Neunte Szene

[211] Dom.

Fackeln. Der Kaplan mit anderen Priestern seitwärts vor einer eisernen Tür.

Im Portal sammeln sich Hagens Sippen bis zu sechzig.

Zuletzt Hagen, Gunther und die übrigen.

Es klopft.


KAPLAN.

Wer klopft?

ANTWORT VON DRAUSSEN.

Ein König aus den Niederlanden,[211]

Mit so viel Kronen, als er Finger hat.

KAPLAN.

Den kenn ich nicht.


Es klopft wieder.


KAPLAN.

Wer klopft?

ANTWORT VON DRAUSSEN.

Ein Held der Erde,

Mit so viel Trophäen, als er Zähne hat.

KAPLAN.

Den kenn ich nicht.


Es klopf wieder.


KAPLAN.

Wer klopft?

ANTWORT VON DRAUSSEN.

Dein Bruder Siegfried,

Mit so viel Sünden, als er Haare hat.

KAPLAN.

Tut auf!


Die Türe wird geöffnet und Siegfrieds Leichnam auf der Bahre hereingetragen.

Ihm folgen Kriemhild und Ute mit den Mägden.


KAPLAN gegen den Sarg.

Du bist willkommen, toter Bruder,

Du suchst den Frieden hier!


Zu den Frauen, die er vom Sarge abschneidet, indem er, während dieser niedergesetzt wird, zwischen sie und ihn tritt.


Auch ihr willkommen,

Wenn ihr den Frieden sucht, wie er ihn sucht.


Er hält Kriemhild das Kreuz vor.


Du kehrst dich ab von diesem heilgen Zeichen?

KRIEMHILD.

Ich suche hier die Wahrheit und das Recht.

KAPLAN.

Du suchst die Rache, doch die Rache hat

Der Herr sich vorbehalten, er allein

Schaut ins Verborgne, er allein vergilt!

KRIEMHILD.

Ich bin ein armes, halb zertretnes Weib,

Und kann mit meinen Locken keinen Recken

Erdrosseln: welche Rache bliebe mir?

KAPLAN.

Was brauchst du denn nach deinem Feind zu forschen

Wenn du an ihm nicht Rache nehmen willst,

Ists nicht genug, daß ihm sein Richter kennt?

KRIEMHILD.

Ich mögte dem Unschuldigen nicht fluchen.

KAPLAN.

So fluche keinem, und du tust es nicht! –

Du armes Menschenkind, aus Staub und Asche

Geschaffen und vom nächsten Wind zerblasen,

Wohl trägst du schwer und magst zum Himmel schrein,[212]

Doch schau auf den, der noch viel schwerer trug!

In Knechts-Gestalt zu uns herabgestiegen,

Hat er die Schuld der Welt auf sich genommen

Und büßend alle Schmerzen durchempfunden,

Die von dem ersten bis zum letzten Tage

Die abgefallne Kreatur verfolgen,

Auch deinen Schmerz, und tiefer, als du selbst!

Die Kraft des Himmels saß auf seinen Lippen,

Und alle Engel schwebten um ihn her,

Fr aber war gehorsam bis zum Tode,

Er war gehorsam bis zum Tod am Kreuz.

Dies Opfer bracht er dir in seiner Liebe,

In seinem unergründlichen Erbarmen,

Willst du ihm jetzt das deinige verweigern?

Sprich rasch: Begrabt den Leib! und kehre um!

KRIEMHILD.

Du hast dein Werk getan, nun ich das meine!


Sie geht zum Sarg und stellt sich zu Häupten.


Tritt jetzt heran, wie ich, und zeuge mir!

KAPLAN geht gleichfalls zum Sarg und stellt sich zu Füßen. Drei Posaunenstöße.

HAGEN zu Gunther.

Was ist geschehn?

GUNTHER.

Es ward ein Mann erschlagen.

HAGEN.

Und warum steh ich hier?

GUNTHER.

Dich trifft Verdacht.

HAGEN.

Den werden meine Sippen von mir nehmen,

Ich frage sie. – Seid ihr bereit, zu schwören,

Daß ich kein Meuchler und kein Mörder bin?

ALLE SIPPEN BIS AUF GISELHER.

Wir sind bereit.

HAGEN.

Mein Giselher, du schweigst?

Bist du bereit für deinen Ohm zu schwören,

Daß er kein Meuchler und kein Mörder ist?

GISELHER die Hand erhebend.

Ich bin bereit.

HAGEN.

Den Eid erlaß ich euch.


Er tritt in den Dom, zu Kriemhild.


Du siehst, ich bin gereinigt, wann ich will,

Und brauche mich am Sarg nicht mehr zu stellen,

Allein ich tus, und will der erste sein!


Er schreitet langsam hinauf zum Sarg.


UTE.

Schau weg, Kriemhild.[213]

KRIEMHILD.

Laß, laß! Er lebt wohl noch!

Mein Siegfried! O, nur Kraft für einen Laut,

Für einen Blick!

UTE.

Unglückliche! Das ist

Nur die Natur, die sich noch einmal regt.

Furchtbar genug!

KAPLAN.

Es ist der Finger Gottes,

Der still in diesen heilgen Brunnen taucht,

Weil er ein Kainszeichen schreiben muß.

HAGEN neigt sich über den Sarg.

Das rote Blut! Ich hätt es nie geglaubt!

Nun seh ich es mit meinen eignen Augen.

KRIEMHILD.

Und fällst nicht um?


Sie springt auf ihn zu.


Jetzt fort mit dir, du Teufel.

Wer weiß, ob ihn nicht jeder Tropfen schmerzt,

Den deine Mörder-Nähe ihm entzapft!

HAGEN.

Schau her, Kriemhild. So siedets noch im Toten,

Was willst du fordern vom Lebendigen?

KRIEMHILD.

Hinweg! Ich packte dich mit meinen Händen,

Wenn ich nur einen hätte, der sie mir,

Zur Reinigung, dann vom Leib herunter hiebe,

Denn Waschen wäre nicht genug, und könnt es

In deinem Blut geschehn. Hinweg! Hinweg!

So standest du nicht da, als du ihn schlugst,

Die wölfschen Augen fest auf ihn geheftet,

Und durch dein Teufelslächeln den Gedanken

Voraus verkündigend! Von hinten schlichst

Du dich heran und miedest seinen Blick,

Wie wilde Tiere den des Menschen meiden,

Und spähtest nach dem Fleck, den ich – Du Hund,

Was schwurst du mir?

HAGEN.

Ihn gegen Feuer und Wasser

Zu schirmen.

KRIEMHILD.

Nicht auch gegen Feinde?

HAGEN.

Ja.

Das hätt ich auch gehalten.

KRIEMHILD.

Um ihn selbst[214]

Zu schlachten, nicht?

HAGEN.

Zu strafen!

KRIEMHILD.

Unerhört!

Ward je, solange Himmel und Erde stehn,

Durch Mord gestraft?

HAGEN.

Den Recken hätte ich

Gefordert, und mir ists wohl zuzutraun,

Allein er war vom Drachen nicht zu trennen,

Und Drachen schlägt man tot. Warum begab sich

Der stolze Held auch in des Lindwurms Hut!

KRIEMHILD.

Des Lindwurms Hut! Er mußt ihn erst erschlagen,

Und in dem Lindwurm schlug er alle Welt!

Den Wald mit allen seinen Ungeheuern

Und jeden Recken, der den grimmgen Drachen

Aus Furcht am Leben ließ, dich selber mit!

Du nagst umsonst an ihm! Es war der Neid,

Dem deine Bosheit grause Waffen lieh!

Man wird von ihm und seinem Adel sprechen,

Solange Menschen auf der Erde leben,

Und ganz so lange auch von deiner Schmach.

HAGEN.

Es sei darum!


Er nimmt dem Leichnam den Balmung von der Seite.


Nun hörts gewiß nicht auf!


Er umgürtet sich mit dem Schwert und geht langsam zu den Seinigen zurück.


KRIEMHILD.

Zum Mord den Raub!


Gegen Gunther.


Ich bitte um Gericht.

KAPLAN.

Gedenke dessen, der am Kreuz vergab.

KRIEMHILD.

Gericht! Gericht! Und wenns der König weigert,

So ist er selbst mit diesem Blut bedeckt.

UTE.

Halt ein! Du wirst dein ganzes Haus verderben –

KRIEMHILD.

Es mag geschehn! Denn hier ists überzahlt!


Sie wendet sich gegen den Leichnam und stürzt an der Bahre nieder.[215]


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 211-217.
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