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[167] Wie Einhart nun einmal war, Sinn und Leben begann eine andere Richtung zu nehmen, seitdem er den steinkristallenen Zauberbecher und die Tempeluhr in Fräulein Resedas Wohnung angestaunt, und seitdem er wußte, daß das grüne Steinkettlein heimlich unter dem weißen Spitzenkräuschen an Fräulein Resedas Halse verborgen blinkte. Seit der Zeit wußte er eigentlich gar nicht, daß ihn etwas wie eine Akademie noch mit tausend Forderungen drückte, und daß es in der Stadt ein Haus gab, wo die sieben Sachen der Kunst des Jahres aufgestapelt bunt herumhingen. Er führte jetzt ein richtiges Müßiggängerleben.

Wenn Grottfuß kam, fand er meistens Einhart noch schlafen. Die kleine Lampe war heruntergebrannt. Malutensilien und Skizzen lagen seit Wochen schon umhergestreut. Gewöhnlich lag auch das Buch, worin Einhart gelesen, auf der Diele, weil er es beim Einschlafen hatte fallen lassen, und seine dünnen Decken hingen aus dem Bett heraus.

Einhart schlief in dieser Zeit sehr unruhig, weil er die seltsamsten Träume hatte. Nie im Leben hatte man sich um sein »Seelenheil« bekümmert.[168] Dieses Wort gefiel ihm außermaßen. Gerade so empfand er jetzt die Seele und Art von Fräulein Reseda. Gerade so empfand er es, als wenn er von irgendeinem Zwange ein Lebenlang umsponnen, plötzlich genesen wäre. Er begriff es gar nicht. Er hielt sich nur fest, mit allen Sinnen und Wünschen ganz versunken.

Sobald Grottfuß ihn geweckt hatte, begann er zu erzählen. Er hatte gewöhnlich den Abend mit Fräulein Reseda zusammen zugebracht. Oft war sie mit ihm vor der Stadt gewesen, irgendwo im Grünen, irgendwo auf einer weiten Wiese wieder unter hohen Eichen, die mächtig im Abendsonnengold umflossen geragt. Sie hatte einen Strauß Frühlingsblumen in Händen gehabt, und er war neben ihr gegangen, ganz beglückt im Sinnen und Staunen, aber nicht nur so im Allerweltswesen der Dinge, gar nicht – – fest umschlossen von den feinen Gefühlen dieser kleinen, vornehmen Person, die in jedem Worte etwas herzutrug von lange her gesammelt und gesichtet, und die jeder Blume sogar mit ihrem Namen eine kleine, süße Sage umband wie eine weiße, durchbrochene Halskrause.

Tatsächlich saß Einhart den ganzen Tag womöglich[169] jetzt drüben bei Fräulein Reseda, die natürlich einen ganz anderen Namen hatte, obwohl der süße Duft immer um sie schwebte, und auch ihre ganze Wohnung immer nach Blumen roch.

Grottfuß ging einmal mit Einhart hinüber. Fräulein Reseda hatte es gewünscht, Einharts Freund kennen zu lernen. Aber Grottfuß war sehr ernüchtert. Schon weil er eine junge, blonde Sängerin zufällig kennen gelernt hatte, in die er verliebt war. Er nannte es mit Rücksicht auf dieses junge, blonde, verliebte Ding von Elevin, die an einer Musikschule studierte, und die er nun seinerseits besuchte, so oft er konnte, im Grunde lächerlich, mit dieser alten, buckligen, moralischen Person sich abzugeben. Hauptsächlich aber, weil sich Grottfuß bei Fräulein Reseda ganz aus dem steifen, theoretischen Gleichgewicht gebracht sah.

Aber Einhart war um so lieber bei Fräulein Reseda. Sie hatte ihm zum ersten Male allerle, Ideen entschleiert. Sie besaß eine Fülle Bücher. Er las alles nur Erdenkliche. Man kann sagen, Dinge, die er nie gehört, Philosophen und Dichter und Kunstbücher und Kunstlehren aus alter Zeit. Immer so, daß er gar nicht zu sagen wußte, was[170] er alles gelesen, so versunken in die Dinge war er gewesen. Er hatte eine umständliche Art und Weise, zu lesen. Er mußte sich alles genau ansehen, wie wenn hinter jedem Worte ein Gleichnis stünde, und das Wort nur ein Wink wäre, anzusehen, was irgendwo wirklich war. Nicht immer fand er es gleich aus, wo und was? So sah er die wunderbarsten Sachen und merkte gar nicht das Leben um sich, und kam aus der Lektüre, wie man aus Träumen erwacht, die dann entschwinden und vielleicht einmal von ferne wiederkommen.

Und in allem war er jetzt vertraulich mit Fräulein Reseda. Sie kümmerte sich um ihn wie eine Mutter. Auch die Jünglinge lernte er kennen, die Fräulein Reseda aus dem Seminar zu sich lud, sehr eingeschüchterte Jungen, ein wenig zurückgeblieben in ihrem Fortkommen in der Schule, wie ehedem Einhart selber. Aber gar keine Träumer. Die sich bei Fräulein Reseda nur satt aßen. Die sie auch allerlei abhörte. Es war Einhart allmählich ganz aufgegangen, daß das Kettchen an ihrem Halse es wahr gemacht, daß das alte Fräulein wirklich in Menschenliebe wandelte.[171]

Die kleine, alte Dame fühlte sich am Tische unter den Burschen wie eine gute Mutter und gab unter Lachen nicht nur gute, gesunde, reichliche Kost, auch ihre guten, feinen, sinnigen Worte banden manche Gefühle zusammen im Geiste jedes, daß er nun, ohne recht zu wissen, sicherer vorwärts lief.

Aber Einhart fand die gedrillte Devotion sich ein wenig zuwider. Er wußte mit diesen Jünglingen nichts Rechtes zu machen. Daß er, wenn er genug gegessen und getrunken hatte, zumeist aus dem Lächeln nicht herauskam, sobald die Seminaristen fade Späße von den Lehrern zu erzählen und ein wenig einfältig zu werden begannen.

Er gestand es Fräulein Reseda auch ruhig ein, daß er mit diesen Menschen ohne Träume nichts anfangen könnte. Fräulein Reseda nannte ihn dann hochmütig, sagte, man müßte die Menschen nehmen, wie sie Gott geschaffen, daß ein jeder eine unsterbliche Seele hätte, daß die Seelen vor Gott alle gleich wären und manches freundliche Wort ausgleichender Gerechtigkeit. Worüber Einhart, indes er sich schon etwa in Sakuntala versenkte, nur nebenbei einmal hell auflachte, unter verzeihendem Zulachen von Fräulein Reseda, die den Seminaristen nichts dergleichen[172] zugelassen, aber Einhart all das eigene, selbständige und freie Wesen nachsah.

So war es einige Monate hingegangen.

Einhart hatte Akademie und Malen einfach in der ganzen Zeit vergessen, hatte sozusagen sich an Hab und Gut von Fräulein Reseda, an Seele und Sinn und alle die Ideen und Schätze und Bücher von Fräulein Reseda angesogen, als er erfuhr, daß seine Mutter ernstlich daheim erkrankt wäre und er kommen sollte.

Quelle:
Carl Hauptmann: Einhart der Lächler. Roman in zwei Bänden, Band 1, Leipzig 61915, S. 167-173.
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