlich jetzt?

MEISTER TIBALDI gibt Tante Christine einen Wink.

TANTE CHRISTINE. Nun möchte ich nur wirklich wissen ... Du Unband! ...

RANKE. Grade jetzt, zwei Stunden vor dem Balle?

MEISTER TIBALDI. Gehe in dein Zimmer, Ranke! Denn ich habe mit Tantchen etwas Wichtiges zu besprechen.

RANKE. Da sagt es mir doch wenigstens gleich grade heraus und spielt nicht ewig solches dummes Verstecken mit mir! Ich soll wieder hinaus gebracht werden! Nicht? Die jungen und alten Künstler werden sich in unserm Hause ein Fest machen, und ich soll mit Tante Christine gehen, die mir von Jesus, dem Heiland, und Maria Magdalena und Maria Jakobi vorlesen und fromme Ostergeschichten erzählen soll.[189]

MEISTER TIBALDI emphatisch entrüstet. Herrgott ... Kind ... wenn ich es noch einmal so haben könnte! Gleich ein ganzes Arom sonntäglichen Geistes strömt mit deinen Worten herein! Wenn ich sie mir denke, die beiden, jungen, in sich verklärten Frauen, wie sie zu Jesu Füssen sassen, ... wie sie sich seinem milden! Blick und seinem sanften Gespräch ganz hingaben!

RANKE. Ach ... ich lasse mir durchaus nicht gern immerfort nur Hirngespinste vormachen.

MEISTER TIBALDI streng erregt. Ich bitte dich, Ranke, mache mich nicht nervös! ... Es ist doch weiss Gott besser, sich in solche traumhaft-schöne Vergangenheit zu vertiefen, als in die verwilderten Launenspiele beim Fasching! ... Ranke ... für deine Jugend!

TANTE CHRISTINE. Ich werde dir sagen, liebes Kind! Es ist ausserordentlich sonderbar von dir, wie du[190] deinen guten Vater und deine alte Tante behandelst. Wenn ich an deine selige, reine Mutter denke ...

RANKE geht zu Tibaldi hin, zögert und sagt demütig. Sei nicht böse, Papa! Ich will tun, was du willst.

MEISTER TIBALDI sie lange stumm betrachtend.

Ranke


Er reicht ihr die Hand.


Hab Dank, mein Kind! ...

RANKE. Bist du wieder ganz gütig, Papa?


Sie küsst seine Hand.


MEISTER TIBALDI. Nun sage ich nichts weiter! ... Jetzt weiss ich es wieder, dass du deiner Mutter Tochter bist!

RANKE unerwartet ausgelassen, während sie schon nach der Treppe geht. Ich vergebe dir auch, mein liebes, kleines Tantchen![191]

TANTE CHRISTINE ihr nachrufend. Mach dich nur aus dem Staube, lose Hummel! Und sorge du nur hübsch für die Nacht! Denn du wirst ja doch natürlich die Nacht bei mir drüben bleiben müssen.


Ranke ist die Treppe hinauf verschwunden.


MEISTER TIBALDI eindringlich, nachdem er Ranke solange liebevoll nachgestarrt hatte, bis sie verschwand. Jetzt geht sie gern mit dir. Wenn sie erst mit den Augen zwinkt, und ihre feinen Nasenflügel zittern, da ist ihr Herz ganz gewonnen.

TANTE CHRISTINE drollig wehmütig. Ja ja ... ach Gott ... du bist auch ein bissel ein Narr, lieber Tibaldi!

MEISTER TIBALDI. Natürlich ... eben ... ja ... das ist es ja, liebe Christine ...

TANTE CHRISTINE. Aber ich kenne auch deine Schmerzen ... ich kenne auch deine Sehnsucht.[192]

MEISTER TIBALDI. Also ... und sie mögen alle da wider reden ... alle es mir verdenken, dass Ich Ranke wie im Kloster halte ... ich weiss, was ich weiss ... ich kenne die Welt genug ... dazu bin ich selber zu verwahrlost ... Wie, liebe Christine? ... Was die Welt fertigbringt mit einem jeden von uns, das hat schon mancher Erfahren ... ha ... ich brauche bloss in meiner Freunde Augen einmal tiefer hineinzublicken ... in jedem brennt noch das alte, sengende Höllenfeuer, vor dem nie«die keusche Seele sicher ist ...


Er ermannt sich, weil man von oben auf der Treppe Schritte hört, und sagt eindringlich.


Du behütest sie mir, Christine!


Ranke kommt die Treppe, zum Ausgehen bereit, langsam hernieder. Sie iat ein wenig auffällig, sehr geschmackvoll und wie eine Erwachsene gekleidet.


MEISTER TIBALDI sie drollig anstaunend. Oh ... pique-fein! ... Nicht, Christine? ... Sie versteht es ... Diesen Hut kenne ich ja noch garnicht.[193]

RANKE einen Blick in einen langen Spiegel werfend. Er ist auch noch ganz neu, Papa. Ich trage ihn heut zum ersten Male. Adieu, Vater.


Sie hält ihm ihre Hand hin, die Meister Tibaldi wie einer grossen Dame küsst.


MEISTER TIBALDI. Adieu, Christine!

TANTE CHRISTINE. Adieu, lieber Tibaldi!


Im Abgehen begriffen.


MEISTER TIBALDI. Hab Dank, Liebchen! Hab Dank, Christine!


Die beiden Damen sind nach rechts verschwunden.


MEISTER TIBALDI der lange in Gedanken dagestanden hat und wie in sich hinein gelauscht, redet vor sich hin. Meister Tibaldi!


Er redet jetzt in den grossen Spiegel hinein, indem er seine Gestalt zufällig erblickt.


Armes Phantom ... Mensch der schwankenden Lüste ... Mensch der grauen Alltäglichkeit, der sich seine Leere mit bunten Maskeraden tapeziert ... der nirgend einen Halt[194] hat, als noch in dieses einzigen Weibes Ebenbilde ... in diesem Kinde ... in dieser keuschen Pracht ... in diesem Morgenschein ...


Ohne anzuklopfen ist von den Festräumen her Meister Kropatkin geräuschlos von rückwärts an Tibaldi herangetreten.


MEISTER TIBALDI streckt seine Rechte, ohne sich im Uebrigen zu rühren, noch umzublicken, Kropatkin nach rückwärts und sagt lachend. Guten Abend, Freund.

MEISTER KROPATKIN ihn, achtlos betrachtend. Was phantasiertest du eben?

MEISTER TIBALDI. Ich weiss es nicht mehr. Es war wirklich. Aber es gehört nicht hierher.

MEISTER KROPATKIN sieht sich dann und wann wie suchend und unbefriedigt nach oben um. Ja ... famos sind deine Räume ausgeschmückt! Ich bin eben als stummer Betrachter vom hintersten Zimmer her einsam durchgegangen. Wie bist du nur da auf den heiligen Hain verfallen? Diese Birkenstämme[195] hereinzuschaffen, das hat doch ein unsinniges Geld gekostet?

MEISTER TIBALDI ist aus seinem Meditieren noch nicht erwacht.

MEISTER KROPATKIN. Warum bist du denn schon im Frack?

MEISTER TIBALDI. Ich kam eben vom König.

MEISTEN KROPATKIN. Ach, das ist mir jetzt ganz egal. Ich wollte dich ... eigentlich ... fragen ...


Immer wieder zögernd.


Nein, famos ist der heilige Hain ... du ... da stellen wir eine nackte Göttin hinein ... was meinst du? ... Ruth ... deine polnische Königin ... brillant ... mit ihrer Haltung, wenn die Akt steht ... schlank wie ein Blumenstengel ... und der Kopf wie der geknickte Blütenkelch.

MEISTER TIBALDI. Ja ja ja ja ... wegen was kamst du? ... Suchst du wen?[196]

MEISTER KROPATKIN. Wieso? ...

MEISTER TIBALDI. Ja natürlich ... Ruth ... gewiss ... meine polnische Königin! Mag in dem heiligen Hain als nackte Göttin paradieren, wer will, meinetwegen dein Weib ...

MEISTER KROPATKIN. Du bist wohl verstimmt?

Meister Tibaldi Jedenfalls doch eine, die für das Nackte à tout prix so begeistert ist, wie dein Weib.

MEISTER KROPATKIN lacht. Mensch, was vermöchtest du als Künstler ... du, mit deinem ewigen Eldorado voller Nuditäten ...?

MEISTER TIBALDI. Ich will mich über diese Frage mit dir nicht weiter unterhalten. Augenblicklich widersteht es mir.

MEISTER KROPATKIN. Weisst du, Tibaldi, beleidigen kann jeder.[197]

MEISTER TIBALDI Herrgott ... ich will dich nicht beleidigen.

MEISTER KROPATKIN. Ja aber, was willst du dann mit deinem Hohne?

MEISTER TIBALDI. Gar nichts! ...


Er geht beschäftigt hin und her.


Du weisst sehr wohl, dass ich das Nackte ...

MEISTER KROPATKIN drollig. Na?

MEISTER TIBALDI. Anbete!

MEISTER KROPATKIN. Ja ... weiss Gott!

MEISTER TIBALDI. Nein nein ... in diesem frivolen Sinne durchaus nicht ... das keusch verhüllte Nackte ...

MEISTER KROPATKIN lacht.[198]

MEISTER TIBALDI sehr feierlich. Das rein ist und rein bleibt bei seiner Enthüllung ...

MEISTER KROPATKIN. Rein? ... so?

MEISTER TIBALDI. Ja ... wenn es der wahre Künstler ...

MEISTER KROPATKIN. Ha ha ha ... der wahre Künstler ...

MEISTER TIBALDI. In der Weihe seiner Sinne ...

MEISTER KROPATKIN. Ha ha ha ...in der Weihe seiner Sinne ...

MEISTER TIBALDI. Enthüllte. Warum lachst du? – Der Künstler will es darstellen als höchstes, edelstes Lebensmass ... nicht? ... Das hat wahrhaftig nichts zu tun mit eurer billigen Nacktheit, die sich lüstern vor aller Blicken gebärdet ... und die jeder Beliebige mit losen Sinnen betasten kann,[199] wie die Bürgerfrau die Semmel im Marktkorbe betastet, um sie wegzutun und die daneben zu probieren!

MEISTER KROPATKIN. Sehr gesunde Grundsätze! Gegen was redest du eigentlich? Was hast du, Tibaldi?

MEISTER TIBALDI. Ach – ich habe in diesem Augenblick einen runden Widerwillen ...

MEISTER KROPATKIN. Gegen was ...? ... gegen den Fasching?

MEISTER TIBALDI. Gegen die Kunst ... gegen dich ... gegen alles, was wir betreiben ... anstatt das Mysterium zu hüten! Ich habe nun einmal die Inbrunst im Blute ... ich will das Leben für mich aus der eigenen Tiefe heraus ... ich will es ... noch einmal ganz rein, wie es in den höchsten Augenblicken verheissen scheint ... wie es aus den Grossen gesprochen hat ... wie es aus deren gewaltigen Visionen gesprochen hat ... aus Michelangelos Urleibern ... aus der Fünften, aus der Neunten Beethovens[200] gesprochen ... wie es aus diesen einsamen, grossen, aus sich berauschten Seelen gesprochen hat ... während es euch alle nur kaum noch als verhallendes Echo narrt ...

MEISTER KROPATKIN. Du übst dich wohl schon in der Faschingsmaske des Lebensverächters ... Gott ... du ... das Rennen habe ich wirklich aufgegeben.

MEISTER TIBALDI. Ach, Kropatkin ... ja ja, du bist anders ... du lebst ... du bist immer nur Gegenwart ... du erfüllst die Stunde mit deinem Tun ... bearbeitest den harten Stein, bis du hungrig oder lüstern oder müde bist ... du bist nicht an die Zukunft, noch weniger an die Vergangenheit genagelt wie ich ...

MEISTER KROPATKIN beim Gehen mit dem Blick über den Tisch streichend. Adieu, mein Lieber ...


Nun von etwas unerwartet angezogen.


Donnerwetter ... Ellinor! Wo hast du denn das Bild her? Hast du etwas gehört von Ellinor?[201]

MEISTER TIBALDI der in Meditationen, den Kopf in den Händen dagesessen. Ellinor ... wo Ellinor? ... Herrgott! Gib doch her.

MEISTER KROPATKIN betrachtet die Photographie. Ellinor ... allein diese Façon vornehmen Lebens ... ihre Freiheit ... der ganze grosse Zuschnitt ... und diese Grazie bei ihrer königlichen Tollheit ... und hart war sie, wie eine Parze ... und konnte auch so süss melancholisch sein, wie eine Mutter der Tränengärten ...

MEISTER TIBALDI. Herrgott ... gib doch her!

MEISTER KROPATKIN das Bildchen aus der Hand lassend. Da ...


Immer noch unschlüssig zögernd und wie absichtslos nach der Treppe oben blickend. Dann entschlossen.


Na, adieu ...

MEISTER TIBALDI. Adieu!

MEISTER KROPATKIN. Ich komme pünktlich. Mein Weib hat sich[202] einen extra Wagen bestellt. Sie will auch von mir ungekannt erscheinen.

MEISTER TIBALDI vor sich hin brütend mit der Photographie in der Hand. Kropatkin ... wenn Ellinor heute dabei sein könnte l

MEISTER KROPATKIN während er noch einmal Schritt um Schritt ins Zimmer tritt. Natürlich! ... Der Mensch kann nicht ewig feierlich sein. Er kann auch nicht ewig tief sein. Er kann auch! nicht ewig moralisch sein. Aber das ist eine Sache für sich. Natürlich ist das ganze Leben ein Wahnsinn ... eine blöde Maskerade ... ein zielloses Verwandlungsgeschäft ... jetzt ein Geisselbruder ... dann ein Faun, der Büsserstrick und Büsserkutte abwirft ... oder hier eine Heilige, die dort vor bacchantischem Lachen platzen möchte ... pah ... adieu.


Er ist wieder bis zur Tür gegangen.


Ja, was ich dich noch fragen wollte ... du wirst es doch Ränke heut erlauben, dass sie wenigstens die ersten Stunden des Spasses mitmacht.[203]

MEISTER TIBALDI. Ich bitte dich inständigst, nenne mir in dieser Verbindung jetzt nicht mehr den Namen Ranke!

MEISTER KROPATKIN. Na ... nochmals adieu! Ich gehe mich jetzt auch maskieren. Den Mantel irgendeines sentimentalen Tiefsinnes mir um die nackten Lenden hüllen. Vielleicht, dass sich unsre edlen Seelen dann wieder ganz erkennen.

MEISTER TIBALDI schüchtern für sich. Mein Gott ... ich bin wahrhaftig heilsfroh, dass mein geliebtes Mädel in Tante Christines Schütze ist.

MEISTER KROPATKIN im Abgehen. Ich nicht ... Aber das tut nichts ... Mir wäre sie hier lieber! ... Adieu!


Der Vorhang fällt.


Quelle:
Carl Hauptmann: Panspiele. München 1909, S. 175-204.
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